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Full text of "Gesammelte Schriften"

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er 





- Bolks- nnd Familien Arggabe ei 






eſammelte Schriften 


von 


Friedrich Gerſtäcker. on 


4123. Lieferung. 


II. Serie, 





Jena, 
mmnn ——⏑⏑— 


Berlagsbuchhandlung. 








Preis für iede ——— so Br. 








% 


Meine Selbitbiographie zu einem Bilde in der 
Gartenlaube. 


Mein lieber Keil! 
Sie verlangen von mir eine Art von Biographie zu meinem 
eigenen Bilde, aber das iſt eine gefährliche Arbeit. Soll ich 
mich ſelber denunciren und eigenhändig beſtätigen, daß ich ein 


WManſchenalter hindurch einer der größten Herumtreiber geweſen 
bin, die es überhaupt giebt, und ſchon lange polizeilich einge— 


ſteckt ſein würde, wenn ich mein „ungeordnetes“ Leben nur 
auf einen kleinen Kreis beſchränkt hätte, während ich es, im 
Gegentheil, nach allen Kräften und Seiten ausgedehnt? 

Sie werden mir allerdings einwerfen, daß ich mich ja ſelber 
ſchon in meinen Reiſebeſchreibungen verrathen habe — aber 
glauben Sie das nicht. Es giebt factiſch noch verſchiedene 
Menſchen, die alles Ernſtes wiſſen wollen, daß ich meine zahl— 


reichen Reiſen gar nicht wirklich gemacht, ſondern ſie nur 


beſchrieben hätte. Herbert König behauptet ſogar, ich 


wohne, in der Zeit meiner angeblichen Abweſenheit, bei einem 


Bäcker in Magdeburg im dritten Stock hinten heraus. 
Doch was thut's? Die Sache läßt ſich weder mehr leugnen 
noch bemänteln — vielleicht nur in etwas entſchuldigen. 
Was mich ſo in die Welt hinausgetrieben? — Will ich 


aufrichtig ſein, ſo war der, der den erſten Anſtoß dazu gab, 


ein alter Bekannter von uns Allen, und zwar niemand Anders 
als Robinſon Cruſoe. Mit meinem achten Jahr ſchon faßte 
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ıc. J 
















ih den Entſchluß, ebenfalls eine unbemohnte Inſe 
und wenn ich auch, herangewachlen, von der le 
blieb doch für mich, wie für taufend Andere, das 
rika“ eine gewiſſe Zauberformel, die mir die fre 
des Erdballs erjchließen follte. 

Ewig unvergeßlich bleibt mir dabei ein preuß 
rath, ein Herr v. P., mit deſſen Söhnen ich ſeh 
war. Er betrachtete natürlich jeden Menjchen, der n 
mollte, als einen mit den vortrefflihen deutſchen V 
Unzufriedenen, und ſprach fich entſchieden mißbilligend über 
meine Abliht aus. MS ich aber troßdem darauf beftand, 
redete er mich plöblich Franzöfiih an. Die franzöfifhe Sprache 
ijt meine ſchwache Seite, noch bi8 auf den heutigen Tag, wenn 
ih auch jeitdem oft gezwungen war, darin zu verkehren. Die 
plöslihe Anrede brachte mic) außerdem in Verlegenheit; ich f 
antwortete nur jtotternd, und der Landrath, auf's Aeußerſte ; 
indignirt, fagte verähtlih: „Und Sie wollen nah Amerika | 
gehen und können nicht einmal Franzöſiſch?“ 

SH ging trotzdem und führte num dort drüben in den mejt- 
lichen Staaten, nahdem mich freundliche Landsleute im Diten 
erit vorjihtig um Alles betrogen, was ich mitgebracht, ein 
allerdingd genügend wildes und abenteuerliches Leben. Ich 
durchzog zuerft die ganzen Vereinigten Staaten quer durch von 
Kanada bis Texas zu Fuß, arbeitete unterwegs, wo mir das 
Geld ausging, und blieb endlich in Arkanfas, wo id) ganz 
und allein von der Jagd lebte, bis ich Dort halb vermwilderte. 
Sch weiß mich noch recht gut der Zeit zu erinnern, wo meine 
fämmtlide Wäſche in einem einzigen baummollenen Hemd be— 
itand, das ich mir .felber wuſch, und bis zu deſſen Troden- 
werden ich | o herumlief; nur dann und wann trieb mich die 
Sehnſucht wieder einmal in civilifirte Staaten zurüd, aber auch 
nur auf fo lange, bis ich mir mit jchwerer Arbeit wieder etwas 
Geld verdient Hatte, um dann, mit einer neuen Ausrüftung, 
mein altes Xeben von Friſchem zu beginnen. 

Uber e8 war das Doch nur ein zweckloſes Umhertreiben, 
denn zu verdienen iſt auf der Jagd nichts. Wo es viel 
Wild giebt, hat es Feinen Werth, und wo ed Werth Hat, iſt 
e8 zu mühſam und zeitraubend, e8 zu erbeuten. Sechs und 





32 
9) 


ein halbes Jahr hatte ich aber doch in folder Art verbracht, 
bis mich das Heimmweh nad) dem Vaterlande padte, und ich 
beichloß, dahin zurüdzufehren. Was ic da wollte? — Nur 
meine Mutter, und Geſchwiſter einmal mwiederjehen und dann 
in den Wald zurüdkchren — was hätte ih aud in Deutſch— 
land gejollt? Im ein geregeltes und befonders in ein abhängiges 
Leben paßte ich nicht mehr Hinein, und daß ich einjt Schrift- 
fteller werden follte oder könnte, wäre mir nicht im Traum ein- 
gefallen. 

Geſchrieben hatte ich in Amerifa natürlih nichts, als 
Briefe an meine Mutter, und um diefe in einem regelmäßigen 
Gange zu halten, eine Art von Tagebuch geführt: Wie ich 
mir nun erft in Lonifiana das Geld zu meiner Heimreije 
verdient, nahm ich in New-⸗Orleans Paſſage auf einem deutſchen 
Schiff, erreichte Bremen und blieb nur einen Tag in Braun- 
ſchweig, um dort, wo ich den größten Theil meiner Knaben— 
jahre verlebt, alte Freunde zu befuchen. Dort wurde ich ge- 
_ fragt, ob ich der Gerſtäcker fei, der feine Reife in den damals 
von Robert Heller redigirten „Roſen“ veröffentlicht habe. 
Ich verneinte das natürlich mit gutem Geniffen, denn id; 
fam frifh aus dem Wald heraus und kannte weder „die 
Roſen“ noch irgend eine andere der neueren deutſchen Zeitungen ; 
aber die Leute, die jene Artikel gelefen Hatten, erzählten mir 
jebt Scenen aus meinem eigenen Leben und festen mid, da- 
durch in nicht geringes Erftaunen, denn moher konnten fie 
das willen? | 

In Leipzig erft, wo ich meine Mutter wiederfand, wurde 
mir dag Räthfel gelöft. Sie hatte mein Tagebuch an Robert 
Heller gegeben und diefer den größten Theil deffelben in 
feinen „Roſen“ aufgenommen. So hat mid) denn Robert 
Heller eigentlich zum Schriftfteller gemacht und trägt die ganze 
Schuld, denn in Dresden wurde ich fpäter veranlaft, Diele 
einzelnen Skizzen zufammen zu ftellen und ein wirkliches — 
mein erftes Buch — zu fohreiben. 

Die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit ſagte mir allerdings in ſofern 
zu, als ich dabei ein vollfommen unabhängiges Leben führen 
fonnte, aber ich hatte ſelber kaum eine Idee, daß ich je etwas 
Selbititändiges ſchaffen könne — die einfahe Erzählung 

1* 


4 


‚ meiner Erlebnifje ausgenommen. Ich war damals achtund— 
zwanzig Jahre alt, wandte mich Ueberſetzungen aus dem 
Engliſchen zu, und verdiente mir dadurch wenigſtens meinen 
Lebensunterhalt. Allerdings kam mir manchmal bei der 
Uebertragung einzelner Erzählungen wohl der Gedanke, daß 
ih etwas Derartiged auch wohl jelber fchreiben könne, 
denn in den vielen Nächten am Lagerfeuer im Walde hatte 
ich derartige Dinge oft gehört und im Gedächtniß bewahrt, 
auch viele wunderliche Charaktere jelber Tennen gelernt. Meine 
erſten Berfuche dahin erzielten aber nur einen ſehr geringen 
Erfolg; ih mußte mit meinem Manufceripte von Redaction 
zu Kedaction laufen, und dann immer wieder das verwünſchte 
Achſelzucken! 

Meine erſte Erzählung druckte die Brockhaus'ſche Buch— 
handlung im damaligen „Pfennig-Magazin“ ab, dann nahm 
die damalige „Wiener Zeitſchrift“ eine größere Erzählung: 
„Die Silbermine in den Ozark-Gebirgen“ wie eine zweite: 
„Pantherjagd“ an und zahlte mir dafür ein Honorar von — 
fünf Gulden. Bäuerle von der „TIheaterzeitung‘ wollte da= 
gegen eine andere, die er fi jedoch nicht einmal Mühe nahm 
zu leſen, ſelbſt nicht umfonft in fein Blatt aufnehmen, und 
mir lag doch damals Hauptjählih daran, nur befannt zu 
werden. Es ift mir fpäter die Genugthuung geworden, daß 
Herr Bäuerle diefe nämliche Erzählung, die jpäter in dag 
Englifche überfeßt wurde und von da in die „Ind&pendance 
belge“ überging, aus dem Franzöſiſchen in das Deutſche zurüd- 
überjebt (natürlih ohne meinen Namen) in fein Blatt auf: 
nahm und dann auch noch für die jet verftümmelte Erzählung 
jedenfall3 Meberjebungshonorar bezahlen mußte, 

Sm Jahr 1845 ſchrieb ich meinen erften Roman: „Die 
Regulatoren”, der freundlih vom Publikum aufgenommen 
wurde, aber ih befam, nachdem ihn ein paar Buchhand— 
lungen abgelehnt (jebt ift er ftereotypirt worden), nur 
ein fehr geringes Honorar dafür, und das Jahr 1848 legte 
nachher fat jede belletriftiiche Unternehmung lahm. 

Ich Hatte mich unter der Zeit verheirathet, fühlte auch, 
daß ich unter folhen Umftänden, mit harter Arbeit, wohl 
meine fleine Samilie ernähren fünne — aber weiter nichts, 


5 


und lebenslang Ueberſetzer bleiben? der Gedanke war mir 
entſetzlich. Ich fühlte jetzt die Kraft in mir, etwas zu ſchaffen, 
und faßte den allerdings kecken Entſchluß — denn ich war ohne 
alle Mittel und hatte Weib und Kind —, die todte Zeit in 
Deutſchland zu benutzen und — eine Reiſe um die Welt zu 
machen. Ich trat augenblicklich mit der Cotta'ſchen Buchhand— 
lung in Unterhandlung, um Correſpondenzen für das Beiblatt der 
Augsburger Zeitung zu liefern — die Herren gingen endlich 
darauf ein, mir vierhundert Thaler Borfhuß zu zahlen. 
Das damalige Reichsminiſterium bemwilligte mir außerdem (und 
die Leute jagen, ich fei der Einzige, der damals etwas vom 
deutſchen Reich gehabt) fünfhundert Thaler, um die verſchied enen 
deutichen Colonien im Auslande zu beſuchen, und mit neun: 
hundert Thalern trat ich guten Muths eine Reife, die neun- 
unddreißgig Monate dauerte, an. 

Indeſſen hatte ih einen Roman: „Pfarre und Schule‘, 
beendet, für den ih von der Georg Wigand’ihen Buchhand— 
lung vierhundert Thaler (in Raten an meine Frau während 
meiner Abmwejenheit zu zahlen) erhielt; für das Weitere ver: 
ließ ih) mich, wie ſchon oft im Leben, auf den lieben Gott 
und mein gutes Glüd — und beide Haben mich nicht im 
Stiche gelafjen. Daß ich von den neunhundert Thalern nicht 
die ganze Reife machen fonnte, iſt natürlich, aber wo mir auch 
das Geld ausging, und das geihah verjchiedene Male — 
befam ich, doch jedenfalls allein auf mein ehrlih Geſicht, 
an allen fremden Pläben von deutfchen Kaufleuten die nöthige 
Summe auf Wechſel an die Cotta'ſche Buchhandlung, der ich, 
denn auch fleißig Berichte ſchickte, Durch die ich der Sorge für 
meine Familie enthoben ward, Erſt in Auſtralien fand ic 
wieder fünfhundert Thaler, die Kaufmann Schletter in Leipzig 
dort für mich deponirt hatte, und wenn ich auch in Java 
wieder eine friihe Summe aufnehmen mußte, hatte ich doc) 
von da an gewonnen. 

Im Sahr 1852 kehrte ih nah Deutihland zurüd und 
fand nicht allein die Meinen wieder, fondern auch die Verlags: 
vbuchhändler (eine ſehr wichtige Menfchenklafje für einen jungen 
Schriftſteller) viel freundlicher, al3 fie fih mir je gezeigt. 
Ich ſelbſt Hatte durch diefe Reife einen faſt übermäßig reichen 


6 


Hintergrund für meine Novellen und Romane gewonnen, und 
arbeitete jebt acht Jahre unverdrofien fort, bis mid) 1860, 
nicht etwa Mangel an Stoff — denn ich hatte damals ſchon 
genug, um für mein Leben auszureichen, — doch neue Wander- 
luft und das Bedürfniß erfaßte, die ſchwächer werdenden Bilder 
jener fremden Welt auf's Neue aufzufriigen. Ich machte 
eine achtzehnmonatliche Four durch Südamerika, wobei ich mein 
Augenmerk beſonders auf früher noch nicht bejuchte oder neu , 
entitandene Colonien richtete, wie vorzüglich in Ecuador, Peru, 
Chile und Pralilien, 

Im Jahr 1861 kehrte ih nad Europa zurüd; ich hatte 
lange feine Briefe von daheim gehabt — meine Frau war 
frank geworden und — gejtorben; eine trübe Wiederkehr. Es 
Yitt mich auch nicht lange in Deutſchland. Schon im Frühjahr 
1862 ging ih mit dem Herzog von Coburg nah Egypten 
und Abyfjinien, machte dann in den Jahren 1867 und 1868 
meine lebte Reife nach Nordamerifa, Mexiko und Venezuela 
und bin jebt ſcharf daran, meine Erinnerungen auszuar— 
beiten. — 

Was ich Alles geſchrieben? ich will Ihren Raum hier 
nicht mit der Aufzählung meiner verſchiedenen Schriften füllen — 
und wie ich es geſchrieben? — Es iſt mir von verſchiedenen 
Seiten, und oft ſehr vornehm, vorgehalten worden, daß ich ein 
rein praktiſcher Menſch wohl, aber kein Gelehrter ſei — lieber 
Gott, es muß auch ſolche Käuze geben und ich räume das 
gern ein. Ich habe mich nie in rein wiſſenſchaftlicher Art mit 
Pflanzen-, Stein- oder Thierkunde beſchäftigt, meine Augen 
dagegen feſt auf den Punkt gehalten, der von den meiſten 
Naturforſchern auf das Gründlichſte vernachläſſigt iſt — auf 
die Menſchen, und zwar auf die Völker, wie ſie jetzt auf der 
Erde leben. Ebenſo durchzog ich vorzugsweiſe die Länder, 
denen ſich unſere deutſche Auswanderung zugewandt, und daß 
ich es nicht ganz nutzlos gethan, hat mir jetzt wieder ſo mancher 
warme Händedruck da draußen in fremden Ländern und an 
Stellen bewieſen, wo ich nicht einmal hoffen durfte, einen ent— 
fernten Bekannten zu treffen, und trotzdem überall warme 
Freunde fand. 

„Und wollen Sie nicht wieder bald einmal ie Reifen gehen?’ 


7 


werde ich von vielen Leuten, die mich als eine Art von 
Perpetuum mobile zu betrachten ſcheinen, gefragt. — Quien 
sabe! Ich bin allerdings, wie Sie wiſſen, noch in den „beſten 
Jahren“ und gerade etwa vierundfünfzig, Habe aljo „nichts 
verſäumt“, will e8 aber doch jebt noch eine Weile abwarten 
und nur erjt den Stoff verarbeiten, der mir zunächſt auf dem 
Herzen liegt, — wa dann weiter wird? — es iſt das Un- 
glüdlichite, was ein Menſch auf der Welt thun kann: Pläne 
auf Jahre hinaus zu machen, wo er nicht einmal Herr über 
den nächſten Tag iſt. — Was fommen fol, fommt. Ich habe 
völlig Zeit, e8 ruhig abzuwarten, und die verfliegt mir außerdem 
raſch genug, denn ich lebe ja jeßt in meinen Erinnerungen, 
So alt bin ich freilich geworden, daß ich das Leben, was 
ich geführt, nicht noch einmal von Anfang an durchkoſten möchte, 
aber ih würde es auch gegen Fein andere der ganzen Welt 
eintaufchen, denn bunt und mannigfaltig war e8 zur Genüge — 
ich habe Sabre lang in großen Städten, von Comfort umgeben, 
und ebenfo im wilden Urwalde von Wildfleifeh und zu Zeiten 
fogar von Safjafras-Blättern oder einem alten Safadu ge 
lebt — ich bin Saft von gefrönten Häuptern und Feuermann 
auf einem Milftifippi-Dampfer wie Tagelöhner gewejen, aber 
ich war ftet3 frei und unabhängig wie der Vogel in der Luft, 
und mit Luft und Liebe zu meinem Berufe, den ih mir nicht 
gewählt, fondern in den ich eigentlich hineingewachſen bin, 
mit einer Fülle von Erinnerungen und noch genug Schaffens— 
kraft, mich ihrer zu erfreuen, ja auch mit dem Bewußtfein, manches 
Gute gethan und manchem Menſchen genüßt zu haben, fühle 
ih mich hier an meinem Schreibtifhe genau jo wohl, als ob 
ih da draußen auf flüchtigem Nenner durch die Pampas hebte 
oder unter einem Fruchtbaum am Meeresftrande der donnern— 
den Brandung gegen die Korallenriffe lauſchte. 
Da haben Sie meine LKebensbeihreibung, Fieber Keil. Ich 
bin, wie gejagt, fein Gelehrter, aber 


„Dem Gott will rechte Gunst erweijen, 
Den ſchickt er in die weite Welt, 

Dem will er feine Wunder weiſen 

In Berg und Wald, in Strom und Feld“; 








1 Sipeitfeler von Gottes on 
zeihne art hin, var eh? — 
Wi * 


RR BL N | x — alter, 


 Beaunfreig, im März 1870. N 


su x in ® iD A: 








Ar T ı' A i 
en E 


end, 
— 





Ver Herr von der Hölle, 


1. 
. In Verzweiflung. 


Ueber dem freundlichen Lahnthal ſtand der Mond*) und 
warf fein mildes Licht auf die bewaldeten Höhen, auf den 
Hligenden Kleinen Strom und auf einen von Menſchen ſchwär— 
menden Platz nieder, der ſich aber dort unten feinen eigenen 
Lichterglanz gebildet hatte und wahrli den fanften Schmelz 
nicht achtete, der da draußen, in unbeſchreiblichem Zauber, auf 
der Landſchaft lag. 

MWunderlihe Welt! wunderliches Menſchenvolk darin, das 
fi) überall einniftet und ausbreitet und die Natur felber 
feinen Leidenſchaften dienftbar macht. 

Oben auf den Bergen lag der ftille Frieden Gottes. 
Berftekt auf der in Myriaden von Thauperlen funkelnden 
Wieſe, die ſchlanken, gejhmeidigen Körper ſcharf in dem Schatten 
der Mondenftrahlen abgezeichnet, äfte ſich ein kleines Nudel 
Rehwild, und darüber hin ſtrich Die Nachtſchwalbe mit ihrem 
melandolifchen Ruf — die Grille zirpte, und leiſe raufchte 
in der vom Nhein herüberwehenden Brife das junge jaftige 
Buchenlaub. Unten aber im Thal, aus der Erde Grund 


*) Im Schwabenland geht die Sage, daß der Mondſchein nicht 
dem lieben Gott, fondern dem Teufel gehöre, und zu dem, der 
darin arbeite oder etwas darin pornehme, komme der Teufel und 
biete ihm felber Arbeit an. 





10 


herauf, quoll geheimnißvoll aus räthjelhafter Tiefe der Heike 
Duell — noch Blafen werfend in der Fühlen Abendluft, wie 
er fih den unterirdiichen Gluthen eben entrungen, und das 
neben, ja fogar darüber hatte das Menſchenvolk feine Woh— 
nungen ſelbſt in den ftarren Feld hineingebohrt und Haufte 
da nach Herzenäluft. 

Wie ein Palaft Hob es fich dort mit hohen, Yuftigen und 
jedem nur erdenkbaren Luxus ausgeſtatteten Räumen, von 
rauſchender Muſik durchſtrömt, von zahlloſen Lampen er- 
hellt, und mitten darin, das Centrum des Ganzen bildend — 
der eigentliche Blocksberg, zu dem in der Nacht des erſten 
Mai der böſe Feind ſeine Anhänger zieht, ſie dort zu einem 
wilden Feſt vereinigend, — ſtanden die grünen Tiſche mit 
Gold, Silber und Banknoten bedeckt. Das Auge der Opfer, 
die ſich um die gefährlichen Stellen drängten, ſah aber nicht 
den milden Mondenglanz, der draußen an den Hängen lag — 
ihr Ohr vernahm nicht einmal die rauſchende Muſik umher, 
viel weniger noch das geheimnißvolle Murmeln der unter— 
irdiſchen Quellen, denn nur an dem blitzenden, klingenden 
Gold auf den Tiſchen hingen die Sinne. Was kümmerte ſie 
die Welt, und wenn ſie ſich in ihrer ganzen Pracht entfaltet 
hätte! 

Aus den hell erleuchteten Räumen in die Mondnacht 
hinein ſchritt eine kleine ſchmächtige Geſtalt, das Antlitz todten- 
bleich, das dünne röthliche Haar wirr um die Schläfe hängend 
und dabei jo vollſtändig rath-und gedankenlos, daß er ſelbſt 
ohne Hut hinaus in's Freie wollte Der Bortier an der 
Thür mußte aber befjer, was fih ſchickt; er war außerdem 
Menſchenkenner und hatte die Kleine dürftige Geftalt ſchon 
aufmerfjam betrachtet, als fie die erleuchtete Halle nur betrat — 
ja jogar dem fadenfcheinigen Rock den Eintritt verweigern 
wollen. Jetzt reichte er ihm Ichweigend und mit einem bedauernden 
Achſelzucken — denn ein Trinkgeld ftand nicht in Ausfiht — 
den Hut, und. der Kleine blafje Menſch jtürmte hinaus — fort. 
Und nicht einen Bid warf er umher — zwiſchen den Bänfen, 
Tiſchen und Stühlen, die draußen unter den Schattenbäumen 
im Freien ftanden, wand er ſich hindurch, der ſchmalen eifernen 
DBrüde zu, die über die Lahn führt. Diefe überſchritt er; 


Al 


“an dem Balfin vorüber, in welchem die heißen Waſſer ab- 
gefühlt werden, ging er, den Blick feit auf den Boden ge- 
Heftet, — drüben paffirte er das lebte Haus und ſchlug fich 
dann, hügelan, in ein Kleines Wäldchen hochſtämmiger ſüßer 
Kaftanien hinein, dad, von Blüthen bedeft und wie mit 
Silber übergofjen, feine ganze Pracht entfaltete. . 

Aber was kümmerte den Unglüdlichen die herrlihde Mond- 
naht und der Schmelz der Blüthen!  Finftere Gedanken zer: 
‚quälten jein Hirn, und mit feftverfohräntten Armen ſchritt er 
dur den Heinen Kaftanienhain bi3 zum obern Rand Hinan, 
wo er fih aus Sicht von jeder menfhlihen Wohnung, von 
jedem begangenen Wege befand. Dort erſt hielt er an und 
warf den ſcheuen Blick umher. 

Es dauerte übrigens nicht lange, bis er das gefunden, was 
er zu ſuchen ſchien: einen ſtarken, gerade ausgehenden Aſt 
eines der ſtärkeren Kaſtanienbäume, und dort — wie an einem 
Ziel angelangt, die Stirn in finſtere Falten gezogen, das 
Auge düſter drohend, ſchleuderte er ſeinen Hut zu Boden und 
begann ſeine Vorbereitungen zu einem letzten, verzweifelten 
Schritt. 

Er knöpfte feine Weſte auf und ſchlang ein nicht dickes, 
aber jehr fejtes Seil los, dad er ſich um die Taille gewunben 
Hatte. Dann, ohne fih auch nur einen Moment zu befinnen, 
machte er mit fundiger Hand an dem einen Ende eine el 
und warf das andere Ende über den Alt. | 

Hier aber traf er auf eine Schwierigkeit, auf die er an— 
Tangs nicht gerechnet Haben mochte. Der Alt ftand vortrefflich 
aus, aber er war für feine Fleine Statur zu hoch, wie der 
Baum ebenfalls zu dickſtämmig, um ihn zu erflettern — der 
angehende Selbitmörder ſchien wenigitens in ſolchen gymnaſtiſchen 
Künſten nicht geübt. 

Er Hielt jet einen Moment in feiner Arbeit inne, um 
ſich zu überlegen, wie er dies Hinderniß am beiten überwinden 
Tonne. Es war auch in dev That nicht fo leicht, und er dachte 
‚gerade daran, fich vielleicht einen bequemeren Baum auszu— 
ſuchen, als er plößlich zuſammenſchrak; denn dicht und un— 
mittelbar neben ſich hörte er eine Stimme, die mit der größten 
Ruhe und Unbefaugenheit ſagte: 


12 


„Der Baum ift ein bischen unbequem — Gie hätten ſich 
einen etwa3 niedrigeren Aſt ausfuchen jollen. Ich glaube, 
der dort drüben wäre beſſer geeignet.” 

Der Selbjitmörder fuhr wie von einer Natter gejtochen 
herum und ſah unter den Bäumen, aber gerade von einem 
Strahl des hindurchbrechenden Mondlichtes getroffen, die Ges 
jtalt eine® anftändig gefleideten Herrin, der dort mit dem 
Rüden an dem Stamm einer Kaftanie lehnte und allem Ans 
ſchein nach ſchon dort geweſen fein mußte, als er jelber den 
Plab betrat, denn die Schritte eines Nahenden hätte er 


jedenfalls gehört. Der aber Doch zur Verzweiflung getriebene ° : 


junge Menfh war nit in der Stimmung, Rüdfiht auf 
irgend Jemanden zu nehmen. Was hatte der Lauſcher hier 
zu thun? ihn an jeinem Vorhaben zu verhindern? Die Folgen 
über ihn, und mit feiner rechten Hand blibesfchnell im die 
Zajche greifend, zog er ein Fleines Einfchlagmefjer heraus, 
öffnete dafjelbe rajch und jagte dann mit Drohender Stimme: 

„Was wollen Sie hier? Wie find Sie hierher gefommen ? 
Beim Himmel, wenn Sie verjuchen wollten, mid bier zw 
flören, jo haben Sie fih an den falihen Mann gewandt. 
Wo ih im Begriff bin, mein eigenes Leben in die Schanze 
zu Schlagen, können Sie ſich wohl denken, daß ich feine Rück— 
fiht auf da3 eines Fremden nehme. Fort von hier! Wen 
Sie nur den geringften Verſuch maden follten, mir zu nahen, 
jo renne ich Ihnen dies Mefjer in den Leib.‘ 

„ber, verehrter Herr," fagte der Fremde, ohne fih durch 
die Drohung einfhüchtern zu laſſen, oder auch nur eine Be— 
mwegung zu machen, ald ob er dem Gebot Folge leiſten wolle, 
„ich Habe nicht die entfernteite Abficht Sie zu ftören, oder 
Ihnen in einem guten Vorſatz Hinderlih zu jein. Ich ftehe 
Ihnen im Gegentheil mit Vergnügen zu Dienjten, wenn id) 
Ihnen dabei in irgend. etwas nüben kann.“ 

Der Unglüdliche betrachtete ihn noch immer mißtrauifd. 
Es war eine nicht übermäßig große, ſchlanke Geftalt mit regel- 
mäßigen, aber blafjen Gefichtszügen — oder gab ihm nur 
das grele Mondlicht diefe Färbung? Nah der neueften Mode 
gekleidet, quollen unter feinem Cylinderhut volle rabenſchwarze 
Locken vor, und indem er jebt den leichten Ueberrock zurück— 


13 


ſchlug — als ob ihm etwas warm darunter würde, zeigten 
fh verjchiedene bunte Decorationen auf feiner Bruft. Er 
‚gehörte jedenfalls den höheren — wenigſtens den bevorzugten 
Ständen an. 

„Ich verſtehe Sie nicht,‘ fagte der Unglücliche, nachdem 
er den Fremden ein paar Momente in düſterem Schweigen 
betradhtet hatte; „Sie wollen mir Helfen, meinem Leben ein 
Ende zu machen, das ich nicht im Stande bin, Yänger zu er— 
tragen? Weshalb ?' 

„Sie nennen gleih den Grund mit,” jagte der Fremde 
nit einer leichten Handbewegung. „Wenn Sie wirklih nicht 
im Stande find, e3 länger zu ertragen, fo iſt e8 Ihnen doch 
eine Laft, und was follte mich da abhalten, Ihnen zu nützen? 
Weil die Handlung vielleiht ungeſetzlhich iit? Die Sache 
würde komiſch fein, wenn fie nicht auch ihre ernite Seite 
hätte — aber entjchuldigen Sie,” unterbrach er ſich felber, 
„wenn ih Sie dur mein Geſchwätz fo lange aufhalte. Der 
Aſt da iſt Ihnen ein wenig zu hoch, ich habe aber, als ich 
Hierher kam, dort drüben eine kleine Leiter ftehen jehen, die 
der Gärtner wahriheinlich zu irgend einem Zweck benubt; ic) 
glaube, daß diejelbe Ihrem Zweck vollitändig genügen wird, 
und wenn Sie erlauben, hole ich Ihnen dieſelbe — ich bin 
den Augenblid wieder hier.‘ — Ohne auch nur eine Antwort 
abzumarten, ging er vielleicht zwanzig Schritt unter den 
Bäumen Hin und Fehrte wirklich gleich darauf mit einer Kleinen 
2eiter zurüd, die er neben dem Unglüdlichen mit der un: 
befangenften Miene von der Welt an den Baum lehnte. 

Der Selbſtmörder hatte ihn noch immer im Verdacht, dag 
alles dieſes nur ein Vorwand fei, um an ihn hinan zu 
kommen, damit er plößlih auf ihn fpringen und ihn an der 
That verhindern könne; er trat auch ein paar Schritte von 
dem Manne zurüd und hielt das gezückte Mefjer noch immer 
in der Hand — feſt entichlofien, Feiner menſchlichen Gewalt 
zu weihen. Der Fremde aber adhtete nicht einmal auf die 
drohende Bewegung, und ald er die Leiter jo geftellt Hatte, 
daß man jebt von ihr aus bequem den Aft erreichen konnte, 
wandte er: fi wieder ab, ging zu feiner alten Stelle und 
fagte dann ruhig: 


14 


„So, lieber Freund, jebt find Sie nit im Geringſten 
mehr gehindert; wenn Sie die Schlinge gemacht und um 
den Hals gelegt haben, brauchen Sie nur die Leiter mit den 
Füßen umzuftoßen, und das Refultat wird ein vollſtändig 
befriedigende fein. — Bitte, geniren Sie fih auch nicht 
etwa meinetwegen; ih bin fehon fehr Häufig Zeuge: jolcher 
oder ähnlicher Handlungen geweſen und vollitändig daran 
gewöhnt.‘ 

Der junge Menſch war, als er dieje Stelle betrat, feit 
entichloffen, feinem wahrſcheinlich verfehlten Leben ein Ende 
zu machen, und er hätte auch) alle Schwierigkeiten, die ſich ihm 
da in den Weg ftellen Fonnten, in feiner doch nun einmal 
verzweifelten Stimmung überwunden. Dieſes Entgegenfommen 
eines Fremden aber, diefe wahrhaft entjeßlihe Gefälligkeit, 
mit der er die Hand lieh, einen Mitmenſchen zum Selbit- 
mörder zu maden, ja das Falte, ironiſche Lächeln, das auf 
feinen Zügen lag, ſtrich ihm doch wie ein eifiger Neif über 
die Seele, und jtarr den Blick auf ihn geheftet, rief er: 

„Menſch oder Zeufel, der Du biſt — hebe Dich weg von 
mir ! — Eine eigene Angſt überfommt mid) in Deiner Nähe — 
fort und laß mich allein ſterben!“ 

Ein Lächeln flog über die Züge des Fremden. 

„Es iſt fehr freundlih von Ihnen,“ fagte er, „daß Sie 
mic) mit dem vertraulihen Du anreden, und wenn Sie nit 
in jolder entjeblihen Eile wären, die mondbeſchienene Erd- 
oberfläche zu verlaffen, jo könnte es vielleicht zu einer näheren 
Bekanntſchaft führen — doch die Menfchen fagen: des Menſchen 
Wille ift jein Himmelreih, und wer fi) aus dieſem Himmels 
reich jelber eine Hölle machen will, dem,’ ſetzte er achſel— 
zudend hinzu, „kann man es natürlich nicht wehren. Ich 
jtöre außerdem nie ein Vergnügen — alſo A revoir mon cher, 
denn — wenn Sie Ihren Vorſatz ausführen, foupiren wir 
vielleicht Heut Abend noch zuſammen.“ 

Damit lüftete er leicht den Hut, drehte fih ab und wollte 
den Platz eben verlafien, als der junge Verbrecher, vielleicht 
durch) die Verzögerung und das Zufammentreffen mit einem 
Fremden — möglicher Weife auch durch die furchtbare Bereits 


19 


willigfeit wankend gemacht, mit der diejer ihn in feinem Vor: 
jaß zu bejtärfen ſchien, ihn noch einmal antief: 

„And ift das alle Hülfe, die Sie mir leiften wollten ?' 

Der Fremde drehte fih lachend um und jagte: 

„Wünſchen Sie vielleicht Geld von mir zu borgen?“ 

„Teufel!“ knirſchte der junge Verbrecher zwilchen den 
Zähnen, wandte ſich ab und ergriff jebt entichlofjen die Leiter — 
was auch hatte er auf Erden noch zu ſuchen — aber der 
Tremde ſchien fich anders befonnen zu haben. Er ging nicht, 
jondern kehrte um, kam bis auf fünf Schritt etwa, wo der 
junge Mann Ion die Schlinge befeitigte, heran und jagte: 

„Hören Sie einmal, lieber Freund, Sie jcheinen mir 
ein nicht unbedeutendes Ahnungsvermögen zu befiben. Warten 
Sie noch einen Augenblid mit Ihrer Abreife, es wär’ doch 
möglich, daß ih auch hier auf Erden noch eine Beſchäftigung 
für Sie fände.’ 

„Ste? für mi?" fagte der junge Selbſtmörder mit 
finfterem Blick. „Wer find Sie denn überhaupt?’ 

„Der Teufel, fagte der Fremde ruhig — und nur mit 
einem leifen jpöttifchen Zug um die Lippen, „Sie nannten ja 
vorhin meinen Namen.’ 

„Der Teufel?" rief der Unglüdliche, und ein eigenthümliches 
Zittern flog über feinen Leib — die ftile Nacht — der fahle 
Mondichein, der einfame Drt, ja die unheilige Abſicht jelbit, 
in der er fich hier befand, das alles mochte zuſammenwirken, 
um fein Herz mit einem unbeftimmten Schauder zu erfüllen — 
aber das fonnte doch nur Momente dauern, und mit heijerer 
Stimme ladte er wild auf: 

„Das wäre in der That ein vortrefflicher Gejellichafter 


‚für meine Reife — wenn es überhaupt einen Teufel gäbe. — 


Nur fo viel ift ficher, ein Herz haben Sie nit, oder Sie 
fönnten nicht mit einem Menjchen in meiner Lage Ihren 
Scherz noch treiben. Fort! Sie find nit im Stande, mir 
zu helfen.‘ 

„Das käme auf einen Verfuh an,’ fagte der Fremde. 
„Sie brauchen jedenfalls Geld, weiter nichts.‘ 

‚Und jelbft eine Eleine Summe fönnte mir nichts nüßen,‘ 
fagte der junge Spieler finfter, „mein Unglüd liegt tiefer — 


16 


ih habe meinen Beruf verfehlt, und jede Hülfe jet würde 
nur dazu dienen, mein Schiejal um Monate — ja vielleicht 
Wochen hinaus zu zögern.‘ 

„Ihren Beruf verfehlt? Caramba!“ fagte der Fremde 
(und der Teufel ſoll allerdingd immer nur ſpaniſch, aber 
dabei anftändig fluchen), „an folchen Leuten habe ich eigent- 
fih von jeher eine Snterefje genommen. Ich verfehre am 
allerliebiten mit Menjchen, die ihren Beruf verfehlt Haben. 
Kommen Sie herunter und lafjen Sie und ein halbes Stündchen 
‚mit einander plaudern; wollen ©ie fih nachher noch abjolut 
hängen, jo haben Sie die ganze Nacht vor fi, und Fein Menſch 
wird Sie daran verhindern. Was find Sie eigentlich?‘ 

„Zuerſt beantworten Sie mir die nämliche Frage, die ich 
vorhin an Sie gerichtet,” jagte da der junge Mann, der jebt 
von der Leiter wieder herabitieg, aber troßdem noch mit einem 
heimlichen Graufen in das, bleiche Antlitz des Fremden ſah. 

„Und habe ich das nicht Schon gethan?“ fagte diefer ruhig. 
„Ich bin wirklich der Teufel.‘ 

„Sie treiben Ihren Spott mit mir, rief der junge Mann, 
indem er aber doch die Geftalt des Fremden mit einem fheuen 
Blick überflog. 

„Wie ſoll ih mich legitimiren?“ erwiderte achjelzudend 
der Fremde; „glauben Sie etwa, daß ih mit Hörnern und 
Pferdefuß herumlaufe, wie mic) einzelne alberne Menjchen 
Ihildern, um Kinder und Schafsföpfe damit fürdten zu 
machen? Mit einer folhen Geftalt könnte ich mich natürlich 
vor Niemandem bliden lafjen. Am Tag aber von Gefchäften 
überladen, befuche ich gern Abends im Mondenfchein die Erde 
und gehe dann eben mit dem Monde; denn irgendwo fcheint 
er doch die ganze Nacht.‘ 

‚Und was wollen Sie von mir?" Tagte der junge Mann 
ſcheu, und fühlte wie ein Zittern durch feine Glieder Tief — 
„meine Seele ?'' 

Der Fremde lachte laut auf. „Glauben Sie wirklich, 
daß ich mich einer einzigen lumpigen Seele wegen bier eine 
Stunde zu Ihnen gejellt hätte? Das wäre der Mühe werth! 
SH Habe meine Freude an ganz anderen Dingen und, mie 
gejagt, viel mehr Vergnügen daran, Leute, die ihren Beruf 


17 


verfehlt haben, in die richtige und pafjende Bahn zu bringen, 
als fie abfahren zu fehen, ohne daß fie der Welt — und 
mir etwas genübt hätten. Wie heißen Sie?“ 

„Guido Lerche.“ 

„Und Ihr bisheriger Beruf?“ 

Guido Lerche ſchwieg und ſah düſter nach dem Fremden 
hinüber, endlich ſagte er: „Schriftſteller — Dichter — aber 
wenn Sie der wirklich wären, für den Sie ſich ausgeben, 
ſo müßten Sie doch auch mich und meinen Beruf kennen.“ 

Achſelzuckend erwiderte der Fremde: „Die Menſchen 
ſagen allerdings häufig: „Der Teufel ſoll alle Schriftſteller 
und Schriftſtellerinnen Deutſchlands kennen“; es iſt das 
aber nur eine ganz gemeine Schmeichelei — ich bin es nicht 
im Stande. Sie müſſen mich deshalb entſchuldigen. — 
Wahrſcheinlich ſchreiben Sie anonym?“ — 

Guido Lerche biß ſich auf die Unterlippe, er ſtand ſchon 
gewiſſermaßen mit einem Fuß in einer andern Welt, aber die 
kleine Eitelkeit dieſer hatte ihn trotzdem noch nicht ganz ver— 
laſſen; der Fremde aber, der es bemerken mochte, ſagte etwas 
freundlicher: 

„Kommen Sie, lieber Herr Lerche — laſſen Sie vor der 
Hand noch den Strick los und uns Beide einmal vernünftig 
mit einander ſprechen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich 
ſchon vielen Leuten geholfen habe, und ſobald Sie ſich nur 
ein klein wenig anſtellig zeigen, iſt die Sache auch gar nicht 
etwa fo ſchwer. Nur mit dummen Manſchen mag ich nichts 
zu thun Haben, oder die brauchen mich vielmehr nit. Gie 
arbeiten mir auch ſehr Häufig durch ihre Dummheit in die 
Hände, und anfangen läßt fi doch nicht® mit ihnen — 
man muß fie eben einfach gehen laſſen.“ 

„Und Sie wollen mir helfen?’ fagte Lerche, ohne aber 
bis jet noch feine Stellung zu verändern — „und wie dad 
anfangen? Soll etwa meine unfterbliche Seele der Preis ſein?“ 

„Seien Sie nicht kindiſch,“ erwiderte der Fremde; „wenn 
mir etwas an Ihrer „unfterblichen Seele’ läge, jo brauchte 
id) Site ja nur nicht zu ftören. Sie machen fih überhaupt 
von Ihrer Seele und meinem Verlangen danach einen 
total falſchen Begriff und beurtheilen die Sache einfah wie 

Fr. Gerftäder, Erzählungen ıc. 2 


18 


der große Haufe nach den verfchiedenen Märchen, die fie 
darüber Hören, und die gewöhnlich geradezu abgeſchmackt find. 

In Guido Lerche's Herzen dämmerte in dem Moment 
zuerjt wieder eine Hoffnung. War e& denn nit möglid, daß 
er hier einen reihen — und dann natürlich verrüdten Eng: 
länder gefunden hatte, der zufällig Zeuge feines beabſichtigten 
Selbſtmordverſuchs geweſen, und nun in feiner baroden Weiſe 
ihm zu helfen wünſchte? Er mußte wenigitend willen, was 
der Fremde, der fih für den Teufel ausgab, eigentlih von 
ihm wolle und ob er: in ihm einen Netter gefunden — der 
lebte Ausweg blieb ihm ja dann noch immer unvermwehrt. 
Er ließ den Strid los, trat von den unterften Sprofjen der 
Leiter herunter und die Arme verjhränft auf den Fremden 
zu, der ihn ruhig, wo er jtand, erwartete. Jetzt jagte er 
freundlich: 

„Kommen Sie, Herr Lerche, wir wollen uns da drüben, 
am Rand des kleinen Wäldchens, unter einen Baum ſetzen, 
wo der Thau das Laub nicht getroffen hat, und dort erzählen 
Sie mir einfach — aber, wenn ich bitten darf, ſo kurz als 
möglich, Ihre Schickſale. — Ich bedarf nur der Andeutungen 
und verſtehe ganz vortrefflich zwiſchen den Zeilen zu leſen.“ 

Lerche betrachtete ihn aufmerkſam. Wie ein Engländer 
ſah er eigentlich nicht aus — ſchon die ſchwarzen, gelockten 
Haare ſprachen dagegen — weit eher wie ein Italiener 
oder Spanier; er hatte auch außerordentlich weiße und zarte 
Hände, und in der ſeidenen feuerrothen Cravatte funkelte ein 
pradtvoller Diamant. Ohne eine Antwort abzuwarten, jchritt 
aber der Fremde der bezeichneten Stelle zu, und es war in 
der That ein wundervoller Plab, wie man ihn fih nicht 
teizender hätte ausſuchen können. 

Bol und klar ftand der Mond am blauen, jternbefäeten 
Himmel; nur bier und da zogen lite und durchſichtige 
Wolfenfchleier darüber Hin und warfen für Momente einen 
Halbſchatten auf die Erde, Ueber ihnen wölbte jih das 
breite Dach des Kaftanienbaumes — vor ihnen ſenkte fich 
allmälig der leiſe ablaufende Hang dem Eleinen Strom ent- 
gegen, unfern von dem, aus eingejhhlofjenen Mauern hervor, 
die weißen Dämpfe der dort zum Abkühlen gejammelten 


N 


29 


heißen Quelle fliegen. — Drunten im Thal aber und drüben 
auf dem andern Ufer der Lahn blitzten die Lichter der zahl- 
Iofen Hotels, und von dort her tönte aud) noch die raufchende 
Melodie eines Yuftigen Galopps, zu der fih die gepußten 
Paare auf dem Parket des Saales im Kreiſe ſchwenkten. 
Still und majeftätifch aber lagen dahinter die mondbeſchienenen 
und dit bewaldeten Hänge der Berge, und jtiller, Heiliger 
Frieden ruhte über dem ganzen Bilde. 

Der Fremde fhien die prachtvolle Scenerie jelber. mit 


. Wohlgefallen zu betrachten. Cr warf fi auf das meiche 


Laub nieder, und den rehten Ellbogen auf den Boden ſtützend, 
fagte er: 

„Allerliebſte Gegend Hier — und jo fühl und friſch heut 
Abend. Bitte, Herr Lerhe, nehmen Sie Plab, und nun er- 
zählen Sie mir einmal, was Sie eigentlih zu einem Schritt 
getrieben, den Ahr Menſchen doch nur einmal im Leben 
wagen könnt, während Ihr dabei völlig und unrettbar in das 
Dunkel einer geheimnißvollen Zufunft hinausſpringt. — 


Merkwürdig — nicht einmal ein unvernünftiges Pferd ſpringt 


u 


über eine Bretterwand, wenn e8 nit ſehen Tann, mo es 
drüben im Stande ift, die Füße Hinzufeben.‘ 

„Und weshalb nehmen Sie ein ſolches Intereffe an mir?“ 
fagte Lerche düfter, indem er aber doch der Einladung Folge 
Yeiftete und fich neben dem Fremden auf das wie aufgejchüttete 
Raub niederwarf. 

„Werden Sie niht langweilig,“ erwiderte der Fremde — 
„woher vermuthen Sie, daß ich überhaupt Intereffe an Ihnen 
nehme? Jh will nur fehen, ob Sie ſich hier auf der Welt 
nicht noch nüßli machen können — wäre das nicht der Tall, 
fo würde ich Sie nicht weiter beläftigen. Alfo erzählen Sie 
frifh von der 4 weg; ed tft no früh, und Gie haben 
übrig Zeit.‘ 4 

„Aber,“ fagte Lerhe — „wenn ich mich einem vollfonmen 
Fremden anvertrauen fol, fo muß ich doch wenigſtens im 
Ernſt wiffen, mit wem ich es zu thun habe. Wer find Sie? 
Wie heißen Sie?" 

„Wer ii bin, Habe ich Ihnen ſchon vorhin gejagt. Wie 
ih Heiße? Ihre Nation hat zahliofe Namen für mid — 

DE 


20 


mande jogar beleidigender Art, wenn mich die kindliche Ein- 
falt derartiger Menfchen überhaupt beleidigen könnte.“ 

„Sie treiben Ihren Scherz mit mir, fagte Lerhe — 
„Ihr gutes Herz verleitet Sie, einem Unglüdlichen zu helfen, 
ohne ihn zu Dank verpflichten zu wollen.‘ 

„Mein gutes Herz?" lachte der Fremde jebt wirklich 
grell und unheimlid auf. — „Das ilt vortrefflih, Herr Lerche, 
ih fange wirflih an zu glauben, daß Sie ein Dichter, find, 
denn Sie haben Phantaſie. Mir ift Schon viel im Leben nach— 
gefagt, aber ein gute Herz — hahahaha — das ift in der 
That äußerſt komiſch! Aber bitte, beginnen Sie. — Mit wen 
Sie es zu thun haben, willen Sie jebt. Doc geniren Sie 
fih nidt. Neues können Sie mir nicht berichten, denn im 
Leben der Menfchen wiederholen fi ja derartige Dinge, und 
nur von Ihrem fechzehnten Jahre fangen Sie an — die 
Kindergefhichten brauche ich nicht zu wiſſen. Wer war Ihr 
Vater?“ 

„Ein Weinhändler,“ ſagte Lerche, der ſich doch nicht recht 
behaglich fühlte — aber es mußte ein Engländer ſein, denn 
ein anderer Menſch wäre gar nicht auf den Gedanken gerathen, 
ſich direct für den Teufel auszugeben. 

„Ein Weinhändler! — hm — das iſt gut,“ nickte ſein 
Nachbar zufrieden — „und zu welchem Lebensberuf wurden 
Sie beſtimmt?“ 

„Ich ſollte demſelben Geſchäft folgen,“ ſagte Lerche — 
„hatte aber keinen beſondern Trieb dazu. Der harten Arbeit 
als Küper war mein ſchwächlicher Körper nicht gemahlen — 
ih fühlte immer einen Hang zur Poeſie und ging frühzeitig 
zum Theater.‘ 

„Sehr gut,‘ nidte der Teufel — „aber damit ging e3 
nicht.‘ 

„— — Nein, ſagte Lerche sögernd — —— und 
Chicanen wurden gegen mich geſponnen.“ 

„Natürlich,“ lächelte ſein Nachbar — „Sie finden nie einen 
ſchlechten Schauſpieler, gegen den nicht die bösartigſten In— 
triguen angezettelt werden.“ 

„Aber ich war kein ſchlechter Schauſpieler,“ fuhr Lerche 
auf. 


N 


21 


„Bitte, fahren Sie fort,‘ nidte der Andere. „Ste ver: 
ließen die Bühne, weil dev ichlechte Geſchmack des Publikums 
Ihre Verdienſte nicht zu würdigen wußte, und gingen — ?“ 

„Nach Amerika —“ 

„Caramba,“ ſagte der Fremde wieder — „das iſt weit! 
Aber es gefiel Ihnen auch dort nicht?“ 

„Nein — das materielle Volk da drüben hat feinen Sinn 
für Poeſie — in der That keinen andern Gedanken, als 
immer nur Geld — Geld — Geld. — Wenn ic hätte mit 
Spitzhacke und Schaufel arbeiten wollen —“ 

„ber das wollten Sie nit!‘ 

„Mein, e8 drängte mid) nah Deutſchland zurüd N! 

‚Sie borgten das Geld zur Ueberfahrt — 

Herr Lerche jah ihn überraijht an. — „Es blieb mir 
nichts Anderes übrig,‘ ſagte er. 

„Selbſtverſtändlich,“ nickte der Fremde. 

„Hier in Deutſchland warf ich mich auf die Schriftſtellerei,“ 
fuhr Lerche fort, dem der Gegenſtand unangenehm ſein mochte, 
„aber der Teufel ſoll die Buchhändler holen!“ | 

„Bitte!“ ſagte der Fremde. 

Es iſt nichts als Protection, Schwindel oder Betrug. — 
Ich habe Romane gefährieben, hei denen mir felber die Haare 
zu Berge ftiegen — Gedichte, die ih vorgelefen und bei denen 
mich die Zuhörer zulekt um Gottes willen baten, aufzuhören, 
weil ihre Nerven zu ehr angegriffen wurden und fie die 
Thränen nicht mehr zurüdhalten fonnten — umfonft, ich fand 
feinen Verleger. — Dann warf id) mich auf die dramatische 
Kunft — ich ſchrieb Dramen, die von einer ergreifenden Wir— 
fung hätten fein müfjen, wenn id) eine einzige Divection ge 
funden, die fie aufgeführt — Operntexte — Alles ver: 
gebens — ich wurde der Verzweiflung preisgegeben.“ 

„Und wovon lebten Sie die ganze Zeit?“ frug der 
Fremde. 

„sh — ſuchte mi fo ehrlich als möglich durchzubrin⸗ 

4 


„Natürlich durch weitere Schulden —“ 
„Ih mußte allerdings Gelder aufnehmen,‘ fagte wieder 
zögernd Herr Lerhe — „ich — konnte nicht verhungern.” 


22 


„Sm — id weiß jebt genug,‘ fagte der Fremde troden, 
„und e& bleibt mir noch übrig, Sie um Auskunft zu bitten, 
was Sie zu dieſem letzten verzweifelten Schritt getrieben ?*' 

„Mein Unglüd ift bald erzählt," jagte Herr Lerche. „Ich 
hatte einen Band meiner beiten Gedichte zufammengeftellt — 
den Extract meiner Poefie, wenn ich es fo nennen fünnte — 
eine Her Auslefe Cabinetswein — der Buchhändler wollte 
mir fein Honorar geben, verjtand fi aber dazu, den Band 
in Commiffion zu verlegen und hübſch auszuftatten. — Jahre 
vergingen — ich fchrieb endlich) an den Geldmenfhen und bat 
ihn um Abrehnung — die Abrehnung kam. Sie enthielt 
auf der einen Seite den genauen Koſtenüberſchlag für Drud 
Papier, Buchbinder, Infertionsgebühren 2c., auf der andern, 
Seite den Abſatz — es blieben noch ſechs Gulden Saldo zu 
feinen Gunften.‘ 

„Das war fein brillantes Geſchäft,“ fagte achjelzudend 
der Fremde. 

„Nein, fuhr Lerche düſter fort, „da trieb mich die Ver— 
zweiflung, und ich nahm die ſechs Gulden und ging damit zum 
grünen Tiſch —“ 

„Entſchuldigen Sie,“ ſagte der Fremde, „Sie müſſen ſich 
da verſprochen haben. Sie ſagten mir vorher, daß die ſechs 
Gulden zu ſeinen, alſo des Verlegers, Gunſten geweſen 
wären. Folglich waren Sie ihm dieſelben noch ſchuldig; wie 
konnten Sie alſo damit zur Spielbank gehen?“ 

„Ich borgte mir die ſechs Gulden vom Wirth auf meinen 
Reiſeſack,“ ſagte Herr Lerche. 

„Sehr gut,“ nickte der Fremde. „Sie arbeiteten dadurch 
mit doppelt negativem Capital — vortrefflich! Alſo Sie 
gingen zur Spielbank — verloren aber natürlich.“ 

„Auch den letzten Gulden,“ beſtätigte Lerche, „und die 
Verzweiflung trieb mich endlich hier heraus.“ 

„Aber wo bekamen Sie den Strick ſo geſchwind her?“ 

Herr Lerche zögerte diesmal ſehr lange mit der Antwort, 
endlich ſagte er: „Da ich Ihnen nun doch einmal Alles ge— 
beichtet habe, ſollen Sie auch das erfahren. Ich hatte ihn 
mir gekauft, um mich daran im Hotel aus dem Fenſter zu 


23 


laſſen, wenn ich, wie vorausfiätlich, meine Wirthshausrechnung 
nicht bezahlen konnte.“ 

Der Fremde richtete fic bei den Worten im Nu in die 
Höhe, und dem jungen Mann die Hand hinüberreichend, fagte 
er freundlich: | 

„Herr Lerche, ich kann Sie meiner vollen Hochachtung ver: 
fihern. Sie haben unbejtreitbar Talent, denn daran hätte 
ich ſelber nicht gleich gedacht. — SH müßte mid auch fehr 
irren, oder Ihre Zukunft ift gefichert. Erlauben Sie mir jebt 
nur noch eine Frage, und glauben Sie nicht, daß ich fie in- 
discret thue; aber ich muß es zu Ihrem eigenen Beten wiſſen. 
— Die viel Schulden haben Sie, und vor allen Dingen, wem 
Ihulden Sie?’ 

Herr Lerhe ſchwieg, aber nicht, au Zurüdhaltung, denn 
allerlei Gedanken freuzten ihm das Hirn. Der großmüthige 
Fremde wollte jedenfalls jeine Schulden bezahlen, und er machte 
ih nun im Geift einen Ueberſchlag, wie viel er angeben follte, 
ohne dabei etwas zu vergeflen. Endlich ſchien er damit im 
Meinen und fagte: 

„Meinem Schneider ſchulde ich dreißig Thaler —“ 

„Selbſtverſtändlich!“ lautete die Antwort. 

„Meinem Schuhmacher fünfzehn, find fünfundvierzig. — 
Meinem Wirth für Eſſen und Wohnung Hundertundjechzig, 
macht zweihundertundfünf, dem Buchhändler acht Thaler, find 
zweihundertunddreizehpn — im Frühftüdsfeller zweiundvierzig 
Thaler etwa, macht zweihundertfünfundfünfzig. — Meiner 
Wäſcherin elf Thaler — gleich zweihundertjehsundfechzig, und 
dann — Habe ich noch zweihundertfünfzig Thaler baar Geld 
aufgenommen.‘ 

„Don wen?’ frug der Fremde. 

„Von der eriten Liebhaberin unferes Theaters.‘ 

„In der That? Eine Herzensneigung 2’ 

„Nein.“ 

„Auf Wechſel?“ 

Mein 

„Alſo auf Ehrenwort?“ 

„Ja,“ ſagte Herr Lerche zögernd, während der Fremde einen 
Blick nach dem Baum hinüberwarf, an dem der Strick noch 


24 


hing. „Was fi alfo mit meiner Schuld Gier i in Ems auf 
etwas über fünfhundert Thaler belaufen würde.‘ 


„Alſo einem Wucherer find Sie nichts ſchuldig?“ 

„Nein — fünfhundert Thaler könnten mic) retten.‘ 

„Was nennen Sie retten?” fagte der Fremde verädhtlich. 
„Wenn Sie die fünjhundert Thaler befümen und Ihre Schulden 
wirklih damit bezahlten, jo wären nur Ihre Gläubiger befjer 
daran, Sie jelber aber genau auf dem alten Fleck wie vorher. 
Nur in dem Fal, daß Sie diefelben nicht bezahlten,’ jebte 
er langjamer hinzu — „wären Sie gebefjert, aber auch nur 
für eine furze Zeit, denn das alte Elend würde doch immer 
wieder über Sie hereinbreden. Um Ihnen wirklich zu helfen, 
Herr Lerche, dazu gehört mehr als fünfhundert Thaler.’ 

„Ih, Sie find fo gütig!“ ſagte Lerche, wirklich betroffen 
von den Worten. 

„Dazu gehört,‘ fuhr aber der Fremde fort, ohne von dem 
Lob die geringfte Notiz zu nehmen, „daß Sie jelber den 
Beruf finden, der für Sie paßt, und darin will ih Ihnen 
behülflich fein. Alles Andere ift nur ein Tropfen Wafjer auf 
einen heißen Stein und hält Sie allein ein paar Monate länger 
am eben, womit, nebenbei, Niemandem bejonder3 gedient 
wäre.‘ 


„Aber was verjtehen Sie unter einem Tebensberuf 2‘ jagte 
Lerche, deſſen Hoffnungen bei den Worten einen gelinden Stoß 
befamen; denn baar Geld wäre ihm viel lieber gemwefen, als 
ein Lebensberuf. 

„Laſſen Sie mic) aufrichtig fein,“ jagte der Fremde, „denn 
nur dadurch kann ic) Ihnen beweiſen, daß ich es gut mit 
Shnen meine — Gie haben nichts gelernt und von einem 
Beruf zum andern übergewechſelt; Sie fünnen auch nichts 
Selbititändiges und Bernünftiges ſchaffen, ſonſt würden Sie 
jedenfalls einen Berleger für Ihre Arbeiten gefunden haben. 
Ihr ſonſtiger Charakter läßt nicht? zu wünſchen übrig, und 
ih würde Ihnen ohne Weiteres eine Auswanderungs-Agentur 
vorſchlagen, wenn Ihnen Ihre poetiiche Neigung darin nicht 
im Wege jtünde. So weiß ich nur noch einen, Ausweg für 
Sie, auf dem Ste fi) Ihr Brod jedenfalls verdienen fönnen: 


28 


Sie müſſen Theaterrecenjent werden und fih wo möglich an 
einer Theaterzeitung und Agentur betheiligen.‘' 

„Aber die mißglüdten Verſuche, die ich ſelber —“ fagte 
etwas ſchüchtern Herr Lerche. 

„Beſter Freund, die laſſen Sie dann Anderen entgelten,” 
lachte jein freundlicher Ratgeber; „denn wer jelber etwas 
ſchreiben kann, wird natürlich nit Necenjent. Ihre Ge— 
wiſſenhaftig keit ſteht Ihnen doch Hoffentlich nicht dabei 
im Wege? — Und überdies,“ fuhr der Fremde Teichthin 
fort, „werden Sie mit der Zeit auch Jo verbittert werden, daß 
Shnen die Galle Schon von jelber kommen wird, und nidts 
in der Welt nährt befjer als Galle —“ 

„Ich Habe immer das Gegentheil geglaubt,’ wagte Lerche 
eine johüchterne Entgegnung; denn wenn ihm der Fremde 
nichts weiter geben wollte, als den Kath, jo Hätte er ihn 
eben jo gut können ſich jelber überlaffen, und dann wäre jebt 
Alles überftanden gemwejen. 

Der Fremde würdigte ihn Feiner Antwort; er hatte till 
vor fich nieder gejehen und leife dazu mit dem Kopfe genidt. 

„Cine Auswanderungs- Agentur würde Ihnen nit 
genügen,’ jagte er endlich — „je mehr ih mir die Sade 
überlege, dejto mehr bin ich davon überzeugt. Daß Sie aber 
als Recenſent Ihr Glück machen werden, ift gewiß. Wir 
Iprechen und wieder.‘ 

„Verehrter Herr, bemerkte Lerche endlich, „das iſt Alles 
recht Ihön und gut, aber wie joll ich dazu gelangen, felbit 
nur darin einen Anfang zu befommen ?’ 

„Ich gebe Ihnen einen Empfehlungsbrief mit an die 
Theater-Agentur in X.,“ fagte der Fremde, „die bringt Sie 
in die rechte Bahn — ich ftehe mit ihr in Geſchäftsver— 
bindung.‘ | 

„Aber womit käme ich ſelbſt nad) X.?“ jeufzte Lerche; „ich 
habe feinen rothen Heller mehr im Vermögen. Wenn Gie 
mir nur wenigftens die fünfhundert Thaler auf mein ehrliches 
Gefiht borgen mollten. — Ich gebe Ahnen mein Chren- 
wort —“ 

Der Fremde lachte laut auf. „Die Menſchen,“ ſagte er 
endlich, nennen mich immer einen „dummen Teufel‘, aber jo 


26 


dumm ift der Teufel denn doch wahrhaftig nicht, daß er einem 
deutihen Dichter Geld borgen follte — Caramba, die Idee 
ift nicht übel!“ 

„Sie nennen fi immer den Teufel,“ jagte Lerche, dem 
e3 doch anfing, unheimlich in der Nähe des blafien Mannes 
zu werden, noc dazu, da fich dieſer direct weigerte, ihm irgend 
welchen Vorſchuß zu machen; „wenn Sie nun wirklich der 
Herr wären — und ich muß Ihnen geſtehen, daß ich mir bis 
dahin ein ſolches Weſen anders gedacht habe —“ 

„Mit feuerſprühenden Augen und Hörnern, wie?“ lächelte 
Fremde. 

„Wenn auch vielleicht nicht jo — aber doch — 

„Und was wollten Sie vorhin jagen ?'' 

„Wirklich alfo den Fall genommen,‘ wiederholte Lerche, 
„ſo wäre e8 doch für Sie ein Leichtes, mir auch ohne directen 
Vorſchuß zu Geld zu verhelfen. Sie brauchten mir nur einen 
einzigen Thaler anzuvertrauen, und drüben an der Gpiel- 
bank fönnte ih —“ 

„Das geht nicht,“ unterbrach ihn kopfſchüttelnd der Fremde; 
„ich — habe mit den Herren da drüben einen ganz bejtimmten 
Contract und kann nicht gegen mein eigened Geld fpielen.‘ 

„Aber wie fol ich hier fortkommen?“ 

„Hm, ſagte der Fremde und fah ihn von der Geite 
an — ‚und wenn ih Ihnen nur die geringfte Summe an— 
vertraute, fo machten Sie doch Dummheiten, Tiefen mieder 
hinüber und wären Ihr Geld in einer DViertelftunde los — 
denn Segen iſt nicht darin.’ 

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenmort —“ 

Der Fremde pfiff dur die Zähne. — „Sie halten mid) 
für eben fo leihtgläubig wie Ihre erfte Liebhaberin,“ fagte 
er; „aber ih will Ihnen wenigſtens von hier forthelfen,‘' 
jeßte er Hinzu. , „Ich muß Ihnen aufrichtig gejtehen, daß 
mir nicht viel daran liegt, wenn Sie fih hier hängen, denn 
es entfteht dadurch immer ein unangenehme Gerede für die 
Bank, Was Sie dann im Land drin thun, Fümmert mich 
nicht. Uebrigens ſehe ih ein, dag Sie fi nicht jelber zu 
helfen wifjen, denn zum directen Stehlen ſcheinen Sie mir zu 
ungefhikt. Sie müfjen deshalb etwas Geld in die Hand 


de 


= 


27 


bekommen — aber ſo viel ſage ich Ihnen, werfen Sie ein 
einziges Stück des von mir erhaltenen Geldes auf den grünen 
Tiſch, jo verſchwindet e8 im Nu, Hinterläßt nichts als einen 
häßlichen led und — die Folgen haben Sie fih nachher 
Telber zuzuſchreiben.“ | 

„und wie viel würden Sie die Güte haben —“ 

„Hier find zwanzig Gulden, fagte der Fremde, indem er 
in die Taſche griff und die Silberjtüde Herrn Lerche Hinreichte, 
„das wird gerade hinreichen, um Sie nach &. zu bringen.‘ 

„Und dort dann?‘ 

„Geben Sie dieje Karte in der Nedaction des Theater: 
"Dlattes ab; der Eigenthümer ift ein guter Freund von mir.‘ 

„Und wie fol ich bier im Hotel meine Rechnung be= 
zahlen 2‘ 

„Beſter Freund,‘ lachte der Fremde, „die dee mit dem 
Strick ijt viel zu ausgezeichnet, als daß ich dazu beitragen 
möchte, fie zu vereiteln. Wenn Sie aber meinem Kath 
folgen, fo befeitigen Sie das Geil fo, daß Sie es, wenn Sie 
unten find, nachziehen können — ed wird lang genug fein, 
und Sie können es vielleicht noch einmal gebrauchen.‘ 

Lerhe jchauderte zufammen — war ed die Berührung 
des Geldes oder der Gedanke an einen nochmaligen Selbſt— 
mordverſuch, auf den der Fremde jo falt und fait höhniſch an— 
jpielte — aber das Geld brannte ihm nicht in der Hand, 
wie er anfangs in der That gefürchtet hatte, und ſcheu und 
Teife fagte er nur: 

„Derlangen Sie einen Schein dafür?‘ 

Wieder legte fih der Zug von Faltem Spott über die un— 
heimlichen Züge des Fremden. 

„Slauben Sie, daß ich lumpiger zwanzig Gulden wegen 
einen Pact mit Ihnen eingehen würde, oder daß mic etwa 
gar nad Ihrer Seele verlangt? — Reifen Ste volllommen 
ruhig, ich werde Sie nicht weiter beunruhigen; denn daß 
jelbft mir ein Schein von Ahnen nichts hülfe, wiſſen Sie 
genau fo gut wie ich. 

‚Und wie fol ih Ihnen danken?“ 

„Daß Sie augendblidlih in Ihr Hotel zurüdgehen, Ihre 


28 


Sachen in Ordnung bringen und dann gleih den Nachtzug 
nad Gießen benutzen.“ 

Lerche hatte fich bemüht, den auf der Karte fein geftochenen 
Namen bei Mondenlicht zu lefen, aber war es nit im Stande — 
die Karte felber ſchien jchwefelgelb und trug einen grellrothen 
Ihmalen Rand. 

„Es jteht nur mein Name darauf,‘ jagte der Fremde, 
der es bemerkte, „Edler von der Hölle — aljo auf Wieder: 
jehen, Lieber Freund! Und rafch richtete er ſich empor, 
niete dem jungen Mann vertraulich zu und war ſchon in den 
nächſten Secunden in den dunfeln Schatten de Kaſtanien— 
wäldchens verſchwunden. 


2. 
In Ruhe. 


Lange Jahre waren nach den oben beſchriebenen Vorfällen 
verfloſſen — lange, bewegte Jahre, und wenn auch die Welt 
im Allgemeinen ruhig weiter ging, ſo verbitterte ſich doch das 
raſtloſe Menſchenvolk indeſſen die kurze, ihm hier vergönnte 
Spanne Zeit nach beſten Kräften. Nationen ſchlugen ſich mit 
Nationen und vertrugen ſich wieder, und nur im ganz Kleinen 
bohrten ſich die einzelnen Exemplare der „Geſellſchaft“ hart— 
näckig ihren Weg. Was auch da draußen im Großen und 
Ganzen geſchehen mochte, es kümmerte ſie nicht, denn nur 
ihr eigenes Intereſſe trieb ſie weiter um — in dem all— 
gemeinen Drängen und Treiben nach vorwärts — noch wo 
möglich für ſich ſelber einen Sitzplatz zu bekommen. 

Selbſt nicht, während auf dem Welttheater große 
Effect: und Senſationsſtücke gegeben wurden, hatte das Stadt- 
theater zu X. aufgehört, den gejchichtlihen Dramen mit Dffen- 
bah’ihen Opern und Poſſen Eoncurrenz zu maden, und 
auf den ‚Brettern, Die die Welt bedeuten”, ging e8 mit In— 


je 


triguen und Borwärtsdrängen, mit diplomatiſchen Ränfen und 
Kniffen, ja oft mit offenem Kampf und Hader genau fo zu, 
wie draußen in der Weite, 

In einer der Hauptitraßen in X., aber weit hinten in einem 
nicht befonders reinlich gehaltenen Hofe, von dem aud man 
noch zwei dunkle, Schmale Treppen hinaufiteigen mußte, befand 
fih das Nedactionsbureau der X—er Theaterzeitung, und 
wenn das Entree Schon nicht bejonderd verfprehend war, dag 
Innere des Bureaus ſah eigentlih noch ungemüthlicher aus, 

Es beitand aus einem einzigen langen Gemach mit drei 
Tenftern nad) dem dunkeln Hof hinaus und mochte einmal in 
früherer Zeit gemeißte Wände und weiße Gardinen gehabt 
Haben, die aber jet nur ein etwas Tichteres, brochirtes Muſter 
auf dunfelbraunem Grunde zeigten. An jedem Fenfter ſtand 
ein doppeltes Stehpult, von denen aber nur zwei einfach be— 
jeßt waren — das obere jtand leer, obgleich darauf gehäufte 
offene Briefe und Kleine Brofchüren auch die zeitweilige Be: 
nußung dieſes anzeigten. 

Un den beiden anderen arbeiteten zwei — an jedem ein 
Einzelner — etwa dürftig ausjehende Individuen mit bleichen 
Gefihtern und Schreibärmeln — blutjunge Menfchen, die ſich 
Hier für ihr Färgliches Brod die Finger wund fchrieben, und 
dafür, wenn auch nur indirect, in die Kunſt eingeweiht wurden, 
ein ſolches Geſchäft zu führen. Sie waren nämlich jtete 
Zeugen der dort eintreffenden Beſuche — geichäftlicher wie 
„freundſchaftlicher“ Art, und wenn fie weiter nichts dabei 
fernten, jo gewannen fie doch dort in einer Woche mehr 
Menſchenkenntniß, als wenn fie fi Jahre lang in dem Strudel 
der großen Welt herum getrieben hätten. 

Der Raum jelber ſah wüſt genug aus; eine Unmafje von 
Broſchüren lag über den Boden, theils zufammengebunden, 
theil8 einzeln, zerftreut, fo daß fich die Hausmagd fogar nicht 
einmal mehr mit dem Beſen dazwifchen getraute. Möbel gab e8 
dabei faft gar nicht, zwei Rohrſtühle ausgenommen und ein 
altes, fteinhartes Sopha mit einem Weberzug, von dem fi 
ſchon ſeit Jahren die Farbe nicht mehr erkennen ließ. Der 
„älteſte Mann“ im Geſchäft erinnerte fih auch nicht, je ge- 


30 


fehen zu haben, daß irgend Jemand gewagt hätte, fich darauf 
zu jeßen. 

Sonft hingen noch an den Wänden eine Anzahl von Litho— 
graphien, Photographien und Stahlitihen berühmter Künſtler, 
an denen man auch genau willen fonnte, ob fie dem Bureau 
mit oder ohne Rahmen gefchenkt waren. — Die ohne Rahmen 
waren nämlich nur einfach mit Stiften an die Wand genagelt,. 
und wenn den Betreffenden daran lag, ihr Bild hier erhalten 
zu fehen, nun fo mochten fie einen Rahmen nadjliefern. 

Der Briefträger kam und legte ein Paket Briefe auf den 
Schreibtiich des Principal, Herrn Cuno Köfer’3, der aber 
noch nicht erſchienen war, denn er liebte Morgens feine Ruhe. 
Unter den Briefen befanden fih zwei unfranfirte; der Poſt— 
bote zeigte fie aber nur lächelnd Einem der jungen Leute und 
ſchob fie dann wieder in die Tafche zurüd. Cr Fannte die 
Sejhäftsordnung im Haufe — unfranfirte Briefe wurden 
nie angenommen, denn man hatte zu bittere Erfahrungen mit 
deren Inhalt gemacht. Gewöhnlich waren fie in einem mehr 
als groben Styl gejchrieben und mimmelten von Injurien, 
enthielten aber jtet3, ftatt der Unterjehrift, die Photographie 
des Detreffenden, und auf die ließ fich nicht Klagen; denn 
die Fonnte ein Jeder einfleben. 

Uebrigens kamen ſolche „kleine Unannehmlichkeiten‘ auch 
zuweilen in frankirten Briefen vor, wanderten dann aber 
gleih in den Dfen, denn dem, Bapierforb durfte man fie 
nicht anvertrauen, oder die Schreiber hätten ſich darüber luſtig 
gemacht. 

Zroß der frühen Morgenftunde ſaß aber ſchon ein „Beſuch““ 
im Comptoir, dem Einer der jungen Leute dad Sopha ange— 
wiefen, der aber troßdem einen Rohrituhl vorgezogen hatte. 
Es war ein no blutjunger Menſch, etwas auffallend ge— 
kleidet. Er trug feine braunen lockigen Haare, jorgfältig: 
gebrannt, in einem großen Toupet auf der rechten Seite, volle 
fommen moderne Kleidung, eine himmelblaue ſeidene Gravatte, 
eine große Tuchnadel, eine goldene Uhrkette und ziegelrothe: 
Glacehandſchuhe. So zunerfihtlih er fih aber aud ſonſt 
jeinem ganzen Aeußern nach benehmen mochte, hier ſchien er fi. 
in einer etwas gedrüdten Stimmung zu befinden. Er ſaß — 


31 


die Füße eingezogen und den wohlgebürfteten Hut zwiſchen 
den Knieen, auf feinem Rohrſtuhl, als ob er fürdtete, daß 
derfelbe jeden Augenblick mit ihm zufammenbredhen könne. 
Er jah auch verjchiedene Male nach feiner Uhr — die Zeit 
verging ihm jedenfalls jehr langſam, aber er wagte nicht, den 
entichiedenen Wunſch auszufpreden, Herrn Köfer gleich zu 
Iprechen — er wußte recht gut, daß er den betreffenden Herrn 
dann in böfe Laune gebracht hätte, und das wollte er ver- 
meiden. 

Wohl dreiviertel Stunden mochte er fo gefeflen haben, 
ohne daß aber die Schreiber die geringſte Notiz von ihm 
nahmen, als plößlich die eine Seitenthür aufging und Herr 
Köfer felber, ohne weitere Anmeldung, auf dem Schauplak 
erſchien. | 

Die beiden Schreiber verbeugten ſich mit einem achtung3- 
vollen „Guten Morgen‘, und der Befuch erhob fich ebenfalls 
raſch von feinem Site, Herr Köfer hatte aber feinen Blick 
für fein „Bureau. Den gewöhnlichen, ſelbſtverſtändlichen 
Morgengruß feiner „Leute“ beantwortete er mit einem grun- 
zenden, unarticulirten Laut, der wahrfcheinlih „Morgen“ 
heißen follte, aber eben fo gut jedes andere Wort bedeuten 
konnte. Bon dem Bejuh nahm er gar feine Notiz, jondern 
trat nur zu feinem Pult, wo er die dort Tiegenden Briefe 
aufnahm und mit überreifer Erfahrung in derartigen Corre— 
ſpondenzen flüchtig fortirte, ehe er daran ging, einen oder den 
andern zu erbredhen. 

Dann öffnete er den eriten, jah nur nach Ueber- und Unter: 
Ihrift, dann den zweiten ebenfo, und nahm eben den dritten 
auf, als der Beſuch fich doch glaubte bemerfbar machen zu 
müfjen, und deshalb ſich räusperte und ein paar Schritte vortrat. 

Herr Köfer war fein hübfher Mann. Schon in den 
Fünfzigen, mit einem Kopf voll dünner Haare, die jebt mit 
Weiß gefprenfelt waren, mit den faft zu deutlich Hinterlaffenen 
Spuren von Podennarben, mit Kleinen grauen, etwas wäljerigen 
Augen und einem faft zahnloſen Munde, lag ein gewiſſer Zug 
von Berbiffenheit in dem fetten Gefiht — den man freilidy 
feinem ganzen Geſchäft zu Gute ſchreiben mußte Das bradte 
der Aerger über die Undankbarkeit der Menſchen im Allgemeinen 


32 


und der Bühnendihter und Schaufpieler im Bejondern zur 
Genüge mit fich. | 

Auch fein Aeußeres war nicht ſehr verjprechend, denn geijtig 
thätige Menfchen verwenden gewöhnlich nicht viel auf das — 
Herr Köfer verwandte jogar nur ein Minimum darauf. Er 
war noch in feiner „Morgentoilette“, d. h. er hatte ſich noch 
nicht einmal gewaſchen und gefämmt und nur einen Schlaf: 
ro übergezogen — und was für einen Schlafrod! Neu 
mußte er allerding3 einmal ein Prachtſtück geweſen fein, mit 
rothem, ächt gefärbtem Futter, mit wollenem, großblumigem 
türfiihen Damaft und einer hellblauen Schnur, mit eben ſolchen 
riefigen Duaften daran, aber, Du lieber Gott, der Zahn der 
Zeit nagt ſogar an felfigem Geftein — an Granit und Porphyr — 
weshald nicht auch an einem Schlafrod, jo unappetitlich der— 
jelbe auch ausjehen mochte. Der türkiſche Damaft ſtarrte von 
Schmutz, ſowohl an den Aermeln wie an den Tajchen und 
vorn herab, die Ränder glänzten ordentlid. Auch ein altes 
rothhaummwollenes Taſchentuch, das ihm rechts mit einem langen 
Zipfel heraushing, erſchien nur wie eine nichts verbefjernde 
Draperie. Das Hemd, welches er außerdem ohne Halstud) 
und nur vorn mit einem Band zugebunden trug, gehörte — 
wenn nicht einer andern Generation, doch jedenfalls einer 
andern Woche an, und der große goldene Siegelring, der ihm 
dabei am rechten Zeigefinger ftaf, Fonnte nicht dazu dienen, 
die Zoilette zu erhöhen. 

AS er des jungen Fremden anfichtig wurde, warf er 
einen eben nicht freundlichen Blif auf ihn, ermwiderte feinen 
Gruß auch nur dur ein ähnliches Knurren wie vorher, und 
fagte dann mürriſch: 

„Sind Sie denn noch in &., Herr von — Wie heißen 
Sie gleich?’ 

„Bon Gofdftein, Herr Köfer.‘ 

„Ja fo — alſo Herr von Golditein — ich habe Ihnen 
doch gejagt, daß Sie hier den Erfolg unferer Anfragen nicht 
abwarten ſollten!“ 

„Aber ich kann nit fortfommen, verehrter Herr,‘ ſagte 
der junge Mann fhüchtern — „wenn Sie nur im Stande 


99 
[0 78) 


wären, mir hier zwei oder drei Gajtrollen auszumirfen — ich 
würde mich ja mit einem ſehr mäßigen Honorar begnügen.’ 

„Und weshalb ſprechen Sie nicht felber mit dem Director 4’! 

Der junge Schaujpieler zudte mit den Achſeln. „Es war 
Alles vergeblich,‘ fagte er, „dreimal habe ich Schon den Ver: 
ſuch gemacht.“ 

„Und was ſoll ich Ihnen denn nützen?“ frug Herr Köfer 
barih; „habe ih ein Theater, oder fol ih Sie hier im 
Comptoir fpielen lafjen? Sie fehen, ich bin befchäftigt, Herr 
von — von ©olditein, und kann aud in der That nichts 
weiter für Sie thun.“ 

„Wenn Sie nun,’ bemerkte der junge Schaufpieler 
fhüchtern, indem der Agent jchon wieder einen Brief auf- 
brach) — „mir auf die fünftige Gage, von der ih Ihnen ja 
doch die ausbedungenen Procente ſchulde, nur einen Eleinen 
Vorſchuß leiten wollten — nur fo viel, als ich nothwendig 
brauche, um —“ 

„Sin Aufternfrühltüd zu geben — heh?“ fagte Herr 
Köfer mit einem malitiöfen Lächeln — „glauben Sie, daß 
id ein Millionär bin, um den herumvacirenden Herren 
Schauſpielern mit Darlehen unter die Arme zu greifen, und 
habe ih nit etwa ſchon genug DVerluft durch Ihre ewigen 
Störungen gehabt?’ 

„Aber an wen fonjt fol ih mich wenden?’ fagte Herr 
von Goldſtein in halber Verzweiflung. „Ste kennen meine 
Familie — Sie willen, daß Ihnen das Geld unverloren ift, 
wenn fie fi auch jebt von mir losgeſagt.“ 

„Thun Sie mir den Gefallen und laſſen Sie mid un— 
geſchoren,“ bemerkte Herr Köfer, indem er wieder einen Brief 
öffnete. „Glauben Sie denn, daß ich von der Luft lebe, und 
habe ich ſchon das Geringfte von Ihnen gehabt — Scherereien 
und Abhaltungen und Correfpondenzen ausgenommen? — 
Sie waren bis jebt nicht einmal im Stande, mir das aus— 
gelegte Borto zu vergüten, und glauben dann aud noch, man 
ol da Luft und Liebe zur Sache behalten und mit Eifer 
darangehen ?’' 

„Über ih weiß nicht einmal, wie ich hier fortkommen 
ſoll!“ 


Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 3 


34 


„Das geht mich nichtd an,’ brummte Herr Köfer, indem 
er den jungen Mann gar nicht mehr anſah, „verkaufen Sie 
Shre goldene Bummelage an der Uhr, man kann auch ohne 
das ein guter Schaufpieler jein — oder machen Sie fonit, 
was Sie wollen.‘ 

Der Seßerjunge fam in diefem Nugenblid in’s Bureau 
und brachte eine Correctur der Theaterzeitung, auf der aber 
noch eine halbe, Spalte weiß gelafien war und ausgefüllt 
werden mußte, und Herr Köfer frug: 

„Iſt denn Herr Doctor Lerche noch nicht dageweſen?“ 

„ein, Herr Köfer,“ Tautete die Antwort de8 einen 
Schreiber zurüd. 

„Wo bleibt denn nur der verzweifelte Menſch Heute ſo 
lange? Der unge mag warten — er muß gleih fommen, 
und es ift die höchſte Zeit, daß die Nummer fertig wird.’ 

Bon Herrn von Goldſtein nahm Niemand mehr Notiz, 
und der unglüdlihe Künftler entfernte ſich endlich, ohne daß 
ihm aud nur Jemand für feinen Gruß gedankt hätte, 

Auf der Treppe noch begegnete er einem andern Herrn, 
der aber weit zuverfidhtlicher auftrat. Cr war ebenfall3 etwas 
auffallend gekleidet, hatte aber ein intelligentes, ſcharfgezeichnetes 
Geſicht und jedenfall Selbjtvertrauen. Er klopfte auch gar 
nit an, fondern öffnete die Thür und jchritt direct auf den 
immer noch mit Durchfehen der Briefe beihäftigten Köfer zu, 
ohne felbit feinen Hut abzunehmen. 

„Lieber Köfer — guten Morgen.” 

„Ab, Herr Bomeier,“ fagte Herr Köfer, indem er ihm 
die noch ungewaſchene Hand reichte, Die. der Fremde aber im 
Schuß feiner Glacéhandſchuhe Fräftig ſchüttelte — „Sehr an- 
genehm, Sie bei mir zu fehen, ging ja famos geftern Abend, 
wie ich gehört habe — und noch dazu ein neues Stüd — 
allen Reſpect, die Direction wird glüdlich fein, Sie zu ge 
winnen.‘ | 

„Bitte, lieber Köfer — feine Komplimente,‘ jagte der ge- 
feierte Künjtler lächelnd — „es machte fih. Habe auch mein 
Engagement ſchon gejtern Abend noch mit der Direction ab- 
geichloflen, eben Contract unterzeihnet und wollte Sie nur 
bitten, mic) von jebt an als Abonnenten Ihres geſchätzten 


35 


Blattes zu betrachten. — Hier im Couvert finden Sie meine 
Adreffe — nit wahr, das Abonnement wird vierteljährlich 
pränumerando bezahlt ?‘' 

„Iſt To Uſus, verehrter Herr.’ 

„Schön — ich habe für das erjte Quartal den Betrag 
gleich eingefchlofjen.‘ 

Herr Köfer befühlte mit feinen zwei Fingern das Couvert. 

„Sehr dankbar — ſoll Ihnen pünktlich zugefandt werden.‘ 

„Alſo guten Morgen, lieber Köfer — ich habe noch viel 
zu thun.“ 

„Das glaub’ id, Herr Bomeier — das glaub’ ih — fehr 
angenehm geweſen,“ und mit feiner linken Hand den Schlaf: 
rock vorn etwas zuhaltend, begleitete ev den Seren bis halb 
durch fein Comptoir, oder ging wenigſtens mit einer achtungs— 
vollen Berbeugung hinter ihm ber, was den beiden Schreibern 
jo imponirte, daß fie ebenfalls von ihren Drehftühlen auf- 
fanden und ſich verbeugten. 

Herr Köfer hatte faum Zeit gehabt, auf feinen Platz zurüd- 
zufehren und einen Blid in das Couvert zu werfen, au dem 
ihm eine angenehm gelbe preußiiche fünfundzwanzig Thaler: 
note entgegenlächelte, als fich die Thür ſchon wieder öffnete 
und das Schwere Rauſchen eines Kleides den beihäftigten Mann 
auf einen Damenbefuch vorbereiten konnte. — Herr Köfer 
war nun eigentlich noch nicht in Toilette, und jeder andere 
Menſch wäre dadurch in Berlegenheit gerathen, nicht aber der 
Theateragent. Damenbefuh war bei ihm etwas viel zu All— 
gewöhnliche, um irgend welche Rückſicht darauf zu nehmen, 
und wenn jelbjt niemand Geringeres als die gefeierte Prima: 
donna zu ihm hereinraufchte. 

Herr Köfer, der feine Briefe wieder aufgenommen Hatte, 
blieb ruhig an feinem Pulte ftehen. Da aber die Dame in 
einem wahren Sturm dur) das Comptoir fegte, wußte er aud), 
daß wieder irgend ein Wetter im Anzug ſei, und bereitete ſich 
mit der größten Kaltblütigfeit vor, dem zu begegnen. 

„Herr Köfer,“ fagte die Dame, ohne nur einen Morgens 
gruß für nöthig zu halten, und juchte dabei in ihrer etwas 
geräumigen Ledertafche nach einem Stüd Zeitung, das fie end- 
lich zu Tage brachte — „Sie entjehuldigen mid), wenn id 
9 3* 


36 


Ahnen mit der Thür in’s Haus falle, aber ih muß auf die 
Probe.‘ 

„Mein Fräulein,‘ fagte Herr Köfer troden — „es follte 
mir ungemein leid thun, Sie aufzuhalten.‘ 

Fräulein Oftahini, wie die Dame hieß, oder wie fie fich 
vielmehr nannte, denn ihr eigentliher Name war „Gelbholz“, 
hielt dem Theateragenten das Papier vor und jagte: 

„Kennen Sie diefe Zeitung ?’' 

„Es wäre merfwürdig, wenn ich fie nicht kennte,“ erwiderte 
Herr Köfer mit einem flüchtigen Bli darauf, denn es war 
feine eigene, und der Herr wußte jebt fchon vollfommen genau, 
was die enragirte Sängerin von ihm wollte. 

‚Und diefe Recenfion haben Sie in Ihr Blatt aufge 
nommen? rief die Dame, die fih augenjcheinlih Mühe gab, 
ihr italienifches Temperament (Gelbholz) zurüd zu halten. — 
„Diele Recenſion über den — Backfiſch — über diefe Mamfell 
Bergen, die eine Stimme hat wie eine Trompete und ausfieht 
wie ein Bauermädel — wie eine Kuhmagd mit ihren diden 
rothen Baden und ihrer aufgedunfenen Gejtalt? Und bat fie 
nur eine dee von Gefang, Tremoliren — ja wohl, das bringen 
wir nicht fertig — nicht ein einziged Mal in der ganzen 
Dper — und die Gans will auch noch von „getragenem“ Ges 
lang reden!‘ 


„Aber, mein beſtes Fräulein,‘ jagte Herr Köfer, der in- 
defien feinen Brief ruhig weiter gelejen hatte, denn die Dame 
fam jede Woche zweimal in einer ähnlichen Angelegenheit — 
„wenn Fräulein Bergen wirklich ausgezeichnet fingt und von 
dem Publikum dreis, viermal an einem einzigen Abend heraus: 
gerufen und mit Kränzen beworfen wird, jo werden Sie und 
doch wenigftens geftatten, daß wir das einfach referiren !! 
„Aber wer hat fie denn mit Kränzen beworfen?“ ſchrie 
die lebhafte Stalienerin. — „Jedes Stüd koſtet ihr zwanzig 
Groſchen bei der Gemüfehändlerin, und die übrigen hat ihr 
der verrüdte Graf, der Engländer, beforgt, mit dem fie ein 
Verhältniß hat.’ | 

‚Mein verehrtes Fräulein! fagte Herr Köfer vorwurfs- 
voll, die Dame verjtand aber die Andeutung nicht, und da fie 


37 


fih einmal in ihren Grimm bineingearbeitet hatte, fuhr fie 
unerbittlich fort: 

„Und einer folden Perſon ftreuen Sie in Ihrem Blatte 
Weihrauh und nennen fie einen „Stern“, der das Größte 
ahnen ließe? — eine zweite Schröder-Devrient und Sontag ? 
und das mir in's Geficht, der ich ihr nur aus alberner Gut: 
müthigfeit die Rolle abgelafjen habe? — Eine zweite Sontag — 
ed iſt wahrhaftig zu lächerlich, und nicht etwa weil die Sontag 
wirflih das war, was die Recenjenten aus ihr machten, jon- 
dern nur weil fich das Publikum jebt, das fie nie gehört hat 
und aljo auch nicht darüber urtheilen kann, das Außerordent: 
hihfte darunter denft. Was wollen Sie denn nahher noch 
über mich ſchreiben?“ 

Herr Köfer hatte wirklich mit einer merfwürdigen Ge— 
müthsruhe dieſe heftigen und Leidenfchaftlihen Aeußerungen 
angehört, oder vielmehr über ſich ergehen lafjen, weil er doch 
‚recht gut wußte, daß er diefen Strom nicht Dämmen konnte. 
Er mußte ruhig ablaufen. Seht, nachdem die Dame ſchwieg — 
und er dHffnete indefjen einen Brief nad dem andern — 
fagte er: 

„Verehrtes Fräulein, ich fehreibe überhaupt gar nichts — 
Briefe an meine Correfpondenten ausgenommen — alfo mir 
fönnen Gie feine Vorwürfe mahen. Ich leſe nicht einmal 
meine eigene Zeitung und gehe nicht in's Theater — was 
ich aber über Fräulein Bergen gehört habe, Hang jehr lobens— 
werth, und ihre Jugend —“ 

„Jugend — bah! —“ fagte Fräulein Oſtachini — „ſie 
iſt noch nicht hinter den Ohren troden und ſchon die größte 
Kofette, die ed auf der Welt geben fann. Die verſteht's — 
und was muß die Welt denken, wenn neben mir ein ſolches 
— Geſchöpf in der Weife herausgejtrichen wird?“ 

„Aber, mein beftes Fräulein,” fagte Herr Köfer, „was 
wollen Sie? — wie ich gehört habe, hat es vorgejtern Abend 
wirklich Kränze und Bouqueis geregnet, und wenn ſich das 
Bublitum felber — | 

„Reden Sie nicht, als ob Sie eben erſt auf die Welt ge: 
fommen wären," unterbrach ihn Fräulein Oſtachini mit einer 
mwegwerfenden Bewegung des Kopfes — und fie that Herrn 


38 


Köfer darin Unrecht, denn mit feinem unrafirten Gefiht und 
den grauen Bartitoppeln jah er wahrhaftig nicht fo aus — 
„als ob man nicht wilfe, woher die Kränze und Bouquet 
fommen und wie billig das ift, wenn man e3 gejchidt ge— 
macht hat. Wenn ihr nur jeder ihrer Courmacher ein Bou— 
quet geworfen hätte, wäre fieim Grünen erjtidt. — Soliden 
Damen (Fräulein Oſtachini zählte achtunddreigig Jahre) — 
find allerdings ſolche Hülfsquellen verſchloſſen — aber deito 
ſcheußlicher iſt es,“ fuhr fie gereizt fort, „wenn fi) die un: 
abhängige Prefje auch noch dazu hergiebt, Vorſpann an dem 
Triumphmwagen einer ſolchen — Perfon zu nehmen. Sängerin, 
bah! — fie hat Feine Spur von Coloratur; der eine Triller 
war eine wirkliche Parodie auf jeden Gefang, und bei den 
hohen Tönen erfaßte mich fortwährend eine unfagbare Angjt, 
daß fie jebt umfippen müfje — und da3 Spiel — wie eine 
Wahnfinnige fuhr fie auf der Bühne herum, und das heift 
nachher ein Kunfttempel — man möchte verrüdt Darüber 
werden." 

„Und womit fann ih Ihnen eigentlih dienen?’ ſagte 
Herr Köfer, indem er eben feinen leßten Brief aufbrach; die 
gelefenen hatte er auf verjchiedene Haufen fortirt. 

Fräulein Oſtachini gerieth wirkiih in Verlegenheit um 
eine Antwort, denn eigentlich hatte fie nur ſchimpfen und 
ihrem Herzen Luft machen wollen — einen weiteren Zweck 
Eonnte ihr „Beſuch“ natürlich nicht haben. 

„Dir? fagte fie endlid — „mir follen Sie gar nicht 
dienen; aber dem Publitum, indem Sie nicht ſolche wahn— 
finnige Recenſionen hinaus in die Welt werfen, die dieſe 
Mamſell vergöttern und einen Stern aus einem völlig talent: 
lofen Dinge machen. Wer fol denn da noch Liebe zur 
Kunst haben, wenn man fieht, daß die größte Mittelmäßigfeit 
in folder Weife verherrliht wird? Meiner Meinung nad 
erheifchte doch Ihon die Würde Ihres Blattes, daß Sie nicht 
einer ſolchen Profanation zugänglich wären.‘ 

„Die Würde unferes Blattes?“ fagte Herr Köfer, und 
felbft ihm Fam diefe Behauptung komiſch vor; „aber, mein 
liebe Fräulein, wir recenfiren oder geben vielmehr der 
Stimme des Publifums Ausdruf — unparteiiſch verfteht ſich 


39 N 
und allein im Sinne der Kunft, — und darin werden Sie 
mir doch gewiß Necht geben, daß junge aufitrebende Talente 
unterjtüßt werden müſſen.“ 

„Junge Talente!‘ fagte Fräulein Oſtachini; „die Verfon 
hat fih ſchon auf drei, vier Theatern herumgetrieben. Doch 
Sie werden es erleben! Am Sonntag fingt fie die Zulia, 
und eine ſchöne Borftellung mag dad werden! Das fage ich 
Ihnen aber, wenn Sie in diefen Lobhudeleien fortfahren, 
jo ſind wir die längfte Zeit Freunde geweſen. Ich verlange 
von einer Theaterzeitung ein unparteiijches, durch Feine Rück— 
fihten oder Protectionen beeinflußtes Urtheil.“ 

„Fräulein Oſtachini!“ fagte Herr Köfer. 

In der That,’ rief aber die aufgeregte Dame — „und 
nicht die geringjte Rückſicht für mich felber — aber auch eben- 
jo für Andere, und Ihrem Herrn Lerche bitte ich das von 
mir auszurichten.“ 

„Und fonjt Fann ih Ihnen mit nicht dienen?’ fagte 
Herr Köfer, während die Dame ihren Shaw! feiter um die 
Schultern zog. 

„Heute nicht, jagte Fräulein Oftahini, nicht in der 
Stimmung, höflich zu fein; „guten Morgen, Herr Köfer !' 
und mit den Worten fegte fie zum Bureau hinaus und nahm 
alle die Papierſchnitzeln, Bindfaden, Nußſchalen und fonftigen 
Gegenſtände mit, die in ihrer Bahn lagen und die die alte 
Kathrine in den lebten Tagen verſäumt hatte auszufehren. 

Herr Köfer jah ihr über feine Brille nad) — ohne fie 
zu begleiten, wie er es vorher bei Herrn Bomeier für nöthig 
befunden; dann aber, al3 fie die Thür Hinter fich zufchlug, 
murmelte er leife: 

„Ja wohl — nicht die geringite Rückſicht für mich ſelber, 
und das Unglück möchte ich erleben, wenn wir nur ein einziges 
Mal ſagten, daß ihre Stimme — die ſo ſcharf geworden iſt, 
daß ſie Einem durch Mark und Bein ſchneidet, ein wenig be— 
legt geweſen wäre — Herr Du meine Güte, ich glaube ſie 
drehte das Comptoir um!“ 

Der eine Schreiber, der ſich kurz vorher ein Paket Briefe 
geholt hatte, die ihm Herr Köfer bei Seite gelegt, kam damit 
wieder zu ſeinem Pult. 


40 


„Aber ih muß in die Druderei zurück,“ jagte der Setzer— 
junge, der noch immer in der Ecke ſtand. 

„And der Doctor kommt noch immer nicht!" rief Herr 
Köfer und fuhr fih mit der Hand durch die ungefämmten 
Haare. „Springen Sie doch einmal hinüber, Splibner, und 
ſehen Site, wo er bleibt.‘ 

Der „erſte“ Commis legte die Briefe auf. — 

„Doctor Hesbah wünſcht Abrechnung über fein hier in 
Commiſſion befindlihes Stück,“ fagte er, indem er den einen 
Brief vorſchob; „er behauptet, in den Zeitungen gelefen zu haben, 
daß e& in Breslau, Köln, Caſſel, Dresden, Frankfurt a. M. 
und Wiesbaden gegeben ſei.“ 

„Iſt denn dad Honorar dafür eingefommen 2’ 

Sa, SIerT. Kofete 

„Schön, dann jchreiben Sie ihm, jobald es käme, jollte 
er augenblicklich Abrechnung erhalten.‘ 

„Es iſt eingefommen, Herr Köfer,“ jagte der junge 
Mann. 

„Eſel,“ ermwiderte Herr Köfer, „haben Sie nicht gehört, 
was ich Ihnen gejagt habe? Und die anderen Briefe? 

„In diefem hier verlangt ein Herr Pleſchner ebenfalls 
Abrechnung. Er jagt, dag er — 

Herr Köfer nahm den Brief, riß ihn auseinander und 
warf ihn in den Papierforb — „weiter! —“ 

„Noch ein ſolcher Brief von Doctor Rabener. Sein Luftfpiel 
wäre auf fieben Bühnen zur Aufführung gefommen, und er 
hätte noch nichts davon gehört.‘ 

„Ich auch nicht,‘ ſagte Herr Köfer, nahm den Brief, 
fnitterte ihn zufammen und jtedte ihn in die Taſche. 

„Herr Blesheim wünſcht ebenfal3 Abrehnung, fuhr der 
junge Mann fort. „Er behauptet, Ste hätten ihm auf jeine 
vier lebten Briefe gar nicht geantwortet.‘ 

„Das ift ſehr leicht möglich,” Tagte Herr Köfer — „die 
Herren fheinen weiter gar nichts zu thun zu haben, als Briefe 
zu ſchreiben — mir müfjen ihnen das abgewöhnen. Gteden 
Sie den Wifh in den Papierford. Was fonit noch? 

‚Anmeldung von neuen Stüden.‘' 

‚Belannte Namen ?'' 


41 


„„ein.’ 

„Bort damit!’ 

Die Thür ging wieder auf, und Herr Guido Lerche trat, 
von dem zweiten Commis gefolgt, der ihm auf der Treppe 
begegnet war, in's Zimmer. 

„Aber, Herr Lerche — der Seberjunge wartet ſchon zwei 
Stunden auf Sie," jagte Herr Köfer vorwurfsvoll. 

„Kann ich Armeen aus der Erde ſtampfen?“ citirte Herr 
Lerhe und ging ohne Gruß an feinen Plab, Herrn Köfer ge- 
vade gegenüber; „ich bin die Nacht erjt um halb Drei nad 
Haufe gefommen und habe troßdem fhon heute Morgen den 
Artikel beendet. Ich muß ihn nur noch einmal durchleien, 
nachher kann ihn der Junge mitnehmen.‘ 

Herr Guido Lerche hatte fih in den Jahren, in denen wir 
das Vergnügen nicht Hatten, ihm zu begegnen, jehr zu feinem 
Bortheil verändert, was wenigitens fein phyfifches Selbit be— 
traf. Er war die und rund geworden, trug einen kleinen, 
aber jehr buſchigen Schnurrbart, leinene Vorhemdchen und 
papierne Batermörder, jah aljo immer jehr reinlich aus und 
zeigte einen nicht umbedeutenden Anja zu einer mühſam er: 
worbenen rothen Naje. 


„Wo waren Sie denn biß halb drei uhr?“ ſagte Herr 
Köfer, der in ſofern Intereſſe daran nahm, als Herr Lerche 


don, feit fünf Yabren. als Gatte feiner Schwefter fein 


Schwager und dabei „ſtummer“ Theilhaber des Geſchäfts 
geworden. 

„Wo ich war?" fagte Guido — „‚Bomeier gab ein famoſes 
Champagner-Souper nad dem Theater, und wir haben uns 
föftlih amüfirt. Iſt ein ganz famofer Kerl!” 

„Sind Sie mit der Recenfion — 

„Gewiß.“ 

„Darf ich Sie bitten?“ 

Lerche reichte ihm das Blatt hinüber, und Herr Köfer 
warf kaum den Blick darauf, als er ausrief: 

„Aber, beſter Lerche — Sie reißen ja das Stück furchtbar 
herunter, und es hat ausgezeichnet gefallen! Der Autor iſt bei— 
nah nach jedem Act gerufen geworden, und der Regiſſeur hatte alle 


42 


Hände vol zu thun, ihn nur zu entjehuldigen. Das Bublifum 
war ganz außer ſich.“ | 

„zieber Schwager,’ fagte Herr Lerche verächtlich, „‚thun . 
Sie mir den einzigen Gefallen und nennen Sie mir nur gar 
nicht das Wort Publikum. Was ift Publikum? Eine Maſſe, 
die Entree bezahlt, um das Inftitut zu erhalten und ſich ein 
paar Stunden Abends zu amüſiren. Für ihr Cintrittsgeld 
haben fie dann allerdings Sit, aber wahrhaftig feine Stimme, 
und mit Ihrer Erfahrung müffen Sie do ſchon lange willen, 
daß eine ſolche Mafje wohl jteuerpflichtig jein kann und fein 
muß, aber nie die geringite Rüdficht auf ihr Urtheil ver: 
langen darf.‘ 

„Aber der Autor Hat einen jo befannten Namen!’ jagte 
Herr Köfer, Doch noch nicht vollſtändig überzeugt. 

„Und mas thut das?" rief Herr Lerche. „Das Urtheil 
über dramatifche Productionen haben wir in der Hand, nicht 
das Publiftum, und wer ift der Autor überhaupt? Kennen 
wir ihn? Hater es auh nur der Mühe werth gefunden, 
und einen Anſtandsbeſuch zu mahen? — heh?“ 

„Das allerdings,’ jagte Herr Köfer. 

„Gut,“ bemerkte Herr Lerche, „den Herren müllen wir 
wenigitens Lebensart ehren und fie davon überzeugen, daß 
fie ohne uns nichts find — nachher werden fie zahm und 
freſſen aus der Hand. Ueberlafjen Sie das mir, Schwager. 
SH weiß, wie man mit derartigem Gelichter umfpringen 
muß.‘ 

Herr Köfer Hatte indefjen die Recenſion über das geftern 
gegebene Stüd weiter verfolgt. — „Hm,“ fagte er dabei — 
„Bomeier wird damit zufrieden fein — fann nicht mehr ver- 
langen, aber — haben Sie ſich da verfchrieben? — Was be 
deutet denn der lebte Satz?“ 

„Welcher?“ 


Herr Köfer las: „Faſſen wir aber das Ganze in wenige 
Worte zuſammen und bewundern wir fortan ſein großes 
Talent für Form, für Styliſtik — ſeine Begabniß, ſich das 
Außerordentlichſte amzueignen — feine reizende, ſchöne 
Factur, ſeine zarten Fühlhörner und ſeine ernſthafte — ich 


43 


möchte fait jagen palftonirte Indifferenz“) ... das verftehe ich 
nicht." 

„Lieber Schwager," ſagte Herr Lerche, mit der linken 
Hand eine abmehrende Bewegung machend — „überlafjen 
Sie dad mir. Sie verftehen das allerdingd nicht, aber es 
drückt in höherer Weiſe aus, was unfer geiftiged Sch bei einer 
ſolchen Leiltung empfindet. Bomeier ift in der That ein Künftler 
eriter Klaffe, und ich hoffe nur, daß er unferem Inſtitut er- 
Halten bleibt. Etwas Rohes, das er noch an ſich hat, wollen 
wir dann fhon abichleifen und poliren.” 

„Ra, jagte Herr Köfer — „dann geben fie nur dem 
Sungen da dad Manufeript, daß er in die Druderet kommt, 
denn er wartet Schon eine ewige Zeit. Ich will hinüber gehen 
und mid rafiren laſſen — mein Barbier kommt jetzt,“ und 
ein vierediges Stück Marmor mit einer Lyra darauf als Hand- 
griff auf feine verfchiedenen Briefſchaften ftellend, verließ er 
das Bureau, um fih auf furze Zeit in feine eigenen Räume 
zurüdzuziehen. 

Herr Lerche Hatte indefjen den Seberjungen abgefertigt 
und die verfchiedenen eingelaufenen Zeitungen aufgegriffen, in 
deren Lectüre er fih volllommen vertiefte. — Die Schreiber 
waren ebenfalls in voller und eifriger Arbeit, und jo mochte 
es geſchehen, daß ein fremder, von ihnen Allen unbemerkt, das 
Comptoir betrat und durchſchritt. Herr Lerche hatte wenigſtens 
nicht das Geringſte gehört, als plößlich dicht neben ihm eine 
Stimme fagte: 

„Guten Morgen, Herr Lerche!“ 

Guido fuhr in der That zufammen; als er aber über das 
Zeitungsblatt hinwegſah, erkannte er einen jehr anftändig ge— 
kleideten Herrn vollfommen in Schwarz, mit jehr ſauberer 
Wäſche, der dicht vor ihm ftand und ihm freundlih, ja fait 
vertraulich zunickte. 

Lerche ftarrte ihn überrafcht an, denn die Züge des Fremden 
Kamen ihm jo merkwürdig befannt vor, und doch konnte er 
ih in dem Augenblick um's Leben nicht befinnen, wo er ihn 


*) Mörtlich abgefchrieben aus einer Recenfion. 


44 


nur je gejehen hätte. Der Fremde aber, der ihn TLächelnd be: 
trachtete, fuhr ruhig fort: 

„Alſo glüflih im Hafen der Ruhe angelangt? — Gie. 
ſehen gut aus, lieber Lerche, und haben fich ordentlich heraus— 
gemacht. Das Unterkinn jteht Ihnen vortrefflich, und ich hätte 
Sie beinah gar nicht wiedererkannt.“ 

„Mit wem habe ich die Ehre?‘ ſagte Herr Lerche, der 
dur das vornehm nadhläffige Weſen und dieſe anjcheinende 
Bertraulidfeit ganz aus feiner gewohnten Rolle fiel und gar 
nit grob wurde — „ih muß Ahnen geftehen, daß id) mid) 
nicht erinnern kann, jemal$ dad DBergnügen gehabt zu 
haben —“ 

„Erinnern fih nicht?“ Lächelte der Fremde freundlid — 
„ja, läßt fih denken. Erftlih ift e8 auch eine Reihe von 
Sahren her, daß wir und trafen, und dann verändert das 
Glück die Menihen oft wunderbar. ch felber fonnte mir 
aber doch die Freude nicht verfagen, Sie wieder einmal auf: 
zufuchen, und da ich hier gerade ganz in der Nachbarſchaft Ge 
Ihäfte hatte — 

„Aber wer find Sie?" rief Herr Lerche, dem plötzlich 
eine Ahnung dämmerte, indem er dabei ganz blaß wurde, 

„Ich?“ lachte der Fremde — „Der Teufel! Kennen Sie 
mid nit mehr?! —“ 

„Jeſus, Maria und Joſeph!“ jagte Herr Lerche, 

„Seien Eie nit kindiſch,“ erwiderte der Fremde — „die 
Schreiber werden ſchon aufmerkſam — ih will auch gar nichts 
von Ihnen, fondern freue mich nur, daß ed Ihnen gut geht 
und — daß mein Rath bei Ihnen angeſchlagen ift. — Eie 
befinden fi) wohl?‘ 

„Danke Shnen,” fagte Herr Lerhe in der größten Ber- 
legenheit, denn er wußte wahrhaftig nidt, wie er mit dem 
Wanne daran war. Er erfannte jebt auch die Züge deſſelben 
wieder, die er damals allerdings nur undeutlih im Mondenlicht 
gejehen; e8 war das nämliche bleiche, aber in nichts veränderte 
Antlitz — die Jahre waren ſpurlos an ihnen vorübergegangen, 
und noch wie damals ruhten die dunfeln, ausdrucksvollen 
Augen auf ihm und fchienen ſich feit in ihn hinein zu bohren. 

„Ihr Schwager tft wohl nicht zugegen?’ jagte der Fremde 


45 


endlich, als Herr Lerche noch immer feine Worte fand, ihn an- 
zureden. 

„Nur einen Augenblick auf ſein Zimmer hinübergegangen; 
er muß gleich wieder zurückkommen,“ ſagte Lerche mit der 
größten Zuvorkommenheit. „Sie kennen ihn?“ 

„Wir ſind alte Freunde,“ lächelte der Fremde, „und ſtehen 
auch in Geſchäftsverbindung.“ 

„Wollen Sie denn nicht einen Augenblick Platz nehmen?“ 

Es lag ein eigener, malitiös-humoriſtiſcher Zug um die 
Lippen des Fremden. Lerche fühlte ſich aber dabei um ſo 
unbehaglicher, als er ſich bewußt war, ihm noch zwanzig Gulden 
zu ſchulden, die er nur höchſt ungern zurückgezahlt hätte. — 
Und wer war der räthſelhafte Menſch überhaupt? — Der, 
für den er ſich ausgab, konnte er nicht ſein, und jetzt ſtand 
er auf einmal mitten in der Stube, und Keiner hatte ihn 
kommen hören. 

„Herr Lerche,“ ſagte der Fremde nach kurzem Nachdenken, „ich 
möchte allerdings Herrn Köfer erwarten — er wird ſich freuen, 
mich wieder zu jehen. — Bleibt er lange?’ 

„Er muß augenblidlich wiederkommen.“ 

„Schön, jagte der Fremde — „dann wart ich,’ und 
einen der Rohrſtühle benugend — felbit er getraute fich nicht 
auf das Sopha — nahın er an der Seitenwand Plab, ohne 
aber auch nur für einen Moment den Blick von Herrn Lerche 
abzumenden, den diefer fühlte, ohne ihm zu begegnen. 

„Merkwürdig, nahm dann der Beſuch das Gelpräd 
wieder auf, „wie ſich doch die Zeiten und Menjchen verändern ! 
Erinnern Sie fih noch, Herr Lerche, wie wir ung damals 
in Ems trafen? Damals waren Sie ein junger fchlanter 
Menid — etwas abgemagert vielleicht und etwas reducirt 
ebenfalls, am Leben verzweifelnd, und jett? Ach Habe mir 
eben das Vergnügen gemaht und Ihre Familie beſucht —“ 

„Ste waren drüben bei mir?“ fagte Herr Lerche raſch 
und fait wie erichredt. 

„Ich glaubte Sie noch zu Haufe zu finden. Was für 
eine prächtige Frau Ste haben — fo wohlbeleibt und fo rejolut — 
Sie ſcheinen ein wenig unter dem Pantoffel zu jtehen, Lerche — 
wie?" 


46 


3h — Herr Lerche und ur blutroth — „woher 
vermuthen Sie das?“ 

„Oh,“ lächelte boshaft der Fremde — „nur nad) einigen 
Kleinen Andeutungen. Sie werden e8 mir auf mein Wort ° 
glauben, daß ich darin einige Erfahrung befite. Ich jpielte 
nur zum Scherz darauf an, daß Sie vielleicht heute Mittag, 
nit zum Eſſen fommen würden —“ 

„Alle Wetter !'' rief Herr Lerche erjchredt — „wir waren 
gejtern Abend etwas lange auf —“ 

„Ihre Frau Gemahlin deutete etwas Derartiges an,‘ lachte 
der Fremde, „ſo daß ich nicht weiter in ſie drang. Ich ſelber 
ſtreite mich nicht gern mit älteren Damen, denn man zieht 
ſtets den Kürzeren. Aber Sie ſcheinen ſich ſehr wohl zu 
befinden — eine ſehr hübſche Einrichtung, eine ganze Reihe 
von Kindern mit ſo prächtigen rothen Haaren — und die 
liebenswürdige Gattin!“ 

„Ich glaube, da kommt Herr Köfer,“ ſagte Lerche, dem 
das Geſpräch anfing unangenehm zu werden, indem er nach 
einer draußen gehenden Thür horchte. Es dauerte auch nicht 
lange, ſo trat der Principal in das Zimmer, ohne aber den 
Beſuch gleich zu bemerken, oder auch zu beachten; denn er 
ignorirte grundſätzlich alle Leute, die geduldig auf ihn warteten. 

„Donnerwetter,“ ſagte er, wie er nur den Raum betrat, 
„was riecht denn hier nur ſo furchtbar nach Schwefel?“ 

„Sie müſſen mich entſchuldigen, Herr Köfer,“ ſagte der 
Fremde, „ich habe mir eben eine Cigarre angezündet. Es iſt 
wahrſcheinlich das Streichhölzchen.“ 

Herr Köfer blieb mit halboffenem Munde vor ihm ſtehen 
und ſah ihn fo ſtier an, als ob er einen Geiſt geſehen hätte. 

„Don der Hölle, jtammelte er endlih, und fein fonft 
aufgedunfenes rothes Gefiht mar merklich bleich geworden — 
„wo kommen Sie einmal wieder her? Ich — Sie in 
ewig langer Zeit nicht geſehen?“ 

„Geſchäftsreiſen, lieber Freund,“ ſagte der Fremde leicht: 
hin, indem er den Dampf ſeiner Cigarre von ſich blies — 
„die mich auch wieder in Ihre Nähe gebracht haben, und 
doch einmal in X., konnte ich mir natürlich das Vergnügen 
nicht verſagen.“ 


47 


„Ich weiß nicht, ob fich die Herren kennen,“ bemerkte 
etwas verlegen Herr Köfer — „Herr Lerche — mein Schwager 
und jetiger Theilhaber des Geſchäfts — Herr von der Hölle 
— mein erjter Compagnon, lieber Lerche, mit dem ich das 
Bureau gegründet Habe — aber ich erinnere mich jet, Sie 
braten mir ja felber feine Karte.” 

„Ja,“ fagte von der Hölle, „und ich freue mich wirklich, 
zwei fo mwürdige Leute zufammengeführt und befreundet zu 
haben. Ihr Geihäft muß jebt blühen, lieber Köfer. Wenn 
Shre Charaktere auch ziemlich ungleich fein mögen, jo ergänzen 
ih doch Ihre Eigenichaften — und dann der verfprechende 
Nachwuchs. IH bin ganz glüdlich, Alles jo vortrefflich ge- 
deihen zu jehen, und kann jetzt befriedigt X. wieder verlafjen.‘' 

„And weiter hat Ste nichts Hierher geführt?‘ ſagte Herr 
Köfer, doch etwas erftaunt. 

„In Ihr Haus? nein. Einige andere Geſchäfte bleiben 
natürlich noch zu erledigen. Allerdings Hatte ich ſchon früher 
dfter verſucht, einmal mit Ihnen abzurechnen, lieber Köfer 
(Herr Köfer wurde leichenblaß), aber ich glaube nicht, —“ 
jeßte er gutmüthig hinzu — „daß ich gerade je bt zur gelegenen 
Stunde komme.‘ 

„Die Gefchäfte find in der letzten Zeit ſo Ichleht gegangen —“ 
verfiherte der Agent, mit einem unmillfürlihen Bli auf 
feinen Schwager. 

Don der Hölle lächelte. „Ich weiß es, verehrter Herr, 
aber Sie mwifjen auch, daß ich mehr auf die Zinſen als das 
Capital rechne. Für jebt bin ich vollfommen zufrieden. — 
Lieber Herr Lerhe, es war mir außerordentlich angenehm, 
Sie wieder einmal gefehen zu haben — bitte, empfehlen Sie 
mid nochmals Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin! — 
Lieber Köfer — ich hoffe doch, daß wir im nächſten Jahr unfer 
Heines Geihäft reguliren können, wie?‘ 

„Ich hoffe beſtimmt,“ jagte Herr Köfer, und es war augen: 
ſcheinlich, daß er fi Mühe gab, in Gegenwart feiner Schreiber 
ein etwas würdevolles Anfehen zu behaupten. 

„Alſo auf Wiederfehen — bitte, feine Complimente,” und 
mit rafhen Schritten glitt er mehr als er ging durch daß 
Comptoir, der Thür zu. 


48 ; 

Als Köfer — der unter feiner Bedingung gerade bei diefent 
Herrn die nöthige Artigkeit außer Acht laſſen wollte — Hinter 
ihm drein ſchoß und die Thür wieder öffnete, war er jchon 
fort — und ganz unten auf der Treppe. — — 

Sm nächſten Jahr — ziemlih um dieſelbe Jahreszeit — 
machte ein Borfall in X. viel Auffehen. Herr Köfer nämlich, 
der Eigenthümer des Theaterbureaus, wurde vermißt, überall 
geſucht und nirgends gefunden, und die verfchiedenften Gerüchte 
famen darüber in Umlauf. Cinige behaupteten, er jei im Fluß 
verunglüdt — nad Anderen follte er in Hamburg gefehen 
worden jein, um fih nah Amerika einzufhifften — Gewiſſes 
fonnte man aber nirgends über ihn erfahren, und nur die 
Schauſpieler in X. verfiderten auf da Beſtimmteſte: „daß 
ihn der Teufel geholt habe. 

Wie dem auch jet — er kam nicht wieder zum Vorſchein, 
und Herr Lerche febt unter der alten Firma das Geſchäft fort. 


Die Biatternimpfung, 


1. 


Doctor Julius Forbad war ein alter Junggefelle, der, und 
wenn auch nur in feiner eigenen Meinung, von der Zeit ver: 
geſſen und weit über ein halbes Jahrhundert, tro& grauer Haare, 
Runzeln im Gefiht und eines nichtswürdigen Nheumatismus 
im linfen Bein, noch jung geblieben war. 

Morgens brauchte er, genau nach der Zeit lebend, wenig: 
ftend zwei Stunden zu feiner Toilette, zum Arrangiren ſei— 
ner falichen Zähne, zum Brennen feiner, immer noch von Zeit 
zu Zeit gefärbten Haare, zum Raſiren, zum Anziehen, und 
tänzelte er mit einem kleinen Spazierftödchen nachher aus, fo 
bejuchte er noch immer die Damen, für die er vor langen 
Sahren geſchwärmt und die fih dann im Laufe derjelben ver: 
heirathet hatten und Mütter, ja Großmütter geworden waren. 
Mit dem Schlag zwölf Uhr faß er aber jeden Morgen regel- 
mäßig am Stammtifch bei Röhrichs am Markt, um fein Glas 
Bier zu trinken, fpeifte im Hotel, las nah Tiſch im Cafe die 
Zeitungen, verbradhte feine Abende im Theater oder Concert, 
oder auch im Cafino bei einer Parthie L’hombre, und Ffehrte, 
genau um zehn Uhr, in fein wohl freundliches, aber doch auch 
fehr einfames Logis zurück, wo ihm eine alte Haushälterin 
die Wirthfchaft führte und ein etwas jehr fauler Burjche in 
einer Art von Livréerock die anderen nöthigen Dienfte leitete, 

Br. Gerftäder, Erzählungen 2. 4 


90 


Uebrigens galt er bei allen jeinen Bekannten und Freunden 
al3 eine Art von Factotum, dad, mit gar feiner bejtimmten 
Beihäftigung, von ihnen zu allerlei Heinen Dienſten zweckmäßig 
verwendet werden konnte: Bejorgungen in der Stadt, beſonders 
von Theater und Concertbilleten, Briefe in den Brieffaften zu 
jteden, einen Wagen zu bejtellen, Annoncen in die Zeitungen 
zu rüden, Bücher in der Leihbibliothef umzutaufchen, ein Re— 
cept in der Apotheke abzugeben, daß es das Mädchen nachher 
holen konnte, und andere dem Ähnliche Dinge wurden ihm von 
den verſchiedenen Damen mit dem größten Vertrauen überge- 
ben, und irgend einen jolhen Dienft zu verweigern, gejtattete 
ihm jchon fein gutes Herz und feine wirklich unermüdliche 
Gefälligkeit nicht. 

Dafür war er aber auch überall gern gejehen; die Kinder 
jubelten, wohin er nur fam, denn er trug ſtets die Tafchen 
voll Bonbons, und die Frauen lächelten ihm freundlich entge- 
gen; war nämlich etwas in der Stadt palfirt, fo erfuhren 
fie e8 jebt. Er kannte alle Kleinen Familiengeheimnifje, da 
fih fein Menſch vor ihm genirte, und überraſchte er auch wirk- 
ih einmal eine Dame feiner Belanntihaft zu etwas früher 
Stunde noch in ihrem Morgenrod, jo erſchrak fie wohl im erſten 
Augenblid darüber, beruhigte ji) aber raſch, ſobald fie ihn 
erkannte, mit einem: „Ad, es ift nur der Doctor,‘ und dies 
„nur der Doctor’ ficherte ihm zu jeder Stunde und aller 
Drten einen freundliden und ungehinderten Empfang. 

Doctor Julius Forbad) war übrigens nicht etwa Arzt, obgleich 
er zahlloſe Kleine unfchuldige Hausmittel für jedes ‚Leiden mußte 
und gemifje Pillen 3.3. auch ftetS bei ſich trug, jondern ein- 
facher Doctor der Philofophie und einer von den Taufenden 
von Menjchen, die auf der Welt „ihren Beruf verfehlt haben’. 
Er Tiebte die Wiſſenſchaft, ja, aber mehr noch als fie, feine 
eigene Bequemlichkeit; er machte allerdings früher einige Ver— 
juche, in irgend welche Thätigkeit einzutreten, aber es ging 
nicht — er hatte zu viele Bekannte, die er nicht vernachläſſigen 
durfte, Furz mit einem Worte: er verbummelte, und da 
er ein Kleines Vermögen bejaß, von dem er zur Noth forgen: 
frei leben Fonnte, jo gab er endlich alle weiteren Bemühungen 


v1 


auf und wurde, was er jebt war: Doctor Julius Forbach, 
der gute Freund aller Welt. 

In der Ferdinandsftraße der Fleinen, aber ziemlich belebten 
Stadt Buntzlach wohnte der Notar Erich, noch nicht ſehr lange 
mit jeiner allerliebiten Frau verheirathet, in deren Eltern Haufe 
Forbach feit langen Jahren aus- und einging und Eliſe Erich, 
als damaliges Lieschen Bertram, noch al3 Kleines Kind gefannt 
und oft auf dem Arm herumgetragen oder auf dem Knie 
gejhaufelt hatte. Er nannte fie deshalb auch jet noch Du 
und Lieschen; und war dort, wie faft überall wo er ver: 
fehrte, wie zu Haufe. 

&3 ging auf elf Uhr Morgens, als er an einem freund- 
lihen Sommertag, und eben von einem Fleinen Spaziergang 
zurüdfehrend, Erich's Wohnung paffirte und, da er doch feine’ 
weitere Beichäftigung hatte, beichloß, einmal vorzufragen, wie 
ed ginge. Die fleine Frau war vor etwa drei Monaten von 
einem allerliebften Mädchen entbunden worden, und er hatte 
die Kleine eigentlich noch gar nicht recht bewundert — was die 
Mütter doch ſämmtlich verlangen; jo gern er aber Kinder von 
etwa zwei Jahren an leiden mochte, jo wenig machte er ſich aus 
Säuglingen und ging ihnen lieber etwas aus dem Wege. 

&r Fam heute aber — für [eine Bequemlichkeit wenigjtens 
— zu nicht jehr günftiger Zeit, dejto willkommener aber, wie es 
ſchien, der jungen Frau, die er ſchon vollftändig angezogen und 
zum Ausgehen gerüftet traf. Sie rief ihm wenigftens, wie fie 
nur feiner anfihtig wurde, erfreut entgegen: 

„Ah, beiter Doctor! Sie hat mir der Himmel gerade jebt 
geſchickt, Sie müfjen mir einen Gefallen thun!“ 

„Aber, mein beftes Lieschen,“ fagte der freundliche Mann, 
„Du weißt ja doch, wie gern ih Dir zu Liebe thue, was 

in meinen Kräften ſteht — aber vor allen Dingen, wie geht's 
bier zu Haufe und was macht die Kleine? Ich muß auf: 
richtig geftehen, ich Bin eigentlich heute Morgen ganz beſonders 
hierher gefommen, um ihr meine erfte Bifite zu machen und 
mid) nach ihrem Wohlbefinden zu erfundigen.’ 

„Das ift ſehr freundlich von Ihnen, lieber Doctor,’ fagte 
die junge Mutter, „und Sie follen fie auch gleich fehen. 
Noch geht’s ihr auch, Gott fei Lob und Dank, vollfommen 

4 


92 


gut, aber Sie wifjen doch, welche furchtbare Krankheit jet in 
der Stadt herrſcht: die entſetzlichen Blattern, und diefe gräß— 
lihe Epidemie tritt plötzlich, ja eigentlich exit feit geſtern fo 
bösartig auf, daß ich mich vor Angft gar nicht mehr zu fallen 
weiß.“ 

„Du haſt ſie doch impfen laſſen?“ 

„Das iſt es ja eben! noch nicht,“ rief die junge Mutter 
beſorgt, „ich habe es noch immer hinaus geſchoben, weil mir 
das Kind jo zart ſchien und id den Gedanken nicht ertragen 
fonnte, daß ein fremder Mann mit einem ſcharfen Mefier 
meinem armen herzigen Schab in den Arm fchneiden follte, 
aber jebt geht es ja nicht länger.‘ 

„Nun, es iſt damit auch jeßt noch nichts verſäumt,“ fagte 
Forbach gutmüthig, „denn in diefem Stadttheil find ja, fo 
viel ih weiß, noch gar Feine Kranfheitsfälle vorgefommen. 
SH habe mich übrigens erſt im vorigen Jahr noch einmal 
impfen laffen, die Blattern find aber nicht gefommen — ich 
habe feinen Stoff dafür in mir.‘ 

„Ab Du lieber Gott! klagte die Fleine junge Frau, 
„denken Sie nur, gleich neben uns an find fie ausgebrochen; 
Helenhen, die Tochter vom Commerzienrath Sommer, hat fie 
befommen, und in den Käufern hinter und liegen zwei Fa— 
milten daran krank. Es ift ja ganz jchredlih, und fie ſollen 
fo bösartig auftreten wie noch) nie. Ich weiß mir vor Angſt 
gar nicht zu helfen.‘ 

„Aber fo ſchicke Doch zu dem Arzt und laß ihn herfommen, 
das ift ja das Einfachſte, dann kann er gleih das ganze 
Haus impfen und Du bift nachher jeder Sorge ledig.‘ 

„Das wollte ih ja auch,“ klagte Elife, „aber das Unglüd 
it, daß der Einzige, der jebt gute Lymphe befit, der Stadt: 
phyſikus Baumann, fo viel zu thun hat, daß er feine Woh— 
nung gar nicht verlafjen, kann. In der allgemeinen Angit 
ftürzt aber nun Mles zu ihm, und erit vor einer Diertel- 
ftunde hat er mir fagen laſſen, er habe eben wieder frijche 
Lymphe befommen, wenn wir aber geimpft jein mollten, 
müßten wir zu ihm kommen, denn er hätte Shon fo Vielen 
abgeihlagen, in dad Haus zu gehen, und auch wirklich Feine 
Zeit, eine Ausnahme zu machen.‘ 


59 


„Das tft freilich unangenehm,’ fagte Forbach, „hat aber 
auch bei dem herrlichen Wetter nicht jo viel zu jagen. Außer: 
dem wohnt Stadtphyfifus Baumann gar nicht jo weit von 
hier entfernt, und Du kannſt das rajch genug abmachen.“ 
| „Ja, das wollte ih ja auch, beſter Doctor,‘ Flagte Elife, 

„und mein Mann war eben im Begriff mit mir zu gehen, 
als er zu einem Sterbenden gerufen wurde, um deſſen Tefta- 
ment aufzuſetzen.“ 

„Das konnte er nicht verweigern,” ſagte Forbach, „denn 
da that Eile noth.“ 

„Mein, das weiß ih ja auch,” rief Elifez „aber nun 
fommt auch noch die Angft dazu, daß der Sterbende die 
Dlattern Hat und mein unglüdliher Mann von ihm ange: 
ſteckt wird.’ 

„ber, bejtes Kind,‘ beruhigte fie der Doctor, „mas 
machſt Du Dir jebt für ganz unnöthige Sorgen — wer war 
ed denn?‘ 

„Ja, das weiß ich nicht, in der Angit Habe ich den Namen 
nicht gehört und Karl, als er eilig jeinen Hut nahm und 
fortlief, auch nicht einmal danach) gefragt.‘ 

„ber, Schak, kann der Mann nit eben fo gut eine 
ganz unjchuldige Lungenentzündung, oder die Schwindjudht, 
oder irgend eine andere Krankheit haben? Wer denkt denn 
nur gleid an das Schlimmite, und Du quälft Did nur ganz 
unnüber Weife jelber damit. Doch welchen Gefallen follte 
ih Dir thun? Du ſprachſt vorhin davon.‘ 

„Ah ja, lieber Doctor,‘ fagte die junge Frau bittend; 
„ic erwähnte ſchon vorher, daß mich Karl eben begleiten 
wollte, als er abgerufen wurde, und ich fürchte mich jetzt, jo 
allein zu dem Stadtphyſikus zu gehen. Da find gewiß recht 
viele Leute, und wenn ich dort mit dem Mädchen jo lange 
zwiſchen jo vielen fremden Menfchen fiten muß — id) jage 
Shnen, ich habe eine jchredlihe Scheu davor!“ 

„Und ich foll mitgehen?“ frug Forbach gutmüthig. 

„Ad, wenn Sie fo freundlich fein wollten, Ste thäten 
mir einen großen Gefallen!‘ 

„Bon Herzen gern, fagte Forbach lachend, „ich habe doch 
gerade nichts Befonderes vor und fehe mir dort dann glei 


54 


die Gejhichte einmal mit an. Aber Du willſt Did doch auch 
impfen laſſen?“ 

„Gewiß, gewiß!’ rief Elife, ‚und das Kindermädchen eben- 
falls, und die Köchin fol heute Nachmittag Hingehen und 
mein Mann, fobald er nur zurüdfehrt. Die Angſt ließe mich 
ia fonft feinen Augenbli ruhen — alfo Sie begleiten mich?“ 

„Verſteht fih Kind, verjteht ſich,“ nidte ihr Forbach gut: 
müthig zu. „Macht Euch dann nur zurecht, denn ſonſt wird 
e8 am Ende heute Morgen zu jpät, und um zwölf Uhr — 
muß ich einen Herrn an einem bejtimmten Platz treffen, mit 
dem ich etwas Wichtige zu beiprechen habe.” — Der be 
jtimmte Plab war nämlich Röhrich's Reſtauration am Markt, 
wo er, pünktlich, wie er in Allem war, ſich jeden Mittag um 
zwölf Uhr einfand. 

„Oh!“ rief die junge Frau erfreut, „wir können gleich 
gehen, denn ich bin ſchon fertig angezogen und die Rieke ſitzt 
drüben und wartet auf und. Nur meine Handihuhe muß 
ih mir noch holen, ich bin aber glei wieder da — und 
hinaus Hujchte fie, um, wie fie verfprochen hatte, gleich wieder 
zu erjcheinen. 

Es ift das aber ein eigenthümliches Ding mit Damen, 
die, wenn fie ausgehen wollen, jonderbarer Weife noch außer⸗ 
ordentlich viel zu thun haben und grundſätzlich nie fertig 
werden. In der Schlafſtube lagen noch einige Sachen auf 
dem Stuhl, die ſie natürlich erſt wegräumen mußte, dann 
hatte Eliſe vorher den Sonnenſchirm, wie fie beftimmt wußte, 
auf das Bett gelegt, jebt war er nicht da und fand fich erft 
nad längerem Suchen draußen neben dem einen Schranf, wo 
fie ihn bingejtelt, alS fie den Hut herausnahm. An dem 
Hut hingen aber, wie fie jett bemerkte, noch einige Faſern, 
mit denen fie doch nicht auf die Straße gehen fonnte; die 
mußte fie alfo vorher noch abbürften. Die Köchin äußerte 
ebenfalls noch einige Wünſche — eine Hausfrau wird ja fo 
jehr in Anfprucd genommen. Dann fonnte fie den Schlüffel 
zu ihrem Schreibtiſch nicht gleih finden, aus dem fie Geld 
nehmen mußte, denn daran hatte fie vorher doch nicht ge— 
dacht. — Und nun die Handfhuhe — aus Verſehen befam 
fte, als fie diefelben aus dem Kajten nahm, zwei rechte und 


55 


mußte dann wieder zurück, Alles noch einmal aufſchließen 
und den paſſenden linken erſt herausſuchen — und an dem 
fehlte nachher ein Knopf. 

Doctor Forbach wartete indeſſen mit einer wahrhaft rüh— 
renden Geduld eine viertel, eine halbe Stunde lang; endlich 
waren alle Schwierigkeiten befiegt; Elife mußte fih nur 
no erſt die etwa Sehr engen Handſchuhe anziehen. Das 
Mädchen trug indeflen das Kind auf dem Arm herum, das 
den Vorbereitungen nit jo geduldig zuſah und zu jchreien 
anfing. 

„Biſch, biſch, biſch, biſch, biſch,“ Tuchte das Mädchen das 
Kind zu beruhigen — „biſch, biſch, biſch, biſch“ — das kleine 
Ding begann Zeter zu kreiſchen und Forbach etwas nervös 
zu werden. 

Endlich ſetzte ſich der Zug in Bewegung. Eliſe bemerkte 
allerdings noch zur rechten Zeit, und wie ſie ſchon unten an 
der Treppe war, daß fie ihr Portemonnaie oben auf dem 
Tiſch Hatte liegen laſſen, aber fie war jchnellfüßig, eilte raſch 
zurüd, holte es, und nun ftand ihrem Gange nicht? weiter im 
Wege. Forbach bot ihr unterwegs den Arm, das Kindermädchen 
wanderte mit der Kleinen hinterher, und jo ſchritten fie den 
eg ziemlich raſch hinab, um den Impfplatz, vor dem fich 
Elife aber immer noch fürdtete, aufzuſuchen. 


2, 


Das Local, in dem der Stadtphyſikus die ihm gebrachten 
Kinder in wirklich gefhäftsmäßiger Weife impfte, lag aller 
dings nicht fehr weit von Erich's Wohnung entfernt. Das 
Einzige war nur, daß die Kleine, die dag Mädchen dicht hinter 
Forbach Hertrug, unterwegs weiterfhrie und Elife fortwährend 
jtehen blieb, um es mit — „ja, mein Herzchen, wir find jebt 
gleich da, mein ſüßes Leben — mein Wonnekindchen“ und 


96 


andere Schmeichelnamen zu beruhigen. Das verzögerte den / 
Gang allerdings etwas, und Forbach ſah dabei vergebens wie— 
der und wieder nach feiner Uhr. Zu ändern war aber an der) 

Sade nichts, es mußte eben geduldig ertragen werden, und. 
endlich traten fie in das Haus felber ein, wo er ja nicht mehr 

der Gefahr ausgefeht war, daß ihm feine zahlreichen Freunde 

und Bekannten unterweg3 begegneten und ſich über fein 

„Familienleben“ luſtig machten. 

Das Haus, in welchem Stadtphyſikus Baumann ſeine jetzige 
Impfſtube eingerichtet, war ein altes ſtädtiſches Gebäude, die 
ſogenannte „alte Waage“, in deren erſte Etage eine ziemlich 
enge ſteinerne Wendeltreppe hinaufführte; dort trat man dann 
in einen geräumigen, luftigen Saal, und Forbach bemerkte zu 
ſeinem Schrecken, daß eine ziemliche Anzahl von jungen und 
älteren Damen, wie Dienſtmädchen, zwei Drittel von ihnen 
ein kleines Kind auf den Armen tragend, ſchon warteten und 
die Sitzung alſo eine ſehr ausgedehnte zu werden verſprach. 
Er ſah auch verſtohlen nach ſeiner Uhr, deren Zeiger ſchon 
auf elf Uhr zeigte. Noch war Hoffnung, daß er hier zur rechten 
Zeit abkam, um punkt zwölf Uhr zu Röhrichs zu gelangen; 
aber die ſchon vor ihnen Eingetroffenen mußten dann ſehr 
raſch erledigt werden, und hielt er dort nicht ſeine beſtimmte 
Zeit ein, ſo fühlte er ſich nachher den ganzen Tag unbehaglich. 

Seine angeborene Gutmüthigkeit verhindert ihn aber auch, 
ſich der übernommenen Verpflichtung zu entziehen; er durfte 
ſeine kleine Frau Erich nicht wie ein ungetreuer Cavalier im 
Stiche laſſen, und es hieß jetzt aushalten. Eins auch beruhigte 
ihn dabei: das Mädchen mit dem Kinde befam, als fie eintraten, 
eine Marke, um die Reihenfolge zu fihern, übergangen fonnten 
fte alfo nicht werden, und Alles nimmt ja auf der Welt einmal 
ein Ende, warum nicht aud eine Impfung. 

Da Frau Erid übrigens, fowie fie in den Saal trat (bie 
Impfung felber fand in einem Nebenzimmer ftatt), eine Be 
fannte traf, jo fnüpfte fie mit dieſer augenblidlich ein Geſpräch 
an, und Forbach befam dadurd Zeit, fich feine immerhin inter- 
eljante, wenn auch etwas fehr laute Umgebung zu betrachten. 
Die Hälfte der Kinder ſchrie nämlih, und die Mädchen, um 
fie zu beruhigen, machten dabei noch weit mehr Lärm als die 


97 


Heinen Störenfriede felber. In dem jehr hohen und geräumigen 
Saal ſchwamm aber doch dieſes wilde Concert zu einem fo 
maflenhaften Gewirr von Tönen zuſammen, daß man nur ſelten 
einmal die Stimme eines urkräftigen jungen Staatsbürgers 
einzeln daraus hervorgellen hörte, und die Ohren bald voll— 
kommen dagegen abgeſtumpft wurden. 

Intereſſanter waren für Forbach die Damen ſelber, die ſich 
in dieſem Chaos von Gebrüll mit einander unterhielten, als 
ob ſie ſämmtlich taub wären und nun einander in die Ohren 
ſchreien müßten. 


Die Rieke der jungen Frau Erich machte allerdings den 
unausgeſetzten, aber hier völlig verzweifelten Verſuch, ihr 
Kind in Schlaf zu bringen, und Eliſe Erich theilte anfangs 
ihre Aufmerkſamkeit noch zwiſchen der Freundin und dem 
„Wonnekind“, das ſich hier entſchieden für berechtigt hielt, 
ſeine Stimme ebenfalls mit abzugeben. Es half nichts: der 
Paroxysmus mußte erſt vorübergehen, und ging auch, ſobald 
die Kinder ſelber anfingen, ihren eigenen Heidenlärm zu hören, 
und dann, wie erſtaunt darüber, ſchwiegen. 

Forbach fand hier übrigens ſehr gemiſchte Geſellſchaft. 
In der allgemeinen Calamität, welche die Stadt durch die 
Epidemie heimſuchte, war Alles herbeigeeilt, um den Schutz 
der Impfung zu ſuchen — vornehme Damen und arme Frauen 
mit ihren Kindern, und der Stadtphyſikus durfte ſchon gar 
keinen Unterſchied machen, oder irgend wen begünſtigen, denn 
die Bürgerſchaft ſelber hätte da augenblicklich Lärm geſchlagen. 
Wie die Leute eintrafen, ſo wurden ſie abgefertigt, und eine 
bunter gemiſchte Geſellſchaft ließ ſich deshalb kaum denken, 
als ſie dort auf den Bänken ſaß, oder ſich auf- und abgehend 
dazwiſchen herum trieb. 


Das allein beruhigte Forbach, daß der Stadtphyſikus mit 
einer wirklich fabelhaften Schnelligkeit arbeitete. Es befanden 
ſich ſtets drei Parteien in ſeinem Zimmer, von denen die eine 
geimpft wurde, während ſich die anderen dazu vorbereiteten, 
oder nach der Impfung die Kleider wieder ordneten. Er ließ 
ſich auch dabei nicht ftören, ging auf feine Fragen der darin 
fonft unerfättlihen Mütter ein, und trieb da8 Ganze allerdings 


58 


vollkommen geſchäftsmäßig, aber dafür auch mit raſcher und 
geſchickter Hand. 

Uebrigens war Forbach eine in der Stadt zu bekannte Per— 
ſönlichkeit, um nicht auch hier eine Menge von bekannten Per— 
ſönlichkeiten zu finden. 

„Ei, nun ſehen Sie einmal an,“ ſagte ein altes, eingerun— 
zeltes Fräulein, Namens Simprecht, die in der Stadt in dem 
Rufe einer ſehr böſen Zunge ſtand — „wollen ſich der Herr 
Doctor ebenfalls impfen laſſen? Daran thun Sie vollkommen 
recht; ich ſelber habe den Entſchluß gefaßt, mich der Operation 
noch einmal zu unterziehen, und erwarte nur noch eine Freundin. 
Es iſt jetzt eine ſchwere und gefährliche Zeit!“ 

„Ad, Fräulein Simprecht — ſehr erfreut, Sie zu ſehen. 
Nein, Sie entſchuldigen, ih bin nur in Begleitung der jungen 
Frau Notar Erich hierher gekommen, und hoffe, daß uns bald 
die Reihe trifft — Fräulein Schweiter befinden fich doch wohl?“ 

„Oh, ih danke Ihnen vielmals, vortrefflih — das heißt, 
fie hat fi vor adht Tagen den Fuß vertreten und die Roſe 
im Gefiht und muß das Bett hüten.‘ 

„Oh, das bedauere ich ja ſehr — aber Sie entihuldigen, 
mein werthes Fräulein, ih muß mid doch jebt einmal nad, 
meiner Schußbefohlenen umfehen, denn ich glaube, unfere Zeit 
fommt bald." Er drüdte fi) dabei auf die Seite und dankte 
Gott, der Unterhaltung der Dame diesmal no) fo raſch ent- 
kommen zu fein. Sie jtand wenigjtens in dem Rufe, daß fie 
ihre Opfer ſonſt ſo leicht nicht wieder los ließ. 

Ein paar junge Damen, die ſich gerade hatten impfen laſſen 
und eben wieder aus der Stube heraus kamen, redeten ihn 
übrigens auch noch an und frugen ihn lachend, ob er ſich vor 
den Pocken fürchte — ſeiner Schönheit wegen; der Frau Stadt: 
räthin Liebert lief er in den Weg und der Frau Kreisbaumeifter 
MWölmerding, und dankte jeinem Gott, als er von der jungen 
Frau Erich endlich erfuhr, daß ihre Nummer jebt gleich daran 
fommen würde, und fie alfo nicht mehr lange zu warten braud)- 
ten. — Es war jhon Halb zwölf Uhr vorüber. 

Endlih Fam die Zeit, wo fie ihren „ſüßen, zudrigen Fett— 
engel“ — junge Mütter erfinden manchmal die wunderlichiten 
Beinamen für ihre Erjtgeborenen — der „Schlachtbank“ über: 


59 


liefern jollte, wie fie zitternd fagte, aber es half eben nichts 
— es mußte ja fein, um den fügen Schaß vor der furchtbaren 
Krankheit zu ſchützen, und der liebenswürdige, zu Allem bereite 
und jeder Aufopferung fähige Doctor wurde nur noch gebeten, 
auf Mantille und Sonnenfhirm und die Flafche der Kleinen 
— mas in dem Saal zurüdgelafjen wurde, Acht zu geben, als 
auch ſchon der Ruf „Nr. 172 durch den Saal fhallte und 
fie ji eilig dort hinüber verfügten. 

Doctor Forbach war fich jebt für kurze Zeit allein über: 
lafjen, da er aber das alte Fräulein Simprecht, die außerdem 
eine Toilette wie ein junges Mädchen trug, wieder durch den 
Saal ftreichen jah und fie in dem vielleicht nicht unbegründeten 
Verdacht hatte, daß fie ihn aufjuche, drüdte er ſich in eine 
der entfernteren Eden, wo befonder3 die ärmeren Leute jaßen, 
und von wo er die Thür de Impfzimmers auch im Auge 
behalten Fonnte, um dort gegen jeden Angriff mehr geſchützt 
zu jein. Seine Lage bier wurde ihm fatal, und nur das 
tröftete ihn Dabei, daß er jebt bald daraus erlöft würde. Stadt- 
phyfifus Baumann arbeitete außerordentlich raſch, und in höch— 
Iten zehn Minuten durfte er darauf rechnen, daß Alles vor- 
über war. 

Um feine Nahbarfhaft Hatte er. jich indeflen wenig befüm- 
mert. Es waren meilt Frauen aus den unteren Klafien, die, 
jede ihr Kind auf dem Arme, zufammen ein lebhaftes Geſpräch 
unterhielten. Ihrer Unterhaltung nach jchienen auch Einzelne 
davon gar nicht mit der Impfung einverjtanden zu fein und 
es nur für eine neue Steuer zu betrachten, die ihnen der Stadt- 
rath auferlegt. Wenn Andere das nun widerlegten, Tießen 
fie ſich troßdem nicht überzeugen und murrten, was jebt Alles 
von einem armen Manne verlangt würde, und mie die Lebens— 
mittel von Tag zu Tag im‘ Preife ftiegen, und wie das eigent- 
Gh noch einmal Alles werden folle, 

Die Reihe herunter war eine junge, ſehr anftändig gekleidete 
Frau gekommen, die ebenfalls, wie alle Uebrigen, ein Fleines 
herziges Kind auf dem Arme trug, aber ganz merfwürdig bleich 
und angegriffen ausfahs Sie hielt auch mit feiner der übrigen 
Frauen Verkehr, ſprach wenigſtens mit Feiner und jchien ſich 
nur allein mit ihrem Kinde zu beihäftigen, das fie oft an fi 


60 


drücte und küßte, während das kleine liebe Ding zu ihr auf: 
lächelte und nicht die geringſte Xuft zeigte, an dem Concert der 
Vebrigen Theil zu nehmen. 

Forbach beachtete fie anfangs nicht; da er jebt aber gar 
nichts zu thun hatte, fiel fein Blick wiederholt auf die lieben 
Züge der jungen Frau, in denen ein unverfennbarer Schmerz 
lag. Fürchtete fie für ihr Kind? Aber dazu jchien feine Ver— 
anlafjung, denn das Fleine muntere Ding ſah wohl und ge: 
jund genug aus, und die großen blauen Augen blibten klar 
in die Welt hinein. 

Unwillkürlich flog fein Bli aber immer wieder nad) der 
Thür der Impfſtube, denn feine Feine Frau Erich mußte ja 
jeßt bald fommen. Es war außerdem ſchon halb zwölf Uhr 
vorbei und jeine Stunde rüdte immer näher. 

Während Forbach nad) feiner Uhr und wieder nad der 
Thür jah, Hing der DBli der jungen Frau für Momente 
forſchend an feinen Zügen, als ob fie fat einen alten Befannten 
in ihm zu jehen glaubte; aber fie mußte fich getäufcht haben, 
denn jet wandte fie fich wieder ab, ſchritt an ihm vorüber, 
etwa zehn Schritt in der Reihe, und fette fi dann, wie er= 
müdet, auf den einen Stuhl, wo fie einen Moment den Kopf 
in die Hand ſtützte. 

Uber es dauerte nicht lange, fo erhob fie fih wieder — 
ihr Gefiht zeigte Marmorbläffe — fie fah ſich wie ſcheu im 
Kreife um — ihr Blid fiel wieder auf Forbach, und zu ihm 
tretend, jagte fie mit leifer angjtgepreßter Stimme: 

„Ach, dürfte ich Sie wohl bitten, mein Herr, die Kleine 

nur einen Augenblid für mich zu halten! Sie wird gewiß 
ruhig fein — nicht wahr, Herz?“ und fie küßte die Kleine 
auf die Lippen. | 
Ich, Madame?’ fagte Forbach, von der Bitte doch etwas 
überrafcht, indem er in feiner Gutmüthigfeit aber ſchon von 
feinem Stuhl emporfprang, „ih weiß nur nicht recht mit 
Kindern umzugehen. 

„Dh, nur einen Augenblick,“ bat das junge allerliebite 
Frauchen, ‚ich bin ja im Moment wieder da. Ich — fühle 
mid nicht wohl — und ald ob fie gar feine Widerrede 
gelten fieß, Tegte fie das Kind in Forbach's Arm, küßte es 


61 


noch einmal, huſchte dann den Saal entlang und verfhmwand 
gleich darauf durch die Thür. 

Wer über den neuen, jo unverhofft gefommenen Auftrag 
und die übernommene Pflicht allerdings etwas verblüfft zurüd- 
blieb, war Doctor Forbad). 

Er hatte ja aber auch gar feine Zeit zum Ueberlegen ge- 
Habt; das junge Frauchen jah dabei jo Tieb und gut aus, 
das Kind lag fo fauber und nett in feinem weißen Bettchen, 
und lächelte ihn dabei jo freundlih an. 

Wenn Frau Erih zurückkam und fand ihn fo — mie 
herzlich hätte fie ihn ausgelacht ! 

Es war auch in der That eine etwas komiſche Situation 
für einen alten SJunggefellen, der nicht einmal wußte, ob das 
Kind recht lag, oder vielleicht ander gehalten werden mußte. 
Er warf den Blid nah den anderen Frauen hinüber, deren 
Blicke jest alle auf ihn gerichtet waren, und jah allerdings, 
daß dieſe die Kinder in verjchiedener Weile trugen. 

Einmal hatte er indeß bei einem Freunde Pathe gejtanden 
und erinnerte fich jebt, daß ihm das Kind damals ebenfo über: 
geben worden, und die paar Minuten konnte er es ja aud) 
fo halten. Wenn es nur ruhig blieb — heiliger Gott, wenn 
es jeßt zu ſchreien anfing — mas hätte er dann, in aller 
Welt, mit ihm machen follen!! 





3. 


Die Frauen umher waren allerdings auf den Herrn mit 
dem Kinde aufmerkſam geworden, ohne jedoch darin etwas 
Außerordentliches zu finden, daß er es hielt — deſto mehr 
intereſſirte ſie aber die Mutter, und ſie flüſterten auch ſchon 
heimlich mit einander. 

Doctor Forbach wartete indeſſen und wartete, und die 
Situation fing ſchon an ihm peinlich zu werden, Die unſelige 
Frau kehrte nicht zurüd, fie mußte doc wenigſtens Thon zehn 


62 


Minuten abweſend fein, und er tand Hier mit dem Kinde, das. 
Ihon anfing, verſchiedene Zeichen von Ungeduld zu geben. 
Es ſchrie allerdings noch nicht, aber eg war nahe daran, und 
was wurde dann? 

Die ihm nächſten Frauen waren indeſſen aufgeitanden und 
der Thür der Doctorftube zugegangen, weil ihre Nummer jebt 
gleich Fommen mußte, und zu feiner großen Beruhigung ent- 
dedte er endlih Elife Erih, die eben mit Kind und Kinder— 
mädchen aus der Doctorjtube trat und, wie fie ihn bemerkte, 
auf ihn zueilte. Sie hatte auch wohl gejehen, daß er eimas 
trug, aber nicht weiter darauf geachtet. Seht erit, als fie 
diht an ihn Hinan war, rief Die muntere Frau überrafht und 
lachend aus: 

Uber, beiter Doctor, wad haben Sie denn da? ein kleines 
Kind? Dh, das fteht Ihnen prädtig! So follten Sie fi) 
photographiren laſſen. Hahahaha, wo haben Sie denn das 
in der Geſchwindigkeit herbekommen?“ 

„Ja, beſtes Kind," ſagte Korbach, mit einem etwas jehr 
verlegenen Lachen — „das ift eine ganz fonderbare Geſchichte. 
Ein junges Frauchen hat mir das Kind in den Arm gelent, 
fie wollte fogleich wiederfehren, und nun ift fie ſchon fait eine 
Viertelſtunde fort und läßt ſich nicht wieder blicken. Aber ſie 
muß im Augenblick zurückkommen. Wenn Du nur eine Minute 
warten wollteſt, Kind!“ 

„Von Herzen gern — aber iſt das ein liebes Ding — 
ein Knabe oder ein Mädchen?“ 

„Ja, mein Schatz, das weiß ich nicht.“ 

„Was es für ſchöne, große blaue Augen hat,“ fuhr die 
junge Frau raſch fort, indem ſie das Kind aber doch ſchärfer 
und aufmerkſamer betrachtete. „Doch was iſt das? — ſehen 
Sie einmal die kleinen rothen Punkte auf der weißen Haut — 
das ſieht ja ganz ſonderbar aus!“ 

„Es werden ein paar Blüthchen ſein,“ erwiderte der Doc— 
tor, der fi indeß vergeblich nad der Mutter ſeines Schub: 
befohlenen umfchaute — „ich begreife wahrhaftig nit, wo 
fie bleibt 1“ 

„Nein, lieber Doctor, fagte aber Elife Erich, indem fie 
faft fchen von dem Heinen Weſen zurüdtrat — „das find 


63 


feine Blüthchen — ſehen Sie nur, da3 ijt ja fat wie ein 
Schwarzer Schein um den einen Punkt — um des Himmels 
willen,“ flüfterte fie ihm dann leiſe und furdtiam zu: „das 
arme, unglüdjelige Kind hat ja die Blattern!“ 

„Ale Teufel!“ rief Forbach fait unwillkürlich aus, denn 
die Blattern waren ja im vorigen Jahr nicht bei ihm „ge— 
kommen“ und er fühlte ſich deshalb keineswegs fo ganz ficher. 

‚ber wo ift denn nur die Mutter ?’’ frug Elife, 

„Das weiß der Himmel,’ ftöhnte Forbach, indem er ſich 
halb verzweifelt umjah, „aber fie muß gleich wiederfommen ; 
wenn Du nur das Feine Weſen einen Augenblid nehmen 
fönnteft — ich fomme mir gar jo unglüdjelig damit vor!" 

„SH? Gott jol mich bewahren!” rief Elife erfchredt 
Ihon bei dem Gedanken aus — „mein kleines Engelchen iſt 
allerdingS geimpft, aber das kann jebt noch nicht wirken, und 
wenn das wirklih bei dem armen Find die Dlattern find, 
woran ich feinen Augenblick mehr zweifle, könnte ich uns ja 
Alle unglüdlid machen. Geben Sie das Kind nur ab, wenn 
die Mutter nicht gleich wieder fommt. Ach muß machen, dat 
ih mit meinem Engelhen nah Haufe fomme, damit es fi 
nicht erfältet — komm, Rieke — adieu, lieber Doctor !'' 

Die junge Frau hatte nın einmal in unbefiegbarer Furcht 
vor der Seuche den Verdacht gegen da3 arme Weſen gefaßt, 
daß es ſchon von der Krankheit berührt fei, und in ihrer 
Angſt, das eigene Kind davon angeſteckt zu jehen, eilte fte, jo 
rajch je ihre Füße trugen, fort, um aus defjen unmittelbarer 
Nähe zu kommen — an Doctor Forbach dachte fie Dabei 
gar nicht. 

Diefer blieb indeß in ziemlicher Verlegenheit zurüd, denn 
die Mutter fam nicht wieder, und was nun, wenn fie — ein 
plößlicher jäher Schref zudte ihm durch die Glieder — wenn 
fie gar nicht wieder fam und mit tückiſcher Vorberehnung ihn 
dazu auserjehen hatte, fi) des Kindes anzunehmen. Das 
wäre eine ſchöne Geſchichte geweſen, und jebt erft fiel ihm ihr 
verjtörtes Ausſehen, und wie fie das Kind wiederholt ges 
küßt — Schwer aufs Herz. — Er ſah nad der Uhr — es 
fehlten nur noch wenige Minuten an Zwölf. Wenn er fid) 
nun — ein verzweifelter Entſchluß reifte in ihm. Seine bis— 


64 


herige Umgebung hatte ſchon lange wieder gewechſelt — wenn 
ev das Kleine nun ganz ruhig in die Ede der einen Bank 
legte? Dort mußte fich zuletzt Jemand des Kindes annehmen, 
und er fam mit guter Manier hier aus einer jehr fatal 
werdenden Lage — die Hauptfahe, noch zur rechten Zeit zu 
Röhrichs. 

„Nein, aber beſter Doctor!“ rief da plötzlich eine Stimme, 
die, wie Forbach zu ſeinem Schrecken bemerkte, niemand 
Anderem, als dem ältlichen Fräulein Simprecht zugehörte — 
‚das ſieht ja himmliſch aus — Sie mit einem Kind auf 
dem Arme. Woher haben Sie denn. dad Kleine allerliebite 
Weſen? — Uber um Gottes willen, Sie verftehen es ja 
gar nicht zu halten!‘ | 

Ein teufliiher Gedanke zudte durch des ſonſt fo gut— 
müthigen Doctors Forbah Hirn. Cr fürdtete allerdings 
Fräulein Simprecht, das in der ganzen Stadt als ein böjer 
Drache galt, jet aber Fonnte fie ihm, wenn ed geſchickt an— 
gefangen wurde, ein rettender Engel werden, und wie ein 
Ertrinfender nah dem üblichen Strohhalm, griff er danach. 

Einmal die Angit, daß die Mutter ihm das Kind ge 
Yafjen haben könne und jebt vielleicht fchon auf der Eifenbahn 
das Meite ſuche, dann die Furcht, daß der ihm gejpielte Streich 
ftadtfundig würde, wonach bei Nöhri der Nederei natürlich 
fein Ende geweſen wäre, ebenfalls die ſpäte Stunde — gerade 
hob die Domglode aus, um die zwölfte Stunde zu ſchlagen — 
trieben ihn zum Aeußerſien. 

„Ja, mein beſtes Fräulein, ſagte er, indem er die Dame 
mit einem recht kläglichen Blick anſah — „ich — weiß aller— 
dings nicht, wie man das macht, — das Köpfchen rutſcht immer 
ſo herunter, und dann der kleine Wurm.“ 

„Aber wo iſt denn nur die Mutter? Sie müſſen es ein 
wenig hin und her wiegen, und dann biſch, biſch, biſch machen.“ 

„Die Mutter kommt den Augenblick zurück, das Kind 
ſoll eben geimpft werden — wenn Sie es nur einen Moment 
nehmen wollten!“ 

„Ich habe nicht lange Zeit,“ ſagte Fräulein Simprecht, 
„ich wollte mich mit einer Freundin hier treffen, die aber ent— 
ſetzlich lange ausbleibt.“ 


— 


65 


# 


„Ach nur einen Augenblick, damit ich auch ſehe, wie es 


gemacht wird!“ 


„Recht verſtehen thue ich es auch nicht,“ ſagte Fräulein 
Simprecht verſchämt, indem ſie das Kind aber nahm, „beſſer 
als Sie kann ich es freilich — ſehen Sie, ſo müſſen Sie es 
nehmen — hier das Köpfchen in den linken Arm, daß es 
etwas höher zu liegen kommt, und dann ſo ein wenig hin und 


ber ſchaukeln. Es wird jetzt ſchon ruhiger.‘ 


Das Kleine hatte allerdings mit Schreien aufgehört. Es 


ſah ja ein fremdes Geſicht über ſich gebeugt, von welchem außer: 


dem zwei lange Schmachtlocken niederhingen und fich bei dem 
Schaufeln ebenfalls bewegten und hin und her ſchwangen. 

„Sie verftehen das wirklich meifterhaft, rief Forbach ent= 
zückt aus, „aber die Mutter muß draußen fein — wenn Gie 
das Kleine liebe Weſen nur einen Moment halten wollten — 
ih hole fie augenblicflich herein !' 

„Aber nicht lange, rief das Fräulein ihm nad. Dod 
er hörte ſchon gar nicht mehr, was fie jagte, griff ſeinen neben 
ihm auf der Bank ftehenden Hut auf und ſchoß mie ein Wetter 
aus der Thür. "Draußen — und er athmete tief auf, als 


“er die friſche Luft um fih fühlte — warf er allerdings den 


Blick umher nad) der jungen Frau, die ihm das Kind über: 
laſſen, da er fie aber nirgends entdeden konnte, hielt er ſich 
auch feinen Moment länger auf und eilte, fo rafch er konnte, 
zu Röhrichs Hinüber, um dort mit einem Glas Coburger 
Erportbier den gehabten Schreden hinunter zu fpülen. Erſt 
in der Nähe des bekannten Haufes ging er langfamer, und 
leife vor fih Hin fagte er zu fich ſelber: 

„Julius, Julius, ich glaube faſt, du haft dich. diesmal 
mit außerordentlicher Geſchicklichkeit aus einer höchſt mißlich 
werdenden Lage herausgeſchält — aber Fräulein Simpredt, 
wird die eine Wuth auf mich befommen — aber was 
ſchadet's — gut ift fie doch feinem Menſchen, und mir trägt 
fie e8 außerdem immer noch nad, daß ich fie nicht ſchon vor 
zwanzig Jahren geheirathet Habe. Na, die wird ein Gift Haben, 
wenn die Mutter nicht wieder fommt! Das foll mir aber 
eine Warnung fein‘ — und wie ein Wiefel glitt er in das 
Haus und in das Reftaurationszimmer hinein, wo er indep kein 

5 


Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 


66 


Wort von dem eben beitandenen Abenteuer erzählte Cr war 
froh, wenn hier fein Menſch etwas davon erfuhr. 


Fräulein Aurelie Simprecht hatte dem davoneilenden Doctor 
Forbach allerdings etwas eritaunt nachgejehen, dachte aber 
niht im Entfernteiten daran, was fie übernommen und jeßt 
durchzuführen gezwungen war. Im erjten Moment fühlte 
fie fi) auch gewiſſermaßen ſtolz mit dem Kleinen allerliebiten 
Kinde, und Hatte gar nichts dagegen, daß neu eintretende 
Frauen fih um fie jammelten und da3 Kleine bewunderten. 
Es war für fie etwas Neues, und fie gab ſich dem im der 
erjten Zeit mit Bergnügen hin — aber die Mutter des Kindes 
kam nicht, und Doctor Forbach kehrte ebenfalls nicht zurüd, 
Außerdem ließ ſie ihre Freundin, auf die fie hier gewartet, im 
Stiche, und Fräulein Simpredt, die einen nicht3 weniger als 
fügjamen und geduldigen Charakter bejaß, fing an, mit jeder 
Minute mehr auf ihrer Bank umher zu rutjchen und ver- 
langende Blide nach der Thür zu werfen. Das Kleine Kind 
hatte ihr im Anfang allerdings Spaß gemadt und jih aud 
ruhig verhalten, weil es vielleicht durch die fremdartige Er- 
Iheinung ihrer neuen Wärterin überrafht und Dadurch be= 
Ichäftigt wurde, jebt aber nahm das ein Ende. Es war viel- 
leicht durjtig geworden und verlangte nach der Mutter, oder 
lag — wie die Dame mit Entjeßen fürdtete, gar — naß, 
furz es wurde unruhig und begann wenige Minuten jpäter 
einen nicht mißzuverſtehenden Hülfsjchrei, der Durch den ganzen 
Saal ſchallte und fich durch das beſchwichtigende bifch, biſch der 
neuen Wärterin nicht mehr eindämmen ließ. Es jchrie, was 
eben aus der Kehle heraus wollte, und Fräulein Simprecht 
erſchrak zuerſt und wurde dann indignirt. 

Es war vollkommen rülfihtslos von Doctor Forbad), daß 
er fie hier auf diefe Weife incommodirte. Sie Hatte ihn aus 
Sefälligfeit das Kind für einen Moment abgenommen, und er 
ließ fie jet fo lange warten. Dazu war fie nicht verpflichtet 
— wenn ihr jet das Fleine Weſen ihr neues Kleid verdarb, 
jo zahlie ihr der Doctor wahrhaftig fein andereg — und wo 


67 


außerdem die Mutter blieb! Eine Frau, die ihr Kind wollte 
impfen lafjen, mußte auch dabei bleiben und durfte nicht davon— 
laufen — es war, das Wenigite zu jagen, rückſichtslos. Und 
was hatte fie außerdem mit dem Balg zu thun? 

Fräulein Simprecht arbeitete fih nach und nad) in eine 
Gift: und Doldftimmung hinein, wozu fich ihre etwas herbe 
Natur überhaupt neigt. Das Kind fchrie jebt mit einer merk: 
würdig jtarfen Stimme, aus voller Kehle, fein Menſch be- 
kümmerte fi) dabei um fie, und nur den neugefommenen und 
umberfigenden Frauen war fie aufgefallen, und fie unterhielten 
fih zufammen. Diefen Zuftand ertrug fie natürlich nicht lange, 
und ſich an die ihr nächte Frau wendend, jagte fie: 

„oh, möchten Sie wohl die Kleine einen Augenblid nehmen ? 
Die Mutter ift Hinaudgegangen und muß glei zurüdfommen. 
Sch habe aber Feine Zeit, hier länger zu warten!’ 

Die Frau war eine Höferin aus der Stadt, mit einem 
ziemlich refoluten Geſicht und gar feiner Taille, auch eben erſt 
hereingefommen, und jah die Sprechende voll und erftaunt an. 

„Ich jol. Ihr Kind halten?“ jagte fie endlich, „ich Hab’ 
ja jelber eins.“ 

„ber es iſt mein Kind nicht, Liebe Frau,“ bemerkte 
Fräulein Simprecht, und hatte es dabei durch das „liebe Frau“ 
gründlich verdorben. 

„Und was geht das mich an,“ ſagte die Dame, „ob 
das Ihr Kind iſt oder nicht? Geben Sie es der, der es ge— 
hört — mein's iſt es auch nicht!“ 

Das Fräulein biß ſich auf die Lippen. Sie wußte aus 
Erfahrung, daß ſie ſich, ſo ſcharf ihre eigene Zunge ſein mochte, 
mit derartigen Leuten doch nicht in einen Wortkampf einlaſſen 
durfte, denn ſie hatte da ſchon verſchiedene Male den Kürzern 
gezogen. Sie nahm deshalb auch das Kleine und trug es 
nach einer andern Seite hinüber, um ſich dort ſeiner zu ent— 
ledigen — aber vergeblich. Im Nu hatte es ſich unter den 
neu eingetroffenen Frauen dieſer Klaſſe im Saal ausgeſprochen, 
daß die „vornehm aufgeputzte Dame“ das Kind „abgeben 
wolle“, und um nicht länger damit beläſtigt zu werden, wandte 
ſie ſich endlich an den Diener, der die Nummern abrief, und 
ſagte zu dieſem: | 

Ar 


68 


„Lieber Freund, eine Frau hat dies Kind hier gelaflen 
und wird gleich wieder zurückkommen. Möchten Sie wohl fo 
gut fein, e8 fo lange in Dbhut zu nehmen?” 

— ſagte der Mann und ſah ſie mit einem halb— 
pfiffigen Lächeln an, „ne, ich habe ſchon ſieben Würmer zu 
Hauſe und möchte das achte nicht dazubringen!“ 

„Aber die Mutter kommt gleich wieder, um es abzuholen!“ 

Der Mann ging auf keine weiteren Auseinanderſetzungen 
ein. „Herr du meine Güte,“ ſagte er ruhig, „ſchreit der 
Balg — der hat vielleicht eine Stecknadel verſchluckt. Sehen 
Sie ihm nur einmal in den Hals!“ — und damit drehte er 
ſich ab und ging wieder ſeinen Geſchäften nach. 

Fräulein Simprecht biß ihre Lippen feſt aufeinander, 
aber ſie war nicht geſonnen, ſich auf ſolche Art mißhandeln zu 
laſſen. Wer konnte ſie zwingen, das jetzt Zeter ſchreiende Kind, 
das ſie gar nichts anging, auf dem Arm herum zu tragen! 
Sie hatte allerdings verſprochen, es auf einen Moment zu 
hüten — und das nicht einmal, denn Doctor Forbach war 
ihr auf heimtücifche Art durchgegangen, aber damit war ihre 
Berpflihtung auch zu Ende. Sie hatte mehr zu thun, als hier 
fremde Kinder zu warten, und ohne fi) um weiter Jemanden 
zu befümmern, fchritt fie durch den Saal, um einen pafjenden 
Platz auszuſuchen, und legte dann das Kleine jchreiende Kind, 
jo gut es eben gehen wollte, in eine Ede nieder. 

Wenn fie aber dabei glaubte, daß das unbemerkt geſchah, 
jo irrte fie ih. Möglich auch, dag fie ih gar nicht darum 
fümmerte, denn was ging ſie das Kind an, aber die anderen 
Frauen waren da entjehieden anderer Anfitht, und während fie 
ihr aufmerffam mit den Bliden folgten, jahen fie faum, daß 
fie das Kind auf die Erde legte und dann der Thür zueilte, 
als ein paar von ihnen mit einem ordentlihen Wuthſchrei 
emporiprangen und ihr naceilten. 

„Halt’t fiel’ fchrieen fie dabei — „halt't fie! die will 
hier ein Kind im Stich laſſen — halt’t fie! Halt! 

Fräulein Simprecht, die den Ruf hören mußte, warf einen 
Zornblick Hinter fi, ließ fich aber Dadurch nicht aufhalten und 
wollte eben zur Thür hinausfahren, als der dort ſtationirte 


69 


PVolizeidiener, der auch ſchon den Halteruf gehört Hakte, ihr 
entgegentrat und frug, was es da gebe. 

„Das Frauenzimmer,” rief die Eine der fie Verfolgen: 
den, „hat da eben im Saal ihr Kind in die Ede gelegt und 
will fich jett aus dem Staube mahen. Laſſen Sie fie nit 
fort — der arme Wurm geht ja da zu Grunde, und fchreit 
Thon jebt, als ob er am Spieße ſtäke!“ 

„Was?“ ſagte der Polizeidiener in moralifcher Ent: 
rüftung — „ihr Kind?” 

„Die Perſon ift verrückt!“ rief aber Fräulein Simpredt 
zornig aus. — „Es it das Kind einer fremden Frau, die e8 
bier gelajjen Hat und zu lange wegbleibt — was geht das 
mid an!’ 

„Ste bat es die ganze Zeit auf dem Arm herumgetragen,‘ 
rief die Höferin, „und mid wollte fie auch ſchon dran 
friegen, daß ich es halten jollte, aber die Art fennen wir. 
Ausfneifen, nicht wahr — pfut, in Ihre Seele hinein follten 
Sie fih was ſchämen!“ 

„Vor Ihnen aber noch lange nicht,‘ rief das eben auch 
nicht janfte Fräulein Simpredt in auffochendem Zorn. ‚Das 
Kind kenn' ich nicht und es geht mich nichts an. Laſſen Sie 
den Weg frei, Herr Polizeidiener, oder ich gehe den Augenblick 
zum Herrn Bolizeidirector !'’ 

„Da bring’ ich Sie felber hin,’ lachte der Mann vergnügt, 
„Deshalb mahen Sie fich feine Sorgen. Jetzt jeien Sie 
nur jo gut und nehmen Sie das arme kleine Ding wieder 
auf, denn es fchreit ſich ja jonft den Hals ab.’ 

„Und was kümmert das mich?” rief Fräulein Simpredt 
erboft. „Ich habe es aus Gefälligkeit Herrn Doctor Forbach 
abgenommen, der behauptete, es von einer Frau befommen 
zu haben,’ 

„Aha — von Doctor Forbach!“ rief die Höferin — 
„und wie klug, legt e8 hier in den Saal, weil fte hofft, daß 
fih ſchon Jemand des unglüdlihen Weſens annehmen wird. 
Sp eine Rabenmutter !‘ 

Dem Fräulein wurde e3 zu bunt, und mit Gewalt wollte 
fie ſich in's Freie drängen, aber da fühlte fich der PVolizeidiener 
in jeiner Würde gefränft. 


70 


„Na,“ ſagte er, indem er ihr voll in den Weg trat — 
„damit iſt's nun einmal nichts — ſo kommen Sie nicht fort, 
und wenn Sie ein gutes Gewiſſen hätten, ſo ſcheuten Sie ſich 
nicht, mit auf die Polizei zu gehen. Wenn Sie das Kind 
mit hergebracht haben, ſo müſſen Sie's auch wieder mit fort— 
nehmen. — Hier iſt kein Findelhaus!“ 

„Oho, ich habe es ja gar nicht mit hergebracht!“ ſchrie 
die Dame, der ſchon vor Zorn die Thränen in die Augen 
traten. 

„Und was wollten Sie ſonſt hier?“ 

„Eine Freundin treffen.“ 


„Ja, das kann Jeder ſagen,“ lachte der Mann des Ge— 
ſetzes — „ne, mein liebes Madamchen, das hilft Ihnen Alles 
nichts — nehmen Sie nur das Kleine und kommen Sie mit 
auf die Polizei!“ 

„Aber Sie müſſen mich ja doch kennen!“ rief da Fräulein 
Simprecht in voller Verzweiflung aus, denn jetzt überkam ſie 
zum erſten Mal die Angſt, daß ſie am Ende gar mit dem 
Kind über die Straße transportirt werden ſollte — oh, 
dieſer unſelige Doctor Forbach — „mein Name iſt Simprecht, 
Aurelie Simprecht, mein Vater iſt der Commerzienrath 
Simprecht an der hohen Brücke, mein Bruder iſt Kanzleirath 
Simprecht —“ 

„Und Ihr Schwager der König, nicht wahr? weiter fehlte 
jetzt gar nichts mehr,“ rief der Polizeidiener entrüſtet aus, 
indem er ſich von der vermeintlichen Delinquentin abdrehte — 
„wo iſt das Kind! na? es hat doch eben noch da gelegen — 
wo iſt es denn jetzt hin?“ 

„Was denn für ein Kind?“ ſagte eine Frau, die eben 
erſt auch mit einem Säugling auf dem Arm eingetreten war 
und noch gar nicht wußte, was der Lärm bedeutete. 

„Das Kind, was da auf der Erde lag.“ 

„In ſo weißen, hübſchen Windeln?“ 

„Ja, ganz recht — haben Sie etwas davon geſehen?“ 

„Ja, was ſoll denn aber mit dem Kinde ſein?“ ſagte die 
junge Frau verwundert — „ſeine Mutter hat es mit fort— 
genommen — die Frau Paulmann — ihr Mann iſt Photograph. 


71 


Es wurde ihr vorhin fchlecht hier oben, jo ſchwindlig, und fie 
ließ das Kind hier, weil fie fürdhtete, daß es ihr am Ende 
aus den Händen glitte. Nebenan bei und wurde fie aud 
richtig ohnmächtig und Fonnte und nicht einmal gleich jagen, 
wo das arme Kleine Ding war. Jetzt hat ſie's wieder und ift 
damit nach Haufe gegangen, weil fie fich heute zu ſchwach fühlte, 
um bier länger zu warten.‘ 

„Hm,“ jagte der Polizeidiener, doch etwas verblüfft — 
„das it ja merfwürdig — kennen Sie die Madame hier?’ 

„Fräulein Simpreht? — gewiß, die Tochter des Herrn 
Commerzienraths Simpredt — 

„Und die augenblidlih zum PBolizeidirector fahren wird, 
um Ihr tölpelhaftes Benehmen anzuzeigen,‘ rief aber die be- 
treffende Dame empört und raufchte mit ordentlih Funken 
Iprühenden Bliden zur Thür hinaus, 


4. 


Der Polizeidiener machte, als fie den Saal verlafjen hatte, 
allerdings ein etwas jehr verdußtes Geficht, denn er wußte jebt 
gut genug, welche Naſe ihm von oben bevorjtand. Daß er 
in feinem vollen Rechte geweſen, kam dabei natürlich nicht in 
Betracht, aber Fräulein Simprecht dachte vor der Hand noch 
gar nicht daran, Genugthuung für die von dem Polizeibeamten 
erlittene Behandlung zu fordern, denn ihr ganzer Haß und 
Ingrimm wandte fih in dieſem Augenblik gegen den eigent- 
. lichen Urheber jener Scene, den Doctor Julius Forbach, und 
würde ſich noch mehr geiteigert Haben, wenn fie ihn in dieſem 
Augenblid gejehen hätte, wie er in aller Gemüthlichkeit bei 
Röhrichs in der Gaſtſtube und vor einem Glas pradtoollen 
Bieres ſaß, das er gerade gegen das Licht hielt und fi an 
feinem Glanz erfreute. 

Neue Säfte traten ein. — „Habt Ihr's Thon gehört?“ 
tief der Eine von ihnen, indem er feinen Hut über einen 


72. 
Nagel und ſich jelbit auf einen leeren Stuhl neben Forbach 


warf — „eben eine famofe Gefhichte in der alten Waage 
paflirt, wo die Kinder heute geimpft werden —“ 
„So? — mas denn?! es von allen Seiten, und 


Forbach ſah ſich überraſcht nach ſeinem neuen Nachbar um. 

„Oh,“ lachte dieſer, „nichts weiter, als daß eine Frau 
bei dieſer günſtigen Gelegenheit ihr Kind los zu werden hoffte, 
es ruhig in eine Ecke auf die Erde legte und ſich dann eben 
aus dem Staube machte, als ſie noch glücklich von der Polizei 
erwiſcht wurde.“ 

„Alle Wetter!“ rief ein Anderer, „ſo eine Rabenmutter!“ 

„Sie leugnete auch ganz frech, daß es das ihre ſei,“ fuhr 
der Erzähler fort, „aber es half ihr nichts, und ſie wird wohl 
ein paar Monate Arbeitshaus bekommen.“ 

Noch ein neuer Gaſt trat ein, der das Letzte gehört hatte. 

„And willen Sie denn, wer die vermeintlihe Mutter war?’ 
rief diefer, während er fich ebenfalls einen Stuhl herbeiholte, 

„Mein, jagte der Erzähler, „ich hörte es nur eben unten 
auf der Straße, als ich hierher ging.” 

„Fräulein Aurelie Simpredt.‘ 


Ein rafendes Gelächter brah in der ganzen Stube aus, 
denn jene Dame war eine zu befannte Perjönlichkeit in der 
Stadt, und das Abjurde traf deshalb in’s Centrum. Nur 
Forbach lachte nicht mit, denn er befam für fich einen Privat- 
Ihred. Jedenfalls war die Dame in eine höchſt unangenehme 
Berwidelung, und nur durch feine Schuld gerathen, und welch” 
böfe Zunge fie hatte, wußte jedes Kind in Buntlah — und 
er jelber aus Erfahrung. Aber an der Sache war vor der 
Hand nichts zu thun, und er jelber nur froh, daß er hier 
nicht mit genannt worden. Das Bier jchmedte ihn aber doc 
nicht mehr und — er fühlte ſich aud, nah den eben gemachten 
Erfahrungen, nicht mehr jo ganz fiher. Cr jtand deshalb in 
dem allgemeinen Lärm und Lachen auf — fonderbarer Weife 
fühlte er gar fein Bedürfniß, jetzt die näheren Einzelnheiten zu 
hören — zahlte fein Bier, griff feinen Hut auf und wollte daß 
Local eben verlaflen, als ein anderer gerade eintreffender Stamm: 
gaſt ihn laut anrief: 





73 


„Halo, Forbach — wollen Sie wieder auf die alte Waage 
und Kinder tragen ? Famoje Beihäftigung für einen alten Jung- 
gejelen — maden Sie nur, daß Sie hinfommen — Heillojer 
Lärm dort — die Leute jagen,. dag Sie ausgefniffen wären 
und Ihr Kind im Stich gelafjen Hätten!‘ 

„Unſinn!“ rief aber der Doctor gereizt — „ganz Bunk- 
lad jcheint verrüdt geworden zu fein,” und ohne fich weiter 


aufhalten zu lafjen, jtürmte er aus der Thür. 


An dem Tage liefen die nur denkbar tolliten Gerüchte durch 
Buntlad, und Doctor Forbach's und Fräulein Simprecht's 
Namen wurden dabei bejonders in den aufßergewöhnlichiten 
Combinationen genannt, ja ein boshafter Buntzlacher ſchickte — 
natürlich anonym, aber mit den beigefügten Injertionsgebühren, 
eine Berlobungsanzeige der beiden PBerjönlichkeiten ein, die 
um ein Haar dur den Factor aufgenommen worden wäre. 
Glücklicher Weiſe entdeckte die Redaction noch zu rechter Zeit 
den Namensmißbrauch und beugte dadurch einem heillojen 
Skandal vor. 

Und woher rührten alle dieſe traurigen und in nidts 
begründeten Mißverſtändniſſe? Einzig und allein von Doctor 
Sulius Forbach's Angewohnheit, jeine Zeit pünktlich am Stamm— 
tiſch bei Röhrichs einzuhalten und dort jein Glas Bier vor 
Tiſch zu trinken. Er hatte eben um die Zeit feine Zeit, und 
Fräulein Simpredt war in ihrer Engelönatur die Unjchuldige 
gemwejen, die dafür büßen mußte. 

Ein paar Tage jah fie auch der Doctor nit und — 
war vielleicht jelber daran ſchuld, denn er hielt fich ängitlich 
von allen jenen Drten fern, an welchen er ihr möglicher Weiſe 
hätte begegnen fönnen. Am vierten Tage traf er fie zufällig 
auf der Straße, und zwar auf eine Weife, daß er nicht mehr 
im Stande war, ihr auszumeichen. 

Hohadtungsvoll grüßte er auch, und z0g den Hut viel 
tiefer vor ihr ab, als es jonft feine Gewohnheit war — aber 
e3 Half ihm nichts. 


74 


„Scheuſal!“ murmelte die Dame wohl halblaut nur, aber 
doch verftändlih genug vor fi Hin, warf den Kopf, ohne 
den Gruß zu erwidern, hoch und weit zurüd, und raufchte 
dann ſtolz, wie ein mächtiges Kriegsſchiff an einen Kleinen er- 
bärmlihen Kauffahrtei-Schuner, vorüber. — Doctor Julius 
Forbach war aus der Lifte der Eriftirenden geftrichen. 


Die Schweſtern. 





1. 
Auf dem Anftand. 


Es war ein wunderbar ſchöner Auguftmorgen; der ganze 
Wald duftete. Eben ftieg über die Wipfel des nächſten 
Höhenzugs jener lichte Roſaſchein empor, der dag Nahen der 
Sonne fündet, und wie mit Perlen überftreut lag eine kleine 
ſchmale Waldwieje, die fich aber jcharf in das Thal ſenkte, 
und dur) weldhe ein Elarer, murmelnder Forellenbach feine, 
durch den Porphyr-Untergrund wie bräunlich gefärbte Kryſtall— 
fluth hinabriefelte. DBegrenzt aber wurde die Wiefe auf der 
einen Seite durch einen prachtvollen hochſtämmigen Buchen- 
wald, während auf der andern eine jogenannte, etwa zehn- 
jährige Didung von Nadelholz, in der nur einzelne alte und 
fnorrige Eichen ſtanden, die öftliche Einfafjung bildete. 

Und wie das in den Büfchen und Zweigen lebte und 
zwitſcherte, wie das herüber und hinüber flog! Da droben 
auf dem einen Buchenwipfel girrte ein wilder Tauber, dem 
von gegenüber ein Nußhäher ſpottend antwortete; die Finten 
ſchlugen, die Droſſel flötete dazwiſchen, und etwas. weiter oben 
äſte fich ein ſchlankes Reh mit feinem Kit und warf jetzt nur 
mandmal wie ſcheu den fehönen Kopf empor, als “N ed eine 
aeg wittere oder fürchte. 

Gefahr? — armes Gefchöpf, deine ſcharfen ine würden 
Dich nicht gefhütt haben, als du ahnungslos mit der Mor— 


76 


gendämmerung den Plab beirateft, denn in dem Schub der 
Dikung, kaum Hundertfünfzig Schritt von dir entfernt, lauerte 
wohl verjtedt ein Jäger und Hätte dich mit feiner fihern Kugel 
ſchon längſt erreichen können, wenn e8 nicht eben ein ächter 
Waidmann geweſen wäre, der nicht daran dachte, Mutterwild 
zu erlegen. 

In einem forgfältig ausgefchlagenen Gebüfh, das ihm 
freie Bewegung geftattete und ihn doch vollitändig auch gegen 
da3 ſcharfe Auge eines Wildes dedte, jtand ein junger Mann 
in einer grauen Joppe mit grünem Kragen, einen runden 
Sagdhut auf, der zwei Spielhahnfedern trug, während ein 
Paar fein gegerbte, aber derbe Nagditiefel den untern Theil 
des Deines dedten. 

Wohl Hatte er hier jchon fat feit einer halben Stunde 
den Bewegungen des Rehes und dem muntern Spielen des 
Rehkitzes zugeſchaut und fi) daran erfreut; aber fein Blick 
jchweifte doch oft rafh und forfhend darüber Hin, denn er 
wartete hier auf anderes und edleres Wild. 

Gerade über diefe Schmale Waldwieſe wechſelte jeden Morgen 
etwa um die nämliche Zeit ein ſehr ftarfer Hirfch, dem er ſchon 
lange nachgeſpürt, ja ihn auch einige Mal felbit gefehen hatte, 
ohne je im Stande zu jein, ihn zum Schuß zu bekommen. 
Heute wollte er es deshalb mit dem frühen Anjtand verſuchen, 
und einen günftigeren Morgen fonnte er fi) dazu nicht denken. 
Eben von dort her, wo der Hirfch jedesmal aus der Ede 
des Buchenwaldes trat und dann fchräg hindurch nad der 
Dickung herüber ſchritt, drang der ſchwache Luftzug, die Wit— 
terung konnte er deshalb nicht von ihm befommen, und von 
hier aus bejtrich er dabei, ſeines Schufjes ficher, den ganzen 
offenen Grund. Dazu der. herrliche Morgen, die ſtets mehr 
geipannte Erwartung, der duftende Wald, ja das Reh jelbit, 
das jo vertraut dort auf und ab ſuchte. — Da hob dieſes 
wieder ſcheu den ſchönen Kopf mit den Mugen Augen, ſtieß 
dann einen Teilen, faft zirpenden Ton aus und wandte ſich 
wie durch irgend etwas verfcheucht und von dem Kit dicht 
gefolgt der Dickung zu, in der es gleich darauf verihwand. 

War das der Hirfch, den das Reh vielleicht nahen gehört? 
Der junge Schüte fühlte, wie ihm das Herz fait hörbar im 


77 


der Bruft ſchlug, und wenn er auch wahrlid Fein Neuling 
auf der Jagd war, jo war der Moment doch ganz danad) 
angetdan, ihn aufzuregen und in fieberhafte Spannung zu 
verjeben. 

Da rafjelte oben etwas in den Büſchen: im Nu Hatte 
er die Büchfe herauf, den Hahn geipannt, den Finger am 
Steher — trodene Zweige Inadten, das Laub raſchelte, und: 

„Sreudvoll und leidvoll, gedantenvoll fein, 
Hangen und Bangen in jchwebender Bein, 
Himmelaufjauchzend, zum Tode betrübt, 
Glücklich allein ift die Seele, die liebt“ 
ſchmetterte eine helle Stimme wie jubelnd durch den morgen: 
stillen Wald. 

Drüben im Buchenwald wurde es laut — dort zwifchen 
den einzelnen Stämmen dur), aber jo weit entfernt, daß er 
die lichte Geltalt dann und wann auf Momente erfafjen 
konnte, ging in voller Flucht der jtarfe Hirſch — fein Hirld), 
wie er jchon feſt geglaubt — aufgefcheucht durch das Unter: 
ho. Ein Schuß dahin konnte feinen Erfolg haben, und 
plößlih wie in den Boden hinein verfunfen war auch der 
Hirſch, der eine Shluht angenommen Hatte, um jeine 
ſchützende Didung weiter unten zu gewinnen, und damit ſpurlos 
verihmunden. 

Der junge Schübe gehörte, wie auch Schon das feine Tuch 
jeiner ſonſt einfachen Jagdkleidung bezeigte, jedenfalls der 
Höhern und gebildeten Gejelihaft an, aber — 

„Jauchzend begrüß’ ih das Blumengefild, 
Subelnd die Thäler in Nebel gehüllt. 


Ueber die Sterne und weiter hinaus 
Breiten Die Arme der Liebe ſich aus“ 


fang wieder, jest näher kommend und falt laut aufjauchzend 
die Stimme, und: „Ci jo wollt’ ich denn doch, daß ein heiliges 
Kreuz Donnermwetter den verdammten Berliner in den Erd» 
boden hineinſchlüge!“ knurrte der Schüße in den Bart, als 
er den Hahn jeiner Doppelbüchſe in Ruhe jeßte und einen 
zornigen Bli oben nad der kleinen Wiefe warf, wo eben ein 
ſorgloſes, glückliches Menſchenkind in's Freie trat, einen 
Moment die wunderſchöne, herrliche Welt vor ſich, da ihm 


78 


dort gerade ein freier Blid über den Wald und das tiefer 
gelegene Land vergönnt war, überfchaute und dann plöklich, 
ohne die geringite äußere Deranlafjung, aus freier Hand einen 
Purzelbaum mitten auf der Wieſe ſchlug. 

„Denn der Manſch nicht verrüdt iſt,“ murmelte der fo 
arg geſtörte Schübe vor fich Hin, „So weiß ich's nidt. Ob 
der nur herausgefommen ift, um hier mit Sonnenaufgang 
auf der naſſen Wieje gymmaftifche Uebungen zu machen? Daß 
ihn der Henker hole, und ſolches Volk, das in ein Irrenhaus 
ftatt in den Wald gehört, laſſen fie frei hier draußen herum— 
laufen!‘ 

Der junge Fremde indefjen, der vollfommen ſtädtiſch und 
jogar elegant gekleidet war, ja auch Lackſtiefeln trug, die aber 
in dem ftarfen Thau nicht recht zur Geltung kommen konnten, 
blieb noch) einen Moment da oben wie in fchmweigender Be— 
wunderung jtehen und eilte dann, aus voller Bruſt wieder 
fingend, in Luft und Jubel am Rande der Wiefe abwärts, wo 
er die Stelle, auf welcher der Schüße ftand, unmittelbar 
palfiren mußte. 

„Dürfte ich Sie fragen,’ fragte da dieſer, al der Fremde, 
ohne ihn bis jebt geiehen zu haben, dicht an ihn heran— 
gekommen war und jebt, bei der lauten unerwarteten Stimme 
diht an feiner Seite, ordentlih zufammenfuhr, „was Gie 
bier zu jo früher Stunde im Walde zu fuchen Haben und 
weshalb Sie einen fo heillofen Spectafel machen?‘ 

„Alle Wetter, haben Ste mich erſchreckt!“ rief der junge 
Mann, indem er zur Seite fuhr und unmillfürlih, nicht etwa 
nad) einer verborgenen Waffe, fondern nach feinem Augen: 
glas griff. Er trug ed an einer Schnur um den Hals, und 
im nächſten Moment jaß es ihm mit einem gejfhidten Drud 
auf jeiner Naſe. | 

„Wie ift mir denn?’ brach aber der Schüße ab, indem 
er ihn ſcharf betrachtete, „jab' ich denn nicht ſchon —?“ 

‚Kurt! rief auch jeßt der junge Fremde, der den fo plöß- 
lich Aufgetauchten für einen Moment durch fen Glas 
firirte — „biſt Du’s denn, oder bit Du's nicht?’ 

„Alfred, bei Allem, was da lebt — nun, da hätte ich 
eher de8 Himmels Einfturz vermuthet, als Dich hier in dieſen 


79 


Bergen und beim Morgengrauen anzutreffen, wo Du fonft ge 
wöhnlih noh um acht Uhr in den Federn lagſt. Uebrigens 
haft Du mir meine ganze Jagd verdorben und einen Capital- 
hirfch verfcheucht, der mir fiber zu Schuß gekommen wäre. 
Weshalb um Gottes willen mußt Du denn Deine Erklärung, 
dag allein eine verliebte Seele glücklich ſei, Morgens mit 
Sonnenaufgang in Mufif gejebt in den Wald hinausſchreien? 
Das verträgt das Wild nicht!’ 

„Aber, befter Freund,“ jagte Alfred, „was kann ich dafür, 
wenn die Biecher nicht mufikalifch find!’ 

„Verſtehſt Du unter den „Biechern‘’ die Hirſche?“ Tächelte 
der Schübe, 

„Run gewiß!’ nidie der junge Mann, „aber ich ſage 
Dir, Kurt," fuhr er dann lebhaft fort, indem er Kurt's Arm 
ergriff und ihn erregt drüdte, „ich jage Dir, Du fiehit hier 
den Glücklichſten der Sterblichen vor Dir, den e8 gegenwärtig 
auf der Erde giebt. Mir ift das Herz jo voll Seligfeit, daß 
ic meine Wonne nur in einem fort in den Wald Hinein- 
jauchzen möchte,‘ 

„Sehr angenehn dad — ich habe eine Probe davon be— 
kommen!“ 


„Ich weiß mir gar keinen Rath mehr!“ fuhr der noch 
blutjunge, aber hübſche und ſchlank aufgeſchoſſene junge Mann 
mit leuchtenden Augen fort, „und wie ich da oben auf den 
offenen Hang kam und das weite herrliche Land in dieſer faſt 
wunderbaren Beleuchtung vor mir ausgebreitet ſah, wußte ich 
meiner überſchwänglichen Wonne in keiner andern Weiſe Luft 
zu machen, als daß ich — Du wirſt mich auslachen — einen 
Purzelbaum ſchlug.“ 

„Ich habe Dich ſchon ausgelacht,“ ſagte der junge 
Schütze trocken, „denn ich war Zeuge Deiner allerdings etwas 
wunderlichen Gefühlsäußerung — aber was — wenn man 
eigentlich fragen darf, macht Dich denn fo übermäßig glücklich, 
dag Du damit die ganze Nachbarſchaft in Alarm bringit? 
Wirklich die Liebe? — Kennſt Du, bei Deinen muſikaliſchen 
Talenten, nicht die alte Lehre in dem alten Liede: „Treu ges 
Tiebt und till gefchwiegen, wahre Liebe fpricht nicht viel“? 


80 


Du hätteſt Dich dabei eben ſo glücklich fühlen können und 
mir — die Jagd nicht verdorben.“ 

„hut mir wirklich leid," ſagte Alfred gutmüthig, „aber 
ich hatte wirklich Feine Ahnung, Dich hier Hinter einem Buſch 
zu finden. Doch Du follit Alles wiſſen, denn ich bin über: 
zeugt, daß Du Theil an meinem Glück nimmft, — nur jet 
nicht,‘ brach er rüdfihtsvoll ab, „denn ih möchte Dih nicht 
gern länger in Deiner Jagd ſtören und werde Dich deshalb 
allein laſſen.“ 

„And glaubit Du,’ lachte Kurt, „daß ich jebt, nachdem 
Du die ganze Nahbarichaft auf wenigſtens eine halbe Stunde 
im Umkreis alarmirt haft, noch hier an diefer Stelle zum 
Schuß füme? — Nein,’ jebte er hinzu, indem er völlig aus 
dem Tannengebüſch heraustrat und feine Büchſe vefignirt über 
die linfe Schulter hing, „heute iſt's damit vorbei, und ich 
bitte Di) nur dringend, bei einem längeren Aufenthalte hier 
Deine etwas lauten Morgenipaziergänge nicht wieder nad) 
diefer Richtung her auszudehnen. Wohin gehit Du jebt?" 

„In das Dorf zurüd. Du wirft aud nit mehr durch 
mid) beläftigt werden, Kurt, denn ich reife ſchon morgen ab, 
ihr nad.‘ 

„Alſo doch eine fie, lächelte Kurt, „nun das konnte ich 
denken; aber dann begleite ich Dich jedenfalls jest, und unter- 
wegs ſchilderſt Du mir fie.‘ 

‚ber dann dürfen wir wohl nur leife ſprechen,“ warf. 

Alfred ſchüchtern ein. 

„ein, lachte Kurt, „Du brauchit heute Morgen Deinen 
Gefühlen feinen Zwang mehr anzuthun, denn jeden Schaden, 
den Du anrichten Fonnteft, haft Du angerichtet — und nun 
jage mir, fuhr er fort, ald er feinen Arm in den feines weit 
jüngeren Freundes legte und mit ihm rechts in eine Schneufe 
einbog, die einen nicht gerade näheren, doch bequemeren Weg 
nach dem Dorfe zu heritellte, „ſage mir, was Dich heute jo 
glüflih gemacht Hat, denn bisher habe ih Dich immer, trob 
Deiner Jugend, zu den jogenannten Dlafirten gezählt, da Du, 
obgleih noh jo jung, ſchon nicht mehr tanzen wollteft und 
das ganze weiblihe Geſchlecht gewiſſermaßen unter den Bann 
der Herzlofigfeit thateſt.“ 














eg von Hermann. Coſtenoble in 3 


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„Das Werk ift ein. Seitenftüd zu Tihupt’ 5 Stehen — Alpenweln 
N verdient: jeinen Pla neben diefem Metiterwerfe in dem Bücherſchrein eines ‚jeden Natur: 
DE, freundes. Die Schtlverungen des Verfafjers find außerordentlich lebendig und mit: Geſchmack 
en 3 und Sahfunde durchgeführt; nur bier und da vielleicht etwas zu idmwungvolt, mwenigitens 
für Den, der die zu allen Ueberſchwenglichkeiten der Naturbegeifterung hinreißende, un⸗ 
nennbare Pracht der Alpenwelt noch nicht jelbjt geihaut hat.’ 
Nopmäßler, Aus der Heimath. — 
„Noch ehe wir dieſes niederſchreiben, wird Berlepſch“ ſchönes Wert in ande N 
Leſer die Erinnerung an den Genuß, den ihm einjt die Wanderung durch die Alpen 
‚gewährte, wohltuend aufgeftiiht, in vielen anderen die Sehnſucht nach eigener Anz 
ſchauung jener herrlichen, großartigen Gebirgswelt erweckt haben. Mit Hingebender _ 
Liebe für die Alpen-Natur, die er mit gründlicer Kenntniß beichveibt, führt der Vers 
faſſer eine lange Reihe einzelner Bilder . in anztehender poetijcher und allgemein vers 
 ftämdlicher Sprache vor, u. j.w. — Zog uns ſchon das Wort, die lebensvolle Schilderung 
ae: bisweilen unvermerkt in die Alpen hinüber, als erlebten und fähen mir all’ das Liebliche 
RN. und Schone, das Schreckensvolle und Erhabene, ſo wird dieje Wirkung. ‚no erhöht 
0 0 dur die wahrhaft künſtleriſchen Slluftrationen; feltert haben wir in derartigen - 
— Werken jo. genial gezeichnete und durch) Holaj fo vorzüglich wiedergegebene Bilder - 
; angetroffen.‘ « determannes Mittheilungen. 
Dieſes treffliche Bud e fehr anziehende Schilderungen der Alpen und nament⸗ 
li Bewohner. Wer die Schweiz und Tyrol kenunt, oder wer ſie kennen lernen 
u m m entpfehlen wir, um zum Berjtändniß feiner Reifegemüffe, aljo zum doppelten 
— Genufle zu. gelangen, Berlepjd Buch auf das angelegentlichite. Der Verfafier ijt in den 

















































an 


— Naturwiſſenſchaften, namentlich in der Geologie zu Haufe, und weiß uns vortrefflich das 
Charakteriftiihe dev Alpenlandihaften und ihre äjthetifchen Wirkungen nad dem großen 
ER ‚Naturgefegen zu erflären; er eröffnet uns gleichjam das geologiſche a des er 
Erhabenen oder Schönen, den naturhiſtoriſchen Sinn der Formen und ihrer Wechſel.“ 

Das Ausland, 


Das Buch kann nicht een in Ber — ſelbſt, wie in Deutſchland die — 
lichſte! Aufnahme zu finden. Glänzend ausgeftattet, bildet es ein Seitenſtück zu 
Tihudi's jo auperordentlich verbreiteten „Shterleben der Alpenwelt”, nur daß 
im angezeigten Werke der HauptsAccent neben der auf das Reben und 
Treiben der Ulpenmenjchen gelegt ift. Der Herr Berfafier, ſeit Jahren auf dem Gebiet 
alpintiher Topographie Ba Ethnographie heimiſch und arbeitend, hat bie Natur und 
das Menſchenlehen überall aus eigener Anſchauung geſchildert. Daher der Realismus in 
der ganzen Neihenfolge der Bilder, welche jein Buch vor den Blicken des Leſers entrollt. 

Sein Vortrag iſt belebt, jein Styl befit jene — che Anſchaulichkeit, welche dem größeren 
Publikum jo jehr zufagt, und durchgängig zeigt feine Darjtellung jene anregende Wärme, 
‚welche aus der Theilnahme, ja Begeifterung des Autors für feinen Gegenftand entjpringt. 

DR Ein richtiger Takt leitet auch die Auswahl und en des Materials. Mir. danken 

2) dem. Bee er, daß er Si zu halten verſtand.“ a Züricher a 


# a un 














22788 
— ö 
Bam a 81 


IR bitte ab, Kurt, bei Gott, ich Bitte ab!“ rief Alfred, 
nicht ohne einigen Pathos. „‚Ehret die Frauen! fie flechten 
und mweben himmlische Dornen in's irdiſche — ‚ nein, ich bin 
confus geworden. Kurt, nimm. mir’3 nicht übel, aber ich 
weiß in diefem Augenblid wahrhaftig nicht, wo mir der Kopf 
jteht, denn ich fühle mich. zu glüdlich, zu unfagbar glücklich!“ 

„Schön,“ erwiderte Kurt, „dann thu’ mir nur den ein- 
zigen Gefallen und fei nicht langweilig, fondern erzähle mir 
mit furzen einfahen Worten und ohne alle überſchwänglichen 
"Redensarten, wa3 Du haft, und wer im Stande gemefen ift, 
Did in eine jo fabelhafte Ertafe zu verfeben, — wer nämlich 
die Sie ift, von der Du ſchwärmſt und wegen der Du 
Purzelbäume Morgen? mit Sonnenaufgang und fogar noch 
vor dem Kaffee mitten im Walde ſchlägſt. u 

„Du bift ein ſchrecklich proſaiſcher Menſch, Kurt, er- 
widerte Alfred, „eigentlich noch viel proſaiſcher, als wofür ich 
Dich bis jetzt gehalten, aber das ſoll mich nicht abhalten, 
Dir mein ganzes Her auszufchütten, und zwar weniger 
Deinet-, als meinetwegen, denn ich fühle das innige Bedürfniß, 
nic) außzufprechen, und dies war auch die Urjacde, weshalb 
ih es Heute jo mit jubelnden Herzen dem Wald in Die 
Wipfel ſang.“ 

„Ich wollte, wir hätten uns geſtern ſchon geſprochen,“ 
bemerkte Kurt trocken. 

„So Höre denn,“ fuhr Alfred fort, ohne die etwas doppel— 
finnige Bemerkung zu verftehen, oder wenigftend, ohne darauf 
einzugehen, „Du weißt, daß id mich dem weiblichen Geſchlecht 
bis jetzt ziemlich fern gehalten habe?“ 
Du biſt zwanzig Jahre alt, nicht wahr?“ N 
: „Geweſen — ja, erwiderte Alfred, „ich hielt die — 
für falſch — für kokett — id — war ſchon verſchiedene 
Male enttäuſcht worden.“ 

„Du kannſt dabei keine Zeit verſäumt haben —“ 
| „Ich bin jetzt bekehrt!“ rief der junge Mann, ſo mit 
ſeinen eigenen Gefühlen beſchäftigt, daß er den Einwurf gar 
nicht beachtete. „Ich habe ein Weſen gefunden — Kurt, ich 
ſage Dir, ein Weſen, das dieſer Erde gar nicht anzugehören, 
ſondern den überirdiſchen — entſtiegen zu ſein ſcheint.“ 

Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛ 6 


82 


„Natürlich,“ nidte Kurt lächelnd vor fih Hin. 

„Lache nicht,” rief aber Alfred gekränkt, ‚wenn Du fie 
gejehen hätteft, würdeft Du mir in jeder Silbe beiftimmen 
und vielleicht eben jo bewegt und ergriffen darüber fein, als 
ich ſelber.“ | 

„Und wo haft Du diefes Wunder gefunden ?' 

„Hier im Walde!” rief der junge Mann erregt; „vente 
Dir nur, es find jebt etwa fünf Tage, als ih, von dem 
Heinen Forellendah von Ludmwigsroda aus hinaufgehend und 
meinen eigenen Träumen nahhängend, einen tiefichattigen 
Bergkefjel erreihe, in dem der Bach eine fcharfe Biegung 
macht, und hier plöblih ein Weſen vor mir jehe, das nichts 
Irdiſches an fich hatte und nur aus Blüthenduft und Sonnen- 
ſtrahl gewoben ſchien.“ 

„Alfred,“ ſagte Kurt lächelnd, „thu' mir den Gefallen 
und ſprich — ſo weit Dir das irgend möglich iſt, wie ein 
vernünftiger Menſch. Denke Dir einmal ein Weſen aus 
Blüthenduft und Sonnenſtrahl gewoben! Was iſt das? — 
ein heißer und dadurch unangenehmer Blumengeruch; ich kann 
mir darunter kein überirdiſches Weſen denken.“ 

„Weil Du ein kalter, calculirender und proſaiſcher Menſch 
biſt!“ rief Alfred heftig aus; „aber Du ſollſt mich nicht 
außer Faſſung bringen und die genaue Schilderung jenes 
Engels hören. Sie trug ein hellblaues, mit kleinen roſa 
Blümchen überſtreutes Barègekleid, um den zarten Hals einen 
‚weißen dünnen Shawl von chinefiihem Erepe, einen eben- 
folden, wenigftend weißen Gürtel mit einem emaillirten Knopf 
als Schnalle, eine Korallenſchnur um den weißen Naden und 
ebenjolche Armbänder, und die zierlichften braun ladirten Saffian— 
ſchuhe, die fih ein Menfh nur denken kann.“ | 

„un, für eine erfte Begegnung mit der Geliebten,‘ lächelte 
Kurt, „Haft Du Dir ihr Aeußeres ziemlich genau gemerkt. Ich 
fürchte faſt, ih würde nah einem ſolchen eriten Zuſammen— 
treffen verwünfcht wenig von dem zu erzählen willen, was jte 
eben angehabt hätte.“ 

„Aber das gehört dazu,“ rief Alfred eifrig, „und ich habe 
ein merfwürdiged Auge für derlei Dinge, befonders wenn jte 
nur interefjante Berfönlichkeiten betreffen. Doch der Anzug 


85 


war auch das Wenigſte, und ich weiß wahrlich nicht, wie ich 
Dir die wirklich ätheriihe Geſtalt des jungen bildſchönen 
Mädchens jo jchildern fol, um Dir wenigſtens einen aud) 
nur annähernden Begriff von ihren Reizen zu geben. Denfe 
Dir ein Wefen, das, als fie am Ufer dahin fchritt, kaum den 
Boden zu berühren ſchien und, als fie fi mir zumandte, 
mid an jene Feen erinnerte, die früher unfere Wälder belebt 
und Sterbliche zumeilen mit ihrer Erſcheinung beglüdt haben 
Jollen. Sie hatte Hellblondes lodiges Haar.’ 

„Himmelblaue Augen,’ warf Kurt ein. 

„Das ſchönſte Himmelblau, das fi) auf der Welt nur 
denken läßt,’ rief Alfred in wahrer Berzüdung. „Ihr Teint 
war dabei von einer durhfichtigen Zartheit — der Mund 
Hein und zierlih, von zwei Reihen Perlen gefhmüdt, zwei 
Grübchen in den Wangen und eins im Kinn, und das Lächeln, 
al3 jie endlich jprad — nein, Kurt, und wenn ih Methu— 
falem’3 Alter erreichte, ih würde das nicht vergeſſen.“ 

Kurt lächelte. „Du biſt wirklih, wie ich ſehe,“ fagte er 
endlich, „bis über die Ohren verliebt, und in Deinem Alter 
läßt fih annehmen, daß diefe Liebe mwenigftens bis zu Weih— 
nachten anhält.‘ | 

„Kurt! rief Alfred faſt außer ſich, „wenn ich je wieder 
von dem Mädchen laſſe, jo — 

„Bſt,“ unterbrad) ihn der ältere Freund, „keine unndthigen 
Schwüre jebt, befchreibe mir vor allen Dingen Eure romantifche 
erfte Zufammenkunft im Waldesgrün und an dem murmelnden 
Bach, denn ich fange doch an, Anterefje daran zu nehmen.‘ 

„Sin Eisflumpen müßte das!’ rief Alfred erregt und 
halb beleidigt über die kalte Aufnahme jeiner Schilderung 
aus, „aber wie fol ich Dir das beichreiben — ich fürdite, ich 
habe mich bei diefer erften Begegnung eher etwas zu blöde 
und albern gezeigt, denn ich konnte mir nicht helfen, ed war 
mir fortwährend, als ob ich einer höhern Erſcheinung gegen: 
. über jtände.‘ 

„Läßt ſich denken,” nidte Kurt vor ſich Hin, „und fie hat 
Did jedenfalls deshalb im Stillen ausgelacht.“ 

„Glaube das nicht, Kurt,‘ rief Alfred raſch, „ſie war die 
Liebe und Güte felber, und jo freundiih und nachſichtig —“ 

6* 


84 
„Und wovon habt hr geſprochen?“ ? 
„Seiproden? Bon was Anderem als dem raufchenden 
Bad, den duftenden Blüthen, den flatternden Schmetterlingen 
und Gottes ſchöner, herrlicher Welt!‘ 


„Und verſchwand fie, wie e8 Feen font gewöhnlich thaten?“ 

„Nein — ich begleitete fie nachher in's Dorf hinunter, wo 
fie mit einer kranken Tante, die ſie jeßt pflegt, wohnte.‘ 

„And Ihr jaht Euch wieder ?’' 

„Ach gewiß,‘ vief Alfred, ‚noch verichtedene Male und 
immer an der nämlihen Stelle, denn die alte Dame war zu 
leidend, und ich habe fie nur ein paar Mal auf der Bromenade 
geſehen.“ 

„Und ſie um ihre Einwilligung gebeten —“ 

„Du ſpotteſt, Kurt,“ rief Alfred gekränkt, „aber ich gebe 
Dir mein Wort, daß jenes holde Frauenbild mein ganzes 
Herz erfüllt, nicht allein mit grenzenloſer Liebe, ſondern 
auch maßloſer Seligkeit.“ 


„Alfred, Alfred!“ ſagte Kurt, indem er neben dem Freunde 
hinſchritt und leicht mit dem Kopfe ſchüttelte. „Du biſt ſtets 
etwas leidenſchaftlicher Natur geweſen, jetzt iſt Alles „grenzen⸗“ 
und „maßlos“. Du übertreibſt fabelhaft, und wie Du das 
mir gegenüber thuſt, ſo fürchte ich, behandelſt Du Dich ſelber 
in der nämlichen Weiſe.“ 

„Aber wie kann man etwas übertreiben, wenn man es 
genau ſo ſchildert, als man es ſelber fühlt?“ 

„Man kann ſich eben ſelber täuſchen, und das führt dann 
nicht ſelten zu unangenehmen Conſequenzen.“ 


„Kurt, wenn Du ſie ſelber kennteſt, wenn Du nur ein N 


einzig Mal in die blauen Sterne hätteft Schauen dürfen... 

Kurt late. „Es ift nun einmal mit Dir fein vernünftiges 
Wort zu reden, aljo führe mid) zu Deiner Heldin, und ich 
fann mid dann viel leichter jelber überzeugen, inwieweit 
Deine Degeifterung auch Berechtigung hat. Sch glaube, ich 
habe die junge Dame ſchon geſehen.“ 

„Aber fie ift heute Morgen um drei Uhr mit der Poſt ab- 
gereiſt.“ 

„Und deshalb warſt Du ſo vergnügt?“ lachte Kurt. 


85 


„Weil ich unmittelbar hinter ihr herreiſen werde,“ er— 
widerte eifrig der junge Mann; „ich erfuhr ihre Abreiſe zu 
ſpät und konnte nicht ſo raſch fertig werden, ſonſt hätte ich 
ſie jedenfalls begleitet.“ 

„Wo wohnen ſie?“ 

„In Dresden.“ 

„Und was für einen Rang bekleidet ihr Vater oder welchem 
Stande gehört er an?“ | 

„Ja, wie ſoll ich das willen!” rief Alfred: „glaubſt Du, 
daß ich in ihrer Nähe an Yamilienverhältnifje gedacht habe?‘ 

„Ich war der Meinung, Du Hätteft dabei an nichts 
Anderes gedacht,” erwiderte Kurt, „die Frage wäre jeden- 
falls jehr natürlich und jogar gerechtfertigt geweſen. Jetzt 
weißt Du nicht einmal ihre Adreſſe.“ 

„Sie heißt Hulda.“ 

„Hulda, allerdings ein hübſcher Name, der etwas Duftiges 
het, und wenn die junge Dame dem entfprechend ausfieht, fo 
fann ih mir Dein Entzüden wohl erklären. Mio wirft Du 
im Adreßkalender den Namen Hulda juchen müſſen.“ 

„Es it die Huldgdttin, auf die Erde herabgeftiegen.‘ 

„Wie alt etwa?’ 

„Höchſtens fiebzehn Jahre!“ rief Alfred begeiftert. 

„Höchſtens?“ Tächelte Kurt. „Da trägt fie wohl noch 
kurze Kleidchen?“ 

„Du biſt ein Spötter,“ ſagte Alfred halb beleidigt, „aber 
ich weiß, daß Du mir Abbitte thun wirſt, ſobald Du ſie nur 
ſie — 

„Lieber Alfred,“ ſagte Kurt viel ernſter als vorher, indem 
er ſeinen Arm in den des Freundes ſchob, „ſieh, an Deinem 
guten Geſchmack zweifle ich keinen Augenblick, aber willſt Du 
von mir einmal ein vernünftiges Wort hören?“ 

Alfred lächelte. 

„Es hat ſich gegen Liebe die Vernunft ermannt, 
Und als Empödrungsfahne Weisheit aufgeitedt. 

Die Liebe hat zum Angriff einen Hauch gejandt, 
Und die Vernunft hat zitternd das Gemehr geftredt.‘ 

„Du ſcheinſt ziemlich bemandert in den Claſſikern zu fein,‘ 
fagte Kurt, „und ich kann Dir augenblicklich auf diefes Gebiet 


86 


nicht folgen, erlaube mir deshalb in einfacher Proſa zu Dir 
zu reden, und der Gegenſtand, den ich berühren will, iſt auch 
proſaiſcher Natur, wenigſtens wirſt Du ihn dafür halten.“ 

„Du holſt weit aus.“ 

„Und will mich doch ſehr kurz faſſen. Sagteſt Du nicht, 
daß Du einundzwanzig Jahre alt wäreſt? ich glaube noch nicht 
einmal, denn Du ſiehſt wenigſtens viel jugendlicher aus.“ 

Ich werde im December einundzwanzig Jahre.“ 

„Alſo zwanzig und ein halb; Hulda, wie die Himmliſ che 
heißt, iſt höchſtens ſiebzehn, wie Du ſelber ſagſt, was 
kann ſich ein vernünftiger Menſch von a folhen Liebe 
verjprechen ?'' 

„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig iſt?“ rief 
Alfred begeiitert aus. 

„Ewig ift ein wunderfhönes Wort,’ nidte Kurt ſtill vor 
ih Hin, „man ijt damit gleich fertig. „Das dauert ewig‘, 
jagt man im Theater, wenn der Zwilchenact ein wenig zu 
lang auögedehnt wird, „ewiger Regen’ heißt es bei etwas 
nafjer Witterung, „ewige Liebe’, wenn fih ein junger Menſch 
zum erſten Mal in ein glatte Geſicht vergafft hat und 
jeine Gefühle dann höchſt unbefangen mit einem endlofen 
Zeitmaß mißt.“ 

„Du bift wirklich proſaiſch, Kurt. 

„Ich Habe es Dir vorher gejagt, daß ich es fein würde, 
Nun bedenke Euer Alter, denn ich febe Doch voraus, daß 
Du auf eine „ewige Verbindung‘ mit der Geliebten rechneft. 
Angenommen wirklih, daß Deine Hulda erſt fiebzehn Jahre 
und Deiner Ausfage nah „ein Engel der Schönheit‘ it, wie 
lange glaubft Du, daß fie noch ungefucht blühen wird? doch 
wohl nur ein oder höchſtens zwei Jahre. Dann finden fih, und 
vielleicht noch früher, die Bewerber ein, die auch zugleich im 
Stande find, ihr eine Häuslichkeit zu bieten.‘ 

„Und wenn fie mich liebt, wie ich fie, wird fie jedes 
Bewerber? Hand mit Entrüftung und Falten Stolz zurüd- 
weiſen.“ 

„Du biſt dann zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre 
alt,“ fuhr Kurt, ohne von der Unterbrechung Notiz zu nehmen, 
ruhig fort, „und haſt wenigſtens noch fünf bis ſechs Jahre vor 


87 


Dir, che Du nur vernünftiger Weiſe an’3 Heirathen denken 
darfit. Hulda iſt bis dahin vierundzwanzig Jahre alt, und 
glaubt Du, daß ihr an einem fo hinausgezögerten Braut- 
Itande irgend etwas gelegen wäre?“ 

„Und wenn fie fechzig Jahre alt wäre,” rief Alfred, deſſen 
Augen in höchſter Aufregung leuchteten, „ſo würde ich dies 
jelbe heiße, brennende Liebe für fie fühlen wie jebt!” 

„And haft Du Dich ſchon gegen fie erklärt?“ frug Kurt. 

„Ich wagte e3 nicht,“ jagte Alfred Scheu, „wenn ich e3 
auch Hundertmal auf den Lippen hatte. 

„Alſo weißt Du nicht einmal, ob fie Di) wieder liebt?“ 

„Stud folche Gefühle nicht ſtets gegenfeitig ?’' 

„Nicht dag ich wüßte; und ihre Eltern kennſt Du eben 
fo wenig?‘ 

„rein, aber ich Habe Freunde genug in Dresden, um dort 
im Haus Schon eine Einführung zu befommen. Ihre Tante 
heißt von Loswall.“ 

Kurt jhüttelte mit dem Kopfe. „Da Hilft alles Reden 
nichts,“ fagte er. „Du bilt einmal in den richtigen Liebes— 
taumel, den blutjunge Leute fehr Häufig für wahre Liebe 
halten, hineingefallen, und ich jehe ein, daß jet mit Dir Fein 
vernünftiges Wort zu reden ift. Dein Herz ift mit Deinem 
Verſtande vollitändig durch gegangen, und ich werde «8 
dem alten Aesculap, der Zeit, überlaffen müſſen, Dich von 
allen Deinen Holzwegen wieder auf die breite Chaufjee des 
wirklichen Lebens zu bringen.‘ | 

„Auf eine Chauffee willft Du mich bringen, wo ich jekt auf 
Hlumigen Waldpfaden und weichem duftenden Moofe wandere?“ 

„Das Febtere ift ein Irrthum,“ bemerkte Kurt, „Moos 
duftet gar nicht, befommt weit eher einen fauligen Geruch.“ 

„Du biſt unausftehlih, Kurt.‘ 

„Ich habe Urſache,“ fagte diefer, „denn Du haft mich mit 
Deinem Liebeswahnftnn Heute um einen ftarfen Hirfch gebracht 
und, das Schlimmfte dabei, nicht einmal eine Ahnung davon, 
was da3 heißen will. Aber warn wirft Du abreiſen?“ 

„Morgen früh wollte ich mit der nämlichen Boft fort, 
in der fie Heute abgefahren ift. Wie lange bit Du aber 
ſchon hier?“ 


88 


„Seit vier Tagen.‘ — 

„Das iſt merkwürdig, daß wir und da nicht früher begeg⸗ 
net find; ich bin ſchon eine ganze Woche hier und nicht aus dem 
Dorfe oder feiner allernächften Umgebung hinausgekommen.“ 

„Da haft Du alfo gleih den Grund, ich wohne bei dem 
alten Dberförjter dort oben auf der Höhe, und habe nicht allein 
den Wald nicht verlafjen, fondern bin auch jedesmal geflüchtet, 
wenn ich lichte Kleider durch die Büſche ſchimmern fah. Der 
liebe Gott bewahre Einen vor allen Spaziergängern, wenn 
man bürfchen geht!‘ 

„Du haft feinen Sinn für dag Schöne. 

„Nicht ?“ rief Kurt begeijtert aus, und feine Augen blitzten. 
„Du follteft nur einmal das Glück haben, einen edlen Hirſch 
aus dem Walde treten zu jehen, wenn er den prachtvollen Kopf 
hebt, hinausfichert, und dann laut fchreiend den Gegner zum 
Kampfe herausfordert. Alfred, wenn Dir dabei das Herz nicht 
aufginge, daß Du laut aufjubeln möchteſt vor lauter Glück 
und Seligfeit, dann Haft Du fein Herz. Das ift ſchön, das 
ijt erhaben, und dazu noch der herrliche grüne Wald, die laut: 
loſe heilige Stille umher.“ 

„In die der Hirsch hinein ſchreit ?“ bemerkte Alfred troden. 

Kurt ſah ihn einen Moment raſch und wie unmillig an; 

plößli brach er in Lachen aus und rief: 
„Du haft wahrhaftig Recht, Alfred. Wir haben Beide unfere 
verſchiedenen Anſichten von Leben, Neigungen und Leidenſchaf— 
ten, und e8 würde mir fo ſchwer werden, Did, wie Dir, mid 
zu überzeugen, daß Du oder ich im Irrthum wären, Alſo Du 
gehit nah Dresden?’ 

„Ja, direct, ich habe dreimöchentlichen Urlaub erhalten, um 
meine etwas angegriffene Gefundheit zu rejtauriren, und kann 
den nicht befjer anwenden.‘ 

Kurt lächelte, erwiderte aber nichts und jagte nur nad 
einer Weile: | 

„But, dann bleiben wir wenigſtens heute zufammen. Ich 
bin durſtig geworden, und vor uns, im goldenen Hirſch, finden 
wir ein vorzügliches Glas Bairiſ i& Bier.‘ 

„Bier?“ fagte Alfred mit einem wegwerfenden Gefihtsauß: 
druck, „gemeines Bier jebt! — ich möchte Champagner trinken.“ 


89 


„Du würdeft hier einen ſchönen Stoff bekommen,“ Tachte 
Kurt, inden er des Freundes Arm wieder nahm. ‚Nein, Kame— 
rad, trint Du Bier, denn das ift Dir aud am zuträglichiten. 
Champagner fleigt Dir nur noch mehr in den Kopf, und Du 
brauchit vor allen Dingen etwas dies, ruhiges Blut.‘ 

Und die beiden jungen Leute fchritten, von jebt an nur 
über gleichgültige Dinge plaudernd, die Straße hinab, dem 
nicht mehr fernen Dorfe zu. 





2. 
Die Schweſtern. 


In Neuftadt:Dresden, in einer reizenden Villa der fo hübſch 
angelegten Königsbrüder. Straße, wohnte der alte penfionirte 
Forſtmeiſter von Rankhorſt mit feiner Familie: feiner vermitt- 
weten Tochter und feinen zwei Enfelinnen. 

‚Der alte Herr — er war ſchon hoch in die fiebzig — führte 
ein ganz glüdliches Leben, denn felber mit zeitlihen Gütern 
gejegnet, fo daß er nicht auf feine ziemlich geringe Penſion 
angemwiejen blieb, lebte er einen Theil de8 Sommers gewöhnlich 
in der Schweiz und kehrte erſt im Auguft nach der Refidenz 
zurüd, wo er noch mit der alten Leidenjchaft die Jagden fre— 
quentirte und ſelbſt oft auf der-doch ziemlich ermüdenden Hühner: 
fuche drei, vier Stunden draußen in den Feldern umherſtieg. 

Außerdem war er au, wie er es ſtets geweſen, jehr ge— 
jeliger Natur. Er liebte Geſellſchaft, fah auch mit größter 
Freude Säfte bei fih, und Abends, behauptete er, dürfe man 
nicht zu Bett gehen, ohne feine Partie Whiſt gejpielt zu haben, 
Ein jovialer Kamerad, aber dabei ein tüchtig praftifcher Mann, 
war er deshalb auch in feinen Kreifen allbeliebt, und wurde, 
wenn er in fröhlichen Eirfeln fogar noch manchmal ein Tänz- 
hen wagte, den jungen blafirten Leuten oft als Mufter auf- 
geſtellt. 


90 


Sein Haus bot übrigens eben durch feine beiden bildhübfchen 
Enkelinnen Hulda und Paula noch einen ganz befondern Reiz, 
denn etwas Lieblicheres, als dieſe beiden Zwillingsſchweſtern, 
konnte e8 auf der Welt nicht geben. Dabei war der heitere 
Charakter ihres Großvaters auf fie übergegangen, und das fang 
und trillerte und lachte den ganzen Tag im Haufe, ſowie fie 
nur eben bei einander waren. 

Und heute ſchien ein ganz bejonderer Feittag in der kleinen 
freundlihen Billa, denn Hulda war von ihrer etwas mono— 
tonen Kranfenfahrt mit der alten, von je ein wenig mürrifchen 
Tante, die fie in ihre eigene Wohnung zuerit richtig abgeliefert, 
wieder zurüdgefehrt, und die beiden jungen Wefen Fonnten nun 
gar nicht genug Zeit finden, fich mit einander auszuplaudern und 
von hüben und drüben zu erzählen. E3 ließ fich nämlich denken, 
daß „Großpapa“ fein lange und ſchmerzlich vermißtes Enfel- 
find nun auch wieder voll genießen wollte Gegen „Groß— 
papa“ konnte Hulda aber — fo herzlich lieb fie ihn hatte, 
doch nicht fo von der Leber weg reden, wie mit der Schweiter. 
Es gab da eine Menge von Dingen,. die für fie Beide natürlich 
vom allerhöchſten Intereſſe waren, die aber den alten Herrn 
nit im Entfernteften intereffiren fonnten, oder über die er 
auch am Ende gar in feiner wirklich oft provocirenden Weiſe 
gelacht hätte. Kein Wunder denn, daß fih die Schweitern 
danach jehnten, einmal eine Stunde vollfommen ungejtört zu 
fein, aber die fand fich nicht eher, als bis fie endlich dem 
Großvater und der Mutter gute Naht gejagt und nun in 
ihrem laufhigen Kleinen Stübchen, das neben ihrem eigenen 
Schlafzimmer lag, zufammen auf dem Sopha faßen und Hand 
in Hand und Auge in Auge ihre Herzen gegen einander aus: 
Ihütten durften. 

„Ach, Hulda,“ sagte Paula, wie ihr die Schweiter von 
der reizgenden Gegend, dem jchönen prächtigen Walde und den 
wunderbaren Yernfichten erzählt hatte und dann noch hinzu: 
ſetzte, was fte für £öftliche Forellen gegefjen und was für deli— 
cate Mil) fie getrunken — „manchmal habe ich Dich wirklich 
beneidet, wenn Du mir fo in Deinen Briefen jene himmlischen 
Derge ſchilderteſt — aber wenn ich mir dann auch wieder die 
langweiligen Morgen: und Abendftunden dachte, die Du 


91 


gezwungen warjt, allein mit der guten Tante zu verleben, 
und wenn wir junges Volk dann Hier jo fröhlich beifammen 
waren und,mit einander fangen und lachten, dann thateft Du 
mir auch wieder leid, und ich hätte Dich gern einmal auch 
acht Tage ablöjen mögen.’ 

„Ach, mein liebes Kind, fagte Hulda mit einem ſchelmiſchen 
Blick auf die Schweiter, indem fie fich ehrbar emporrichtete und 
fogar mit einem gewiſſen ftolzen, aber doch immer fcherzhaften 
Selbjtgefühl fortfuhr, „ſo Fehr verlaffen find wir doch auch) 
nicht geweſen. Junge Leute fanden fih da verjchiedene, und 
ob ich Teer außgegangen, magit Du Dir Selber beantworten, 
wenn ih Dir fage, daß ich fogar perfünlich einen eigenen Cour— 
macher gehabt habe." 

„Dur rief Baula im äußerten Erftaunen, und e8 gab 
in dem Moment vielleicht Fein reizenderes Bild auf der ganzen 
Melt, als diefe beiden bildhübſchen Mädchen, in ihren ſchnee— 
weißen Morgenröden, die blonden Locken gelöft, die Augen 
blitzend, das heitere unfchuldige Lächeln auf den lieben Zügen, 
dabei einander jprechend ähnlich, wie ein Antlib und fein Spiegel: 
bild, Schulter an Schulter, ihre Hände zufammen und fi) 
lächelnd in die Augen ſchauend. Aber wie lieb hatten fie auch 
einander, und da gab es nichts, weder Freude noch Schmerz, 
das ſie nicht redlich getheilt, fo daß fie oft herzlich mit einander 
weinten und dann auch wieder eben jo herzlich mitfanımen lachen 
konnten. 

Und jetzt erzählte Hulda von einem Courmacher, und zwar 
einem, den ſie allein gehabt, denn hier im elterlichen Hauſe 
fiel das ja gar nicht vor. Wo ein junger Mann mit den 
beiden Zwillingsſchweſtern zuſammentraf und dieſe fabelhafte 
Aehnlichkeit zwiſchen den Beiden ſah, mußte er ihnen ſeine 
Schmeicheleien immer im Plural ſagen, und die beiden Mäd— 
chen waren es deshalb auch gar nicht anders gewöhnt. 

„Du?“ wiederholte Paula und konnte den Gedanken noch 
gar nicht faſſen. 

„Ja, ich,“ nickte Hulda glückſelig, „ich ſelber, und weißt 
Du, wer das noch dazu war? — ein lebendiger Lieutenant — 
Da!“ und als ob das ein förmlicher Schlag geweſen wäre, 
der nun erſt einmal auf die verblüffte Schweſter wirken ſolle, 


92 B 
zog fie ihre Hand aus der Paula's, rüdte ein Stückchen auf 
dem Sopha von ihr ab und lachte fie mit ihren blitzenden 
Augen an. 


„Anfinn,’‘ fagte Paula und ſchüttelte, die Schweſter be⸗ 
trachtend, den Kopf, „wie ſollte ein Lieutenant dort in die 
Berge kommen !‘' 


„Ein Lieutenant?” rief Hulda, indem fie raſch wieder näher 
rüdte; „aber die fommen doch überall Hin.‘ 

„And wie jah er aus, Hulda?“ frug Paula neugierig, 
„bitte, bitte, erzähle mir, wie das Alles fam! War er hübjch 2’ 

„Run, jagte Hulda, aber entjetlic gleihgültig, ‚er war 
gerade nicht Häßlich, aber befonders hübſch kann ich auch nicht 
jagen, er hatte noch nicht einmal einen Schnurrbart und ganz, 
hellblonde Locken, mitten auf der Stirn beinahe fingerbreit 
gejcheitelt, al3 ob er fich den Strich da oben rafirt hätte,‘ 

„Das mag ich nicht leiden,‘ jagte Paula. 

„Aber fie tragen’3 beinah alle,’ bemerkte Hulda. 

„sa, und die Oberfellner und Ladendiener auch; aber bei 
welchem Corps ftand er? was für eine Uniform trug er?‘ 

„Gar feine, bemerkte unbefangen Hulda, „er war dort 
in Civil.“ 

„ber woher wußteſt Du, daß es ein Lieutenant ſei?“ 

„Weil er immer Herr Lieutenant genannt wurde, erwiderte 
die Schweſter. 

„Ah! das ift häßlich,“ ſagte Paula kopfſchüttelnd; „was 
hilft mir ein Lieutenant ohne Uniform! Aber war er inter= 
eſſant?“ 

„Ich ſage Dir, Paula, höchſt,“ rief Hulda, aber doch mit 
einem jchelmifchen Ausdrud in den lieben Zügen, „und ſch wär— 
men konnte er! Wir haben von nichts gejprochen, als luna, 
Sternenfhimmer, duftendem Wald, wallenden Nebelichleiern,. 
Nachtigallengeſang, heiligen Schatten des Forſtes, duftenden 
Kindern Flora's und taufend ähnlichen wunderhübjchen Sachen. 

„Ach geh, Du haſt mich zum Beſten!“ 

„Wahrhaftig nicht!“ 

„Und wo ſteht er?“ | 

„Ja,“ lachte Hulda, „wenn er da jtehen geblieben ijt, wo 


93 


ih ihn zulebt fah, fo tft das vor dem Poſtgebäude in Lud- 
wigsroda.“ A 

„Ach, Du bift ein Kind!’ ſagte die Schweiter ungeduldig. 
„Ich meine, wo er in Garniſon ſteht?“ 

„Ja, danach Habe ich ihm wirflih nicht gefragt. Wir 
famen auch auf Solch’ profaiihe Dinge nie zu ſprechen. Ich 
weiß nicht einmal feinen Namen, denn als er und vorgejtellt 
wurde, ſprach der alte Brunnenarzt mit feiner geſchwollenen 
Dberlippe jo undeutlih, und jpäter fam ich mit dem Herrn 
Lieutenant vollfommen gut aus. Großvater nennt das ja 
auch immer einen „Handgriff zum Namen.‘ 

„Aber in welcher Weife hat er Dir denn die Cour ge- 
macht?“ frug Paula, die das ganz beſonders zu intereffiren 
Ihien, „denn Deiner bisherigen Beichreibung nach ſcheint 
er nur im Allgemeinen, gemwifjermaßen im ganzen Weltall 
herum, gejhwärmt zu haben.‘ 

„Das hat er auch," beftätigte Hulda raſch, „er hat mir 
zweimal gejagt, daß er den ganzen Wald an’s Herz drüden 
möchte.‘ 

„Sm — aber rede nur einmal vernünftig. Du fcheinft 
wirklich bei Deinem Herren Lieutenant etwas gelernt zu haben. 
Alſo da3 war fein ganzes Courmachen?“ 

„Dh, Gott bewahre!“ rief Hulda raſch, „er verglich meine 
Augen mit den Sternen und den blauen Feldblumen.“ 

‚Denn Tante dabei war?” 

„Nein, wenn wir mit Tante fpazieren gingen, denn die 
fette fich immer auf eine Bank zum Ausruhen.“ 

„Und litt fie überhaupt, daß Dich der Lieutenant be 
gleitete ?'' 

„Oh,“ ſagte Hulda, doch etwas verlegen, „ſie Hat ihn nur 
zweimal geſehen und fagte dann, er wäre noch fo jung und 
ſchüchtern, mit dem hätte e8 feine Gefahr. Und dann,‘ 
fuhr fie lebhaft fort, „recitirte er Gedichte und ganze Stellen 
aus Zrauerfpielen, oh, das konnte er prädtig! Kurz, er 
lebte nur immer in höheren Sphären, und ich amüftrte mich 
vortrefflich dabei.‘ 

„Aber das alles ift noch immer fein Courmachen,‘‘ meinte 
Paula, „das habe ich mir wenigftend ganz anders gedacht.‘ 


94 ; 


„Na, dann hätteft Du mandmal die Dlide fchen follen, 
wenn er glaubte, daß ich ihn nicht beobachtete, und wenn ich 
ihn dann plötzlich anjah, wurde er bis unter die Haare roth.“ 

„Ein Lieutenant!" rief Paula gerade jo erjtaunt aus, 
als ob fie darin fchon die wichtigften Erfahrungen gemadt 
hätte, 

„Und Abends," fuhr Hulda in der Erinnerung ſchwelgend 
fort, „lief er oft zwei, drei Stunden vor meinem Fenfter 
umber, wenn ic) auch ſchon lange das Licht ausgelöſcht Hatte.‘ 

„Aber woher weißt Du das?" frug die Schweiter ver: 
wundert. | 

„Ich Hatte mir,’ flüfterte ihr Hulda zu, als ob fie jelbit 
hier einen Laufcher fürchte, „die eine Rouleau-Ede ein wenig, 
hinaufgebogen, jo daß ich, ohne bemerkt zu werden, hindurd= 
Ihauen fonnte, und gerade gegenüber war das Wirthshaus 
„zur Bolt’, vor dem zwei helle Laternen brannten, jo daß 
man Alles deutlich überbliden fonnte. Es jah zu hübſch aus, 
wenn er jo auf: und abging, als ob er vor der Bolt auf 
Wache ftände und auf die Ablöfung warte. Es war doch 
aufmerfjam von ihm, und als wir am lebten Morgen ſchon 
um drei Uhr mit der Poſt abfahren wollten, ftand er wahr- 
haftig fertig angefleidet da, um uns noch einmal Lebewohl 
zu jagen. — Ja, ich glaube jogar, er hat uns auch gewedt, 
dern um halb zwei Uhr ſchon wurde jo furdtbar an die 
Hausthür gedonnert, daß wir Alle miteinander in die Höhe 
fuhren und Tante, die gerade über der Thür fchlief, fait 
den Tod vor Shrek befam, fie glaubte, e8 wolle Jemand 
einbrechen.“ 

Paula lachte. „Ja, Schatz,“ ſagte ſie, „dann haſt Du in 
der That einen wirklichen kleinen Roman dort in den Bergen 
durchgeſpielt, und es gäbe das eine reizende kleine Erzählung, 
aber der Schluß iſt zu matt. Sie kriegen ſich nicht.“ 

„Unſinn, Paula,“ ſagte jetzt Hulda, ihrerſeits erröthend, 
‚was Du auch ſchwatzeſt! An eine Heirath hat doch weder 
der Herr Lieutenant noch ich gedacht, und ihm war. es jeden: 
falls nur darum zu thun, feinen romantischen Gefühlen etwas 
Luft zu machen; aber wie raſch verging und dabei die Zeit. 
SH ſage Dir, es war zu hübſch, und dazu dann die ganze: 


95 


Umgebung: der herrlihe Wald, in dem es cine Mafje von 
wilden Thieren gab, die Hafen fprangen uns oft über den 
Weg; wenn man ein wenig höher in die Berge ftieg, fonnte 
man auch dann und wann auf einer grünen Wiefe Rehe 
grafend finden, und einmal haben mir jogar einen großen 
mächtigen Hirſch gefehen, der gräßli hohe und gezadte 
Hörner hatte, jo daß ich einen Todesſchreck bekam. Aber er 
that und nichts, jondern fprang mit einem Sab in die Büſche 
zurüd, wo wir aber fein Stampfen noch Tange hörten.‘ 

„Ach, das hätte ich auch jehen mögen, Hulda,“ ſagte Paula, 
in Bewunderung die Hände zufammenfaltend, „ed muß gar fo 
herrlich ſein!“ 

„Und dann die Jäger, die mit ihren Hunden in den 
Wald hinein zogen, die Flinten auf der Schulter,‘ fuhr Hulda 
begeijtert fort, „die grauen Joppen an mit grünen Kragen 
und graue Hüte auf, mit wunderlich zufammengebogenen 
Tedern daran, ed jah zu reizend aus, und was für wunder: 
hübſche Menjchen waren darunter, und wie ftolz fie dabei 
einherjchritten, al3 ob fie und andere arme Sterblide nur jo 
von oben herab betrachteten.‘ 

„Es ijt etwas Merkwürdiges um die Jagd,’ fagte Paula, 
jtill vor fich Hinnicdend, „und Großpapa ja felber noch Jäger 
mit Leib und Seele. Freilih ein mwunderliches Vergnügen, 
das ich wenigftens nicht begreife. Wenn er aber auch manch— 
mal naß wie. eine Kabe nach Haufe fommt, und hat nur 
etwas gefchofjen, jo tft er doch vergnügt und erzählt und lacht 
den ganzen Abend. Aber, ich glaube wahrhaftig, es wird Zeit 
zum Schlafengehen, ſieh nur, es iſt Schon halb zwölf Uhr ge: 
worden. Wie mir der Abend verflogen ift! Wir find aber 
auch jo lange nicht beilammen gemejen.‘' 

Es war wirklich Zeit, und Hulda von der Neije über 
Tag auch etwas müde geworden, hatte fie doch jebt bald in 
vierundzwanzig Stunden nicht geichlafen. 

„Gute Naht, Hulda," fagte Paula zur Schweiter, die 
zuerft unter ihre Dede jchlüpfte, „ſchlaf' recht wohl und merke 
Dir, was Du diefe erfte Naht wieder träumft — das hat 
immer Bedeutung.‘ 

„Ich werde aufpafien, Paula,’ jagte das junge Mädchen. 


96). D 


und legte fih ebenfall3 zur Ruhe. Reichlich zehn Minuten 
mochten ſie auch ruhig gelegen haben, das Licht war ausge: 
löicht, und nur das langſame monotone Tiefen de3 Negulators 
an-der andern Wand unterbrad die Stille. | 

„Hulda,“ jagte da plötzlich Paula's weiche und vorſichtig 
gedämpfte Stimme, „ſchläfſt Du ſchon, Schatz?““ 

Sie befam Feine Antwort. 

„Hulda!“ flüfterte fie noch einmal, nur halblaut, „ſchläfſt 
Du Thon?" 

„ein, Paula,“ ermwiderte Hulda, aber wirklich ſchon mehr 
al3 drei DBiertel in Schlaf, „was wilft Du?“ 

„Sag' mir einmal,‘ frug Paula, fih halb in ihrem Bett 
enporrichtend, als ob fie die Frage ganz bejonders intereffire, 
„was hattet Ihr denn eigentlich für einen Badearzt?“ 

„Bir? frug Hulda, die den Sinn faum noch faßte, 
„wo?“ 

„Nun, in Ludwigsroda. War es ein angenehmer Mann?“ 

„Ganz und gar nicht; ein dicker alter Herr,“ murmelte 
das junge Mädchen halblaut als Antwort. 

„In der That?“ erwiderte Paula, die indeß ihren eigenen 
Gedanken folgte. „Und waren recht hübſche Toiletten dort? — 
Hulda! ſchläfſt Du?“ 

Sie bekam keine Antwort mehr, der Schlaf hatte die Ueber— 
müdete in feinen Arm genommen und wiegte fie leicht unter 
‚freundlichen Träumen ein. — Und was gaufelte er ihr vor? 
Kindesträume: flüfternde Buchenmwipfel, zitternde Monpditrahlen, 
. junge Lieutenant3 in Uniform und Civil — hübſche Jäger 
mit der Büchfe auf der Schulter — fi haſchende Kinder, 
bunte jtatternde Schmetterlinge, und dazu hörte fie im Geifte 
immer einen wunderhübfhen Galopp, den die Dragoner, 
gerade als fie in Dresden einfuhren, unterwegs gejpielt, 
und ſüß fchlafend und mit lächelnden Lippen fchlug ſie mit 
den Fußſpitzen den Tact dazu. 


97 


3. 
Der Beſuch. 


Lieutenant Alfred von Berſting brach in der That ſeine 
Cur in Ludwigsroda, nachdem es „der Engel“ verlaſſen, ſehr 
kurz ab; ſein Geſundheitszuſtand ließ auch wirklich nichts zu 
wünſchen übrig, und er konnte in Dresden eben ſo gut eine 
Nachcur gebrauchen, wie irgend wo anders. 

Was ihn aber, als er dort ankam, in die größte Verlegen— 
heit brachte, war, daß er weder Namen noch Wohnung ſeiner 
Angebeteten kannte — nur den Namen der Tante, und bei 
dieſer hatte er auch bis jetzt geglaubt, daß ſie in der Hauptſtadt 
wohne. Als er aber das Logis derſelben, und zwar mitten 
in der Stadt aufſuchte, und ſich erſt vorſichtig unten beim 
Hausmann nach den Familienverhältniſſen — d. h. nach den 
Familiengliedern erkundigte, — ob der Mann nämlich glaube, 
daß er das „gnädige Fräulein“ zu Hauſe fände, erkärte ihm 
dieſer, ein gnädiges „Fräulein“ gäbe es nicht in der ganzen 
Etage — nur eine ſchon ziemlich bejahrte gnädige Frau, 
die verwittwete Frau Forſträthin von Loswall, die hier nur 
mit einer Geſellſchafterin — auch ſchon ziemlich in den Jahren — 
und einer Köchin wohne. Der Mann wollte auch nichts von 
ihrer Nichte wiſſen; ſie bekäme allerdings ſehr häufig Beſuch 
von jungen Damen, ſei auch mit einer ſolchen erſt kürzlich von 
der Reiſe zurückgekehrt — lieber Gott, das war ja Hulda — 
aber wo die wohnten und ob ſie verwandt mit einander wären, 
könne er nicht ſagen. 

Da ſtand er — die Frau von Loswall aufzuſuchen wagte 
er nicht, und ſie nach ihrer Nichte zu fragen, das hätte doch 
zu aufdringlich ausgeſehen, und außerdem wußte er auch gar 
nicht, wie fie eine ſolche Anfrage aufnehmen würde, in Ludwigs— 
roda war ſie wenigſtens immer ziemlich kalt gegen ihn geweſen. 
Daß er auch Hulda nie nach ihrem Familiennamen gefragt, 
denn Loswails gab es ſonſt in der ganzen Stadt nicht mehr, 
fie würde ihn gewiß und ſicher genannt haben — und mie 

vr. Gerſtäcker, Erzählungen ac, 7 


98 — 


ſollte er ſie jetzt in der großen und volkreichen Stadt auf— 
finden! 

Es war allerdings ein ſchwer Stück Arbeit, und drei Tage 
lang ſuchte er vergebens alle Vergnügungsorte, Terraſſe, Großen 
Garten, zoologiſchen Garten und alle ſonſtigen Plätze ab, ja 
muſterte Abends im Theater mit einem guten Opernguder 
auf das Sorgfältigite den eriten Hang und die Barterrelogen — 
und ſelbſt — wenn auch mit wenig Hoffnung —den zweiten 
Rang. &8 blieb Alles nublos, und trübfelig jchlenderte er 
am vierten Morgen eben über die Promenade, in der Nähe 
des Cafe francais, als er plöblich zwei junge Damen auf ſich 
zufommen ſah, von denen er die Jüngere — dad Herz häm— 
merte ihm in dem Augenblid in der Bruft, als ob es jeine 
Banden Iprengen wolle — Hulda — feine Hulda erkannte. 

Er blieb auch wie rathlos, von feinem eriten Gefühl 
wirklich übermannt, mitten auf der Promenade ſtehen, ſtarrte 
die junge Dame an und mochte dabei wohl ein ſo verblüfftes 
Geſicht gemacht haben, daß ihm beide junge Mädchen die 
lieben Köpfchen zuwandten und vielleicht unwillkürlich ein wenig 
über ihn lächelten — es giebt für junge Damen gar nichts 
Intereſſanteres, als einen verblüfften Lieutenant. Damit glitten 
ſie an ihm vorüber; jetzt aber kam Alfred auch wieder zu ſich 
ſelber, denn die Gelegenheit durfte er nicht unbenutzt ent— 
ſchlüpfen laſſen. 

Sich raſch wendend, bemerkte er eben noch, wie beide junge 
Damen ſich nach ihm umſahen, aber auch blitzſchnell wieder 
mit ihren Köpfchen herumfuhren, als ſie entdeckten, daß er ſich 
ebenfalls nach ihnen drehte — es war das auch fatal. Jetzt 
zögerte er aber auch nicht mehr; mit wenigen raſchen Schritten 
hatte er ſie eingeholt, und militäriſch, aber ſehr artig grüßend, 
ſagte er zu Hulda: 

„Mein werthes, gnädiges Fräulein, Sie wiſſen gar nicht, 
wie glücklich es mich macht, Ihnen hier zu begegnen.“ 

Die Angeredete ſchrak etwas vor ihm zurück und bekam 
einen feuerrothen Kopf, anwortete dann aber, und zwar etwas 
ſchnippiſch, was ihr übrigens vortrefflich ſtand: 

„Sie irren ſich wahrſcheinlich in der Perſon, mein Herr — 
ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen,“ — und mit 


99 


einem faum halb verftedten Kichern ihrer Begleiterin drehten 
fich die beiden jungen Mädchen ab und liefen jebt mehr, als 
daß fie gingen, vor lauter Verlegenheit jedenfalls — die kleine 
Strede der Promenade hinab, bogen in Die Kreuzgaſſe ein, 
riefen dort eine Drojhfe an und fuhren über den Altitadt- 
markt in die Schloßgafje hinein und auch dort hindurch, 
Alfred ftand im erjten Moment, als ob er einen Schlag 
vor den Kopf befommen habe, denn wie freundlid und lieb 
war Hulda fonit immer da oden im Walde mit ihm gewefen, 
und jet? — „Sie irren fi) wahrſcheinlich in der Perſon, 
mein Herr’. Er fih irren, in dem Gefiht und Liebreiz! 
Aber jo ganz rathlos blieb er doch nicht jtehen, denn während 
ihm diefe Gedanken durch den Kopf flogen, war er den beiden 
jungen Damen erſt mit den Augen gefolgt, bis jie um die 
Ede bogen — dann eilte er ihnen nad und ſah faum, daß 
fie eine Drojchfe nahmen, als er ebenfalls und ohne fih auch 
nur einen Moment zu befinnen, die nächſte anrief und dem 
Kutſcher gebot, der vorangegangenen Droſchke zu folgen und 
augenblidlich zu halten, ſobald jene hielt — aber immer in 
etwa fünfzig Schritt Entfernung zu bleiben. 
Droſchkenkutſcher find jehr weile Leute und machen in ihrem 
Beruf mande nit uninterefjante Erfahrungen. Bei jolchen 
Sachen befonder3 wifjen fie außerordentlich genau Befcheid — in 
jene Droſchke waren, wie er felber gejehen, zwei junge, bild- 
hübſche Damen gejtiegen ; der junge Dfficter wollte wifjen, wo fie 
wohnten, und das konnte ihm Niemand befjer beforgen, Als er. 
Die Droſchke voraus fuhr der alten Brüde zu und über 
diefe Hin — alfo nach Neuſtadt — die Hauptallee hinunter 
und dog in die Königsbrüder Straße ein, hielt aber ſchon an 
einem der erjten Häufer, und im Nu ftanden Alfred's Pferde 
eingezügelt. 
Aullfred hatte eins der vorderen Fenfter geöffnet und ſchaute, 
durch den Mantel des Kutſchers Halb verdedt, hinaus; — 
e3 jtieg aber nur eine Dame aus und eilte, noch zurüd 
grüßend, durch den Kleinen Garten ihrer Wohnung zu. Die 
Droſchke fuhr weiter. Unſer Kutjcher drehte fi) etwas jchwer- 
fällig, und weiterer Drdre wegen, nad feinem Fahrgaft um. 
„Bahr zu, Kutſcher!“ ſagte dieſer. 
7* 


100 i 


„War wohl die Rechte nicht ?’’ bemerkte der Kutfcher. 

Alfred ſchüttelte lachend den Kopf, und das Fuhrwerk 
tafjelte wieder feinen Weg entlang, bis der vordere Wagen 
zum zweiten Mal hielt und diesmal auch die zweite Dame 
abſetzte. 

„Fahren Sie vorüber, Kutſcher, daß ich die Hausnummer 
erkennen kann,“ ſagte Alfred. Er brauchte kein Geheimniß 
mehr zu bewahren, denn er war ja doch, wie er fühlte, längſt 
durchſchaut. 

Droſchke dirigirte die Sache ſo geſchickt, daß er langſam 
dicht am Haus vorüber fuhr und erſt zwei Ecken weiter wieder 
hielt. 

„Wollen Sie noch ſonſt wohin?“ frug er zurück, als er 
hier, in ſicherer Entfernung, ſein mageres Pferd einzügelte. 

„Nein — ausſteigen.“ — Der Kutſcher war mit ſeinem 
Trinkgeld zufrieden, und Alfred promenirte jetzt noch, ſeinen Ge— 
danken dabei vollen Raum gebend, eine Zeit lang vor jenem 
Hauſe auf und ab, ohne jedoch irgend wen am Fenſter zu ſehen. 
Die Wohnung ſchien wie ausgeſtorben. 

Uebrigens gab es ein ſehr leichtes Mittel, die Inſaſſen 
jenes Hauſes zu erfahren: der Adreß-Kalender. Dies kleine 
En ſah aud nicht jo aus, als ob es mehr als eine Jamilie 
beherberge, und bei dem nächſten Kaufmann fonnte er den 
Namen erfahren. 

‘ Da Stand er: Oberforftmeilter a. D. Paul von Rank 
50 — alfo Hulda von Rankhorſt war ihr Name, und jetzt 
eifte er vor allen Dingen in die Stadt zurück, um Näheres 
über die Familie zu hören. 

Und durfte er es wagen, fie aufzuſuchen? Hatte ihn nicht 
Hulda jo Falt und ſchnöde abgemiejen und fogar geleugnet, 
daß fie ihn je gejehen habe? Aber fie war nicht allein ge: 
weſen — fonnte es möglich fein, daß fie fich vor der Freundin 
genirte, und ſprach das denn niht um jo mehr zu jeinen 
Gunften? — Uebrigens war er troß feiner Aufregung hungrig 
geworden, Mittagszeit außerdem, jo beſchloß er denn auch 
auf der Terraffe zu diniren umd flieg langſam die niederen 
Stufen Hinan, die nah oben führten. 

Bor ihm ber — noch langſamer ald er und fih an der 


104° 


prachtvollen Ausficht erfreuend, die fich dort ihm bot, fchritt 
ein junger hochgewachſener Mann, jehr elegant gekleidet — 
fiherlich ebenfalls ein Fremder, welcher der Terraffe feine 
Huldigung bradte. Als Alfred an ihm vorüberging, wandte 
er fih, um fein Angeficht zu fehen, eilte aber ſchon im nädjten 
Moment auf ihn zu und rief, ihm die Hand entgegenftredend: 

„Kurt! — iſt e8 möglih — wie kommſt Du nad Dresden ?' 

„Alfred! bei Allem was lebt!’ vief der Freund. „Alſo 
habe ich Dich doch getroffen, denn ich verzweifelte ſchon daran, 
da ich Deine Wohnung nit wußte. Aber wer fommt nicht 
nah Dresden? Iſt es doch Gentralpunft für Alles, was 
Deutihland an Natur: und Kunftihönheiten bietet, und Du 
hätteft Dich weit eher wundern fönnen, wenn ih nicht hier: 
hergefommen wäre,‘ 

„Aber ich habe nicht geglaubt, daß Du Did ſo raſch 
von dem ſchönen Wald trennen würdeſt.“ 

„Du weißt doch, dag ich Schon längere Zeit dort vermeilte, 
ehe wir uns trafen, und dann,‘ febte er lächelnd Hinzu — 
„satte ich auch meinen Zwed erreicht und vorgeitern Morgen, 
troß Deiner Störung neulich, den braven Hirſch glüdlich er: 
legt. Da ih nun ſchon eine Anzahl Rehböcke und auch 
einen geringen Hirfch vorher geſchoſſen, fo mochte ich nicht 
unbejcheiden fein und die Güte meines freundlichen Gaftgebers 
mißbrauden. Ohne Büchſe in den Wald zu gehen, brachte 
ich nicht über's Herz, und da hielt ich es für das Beſte, mid 
der Verſuchung ganz zu entziehen und den Wald Tieber zu 
verlaſſen.“ 

„Alſo den armen Hirſch haſt Du noch wirklich todtge— 
ſchoſſen ?“ 

„Ja, denke Dir nur,“ rief Kurt, während ihm in der Er— 
innerung ſchon die Augen blitzten — „zwei Morgen war ich 
noch vergeblich danach gegangen. Der Hirſch, wahrſcheinlich 
damals durch Dich ſcheu gemacht, hatte ſeinen Wechſel ver— 
ändert. Stunden lang kroch ich im Buſch herum, bis ich 
ſeinen neuen Wechſel ausmachte und die Stelle fand, wo ſeine 
breite Fährte über die Wieſe lief. Dort richtete ich mir denn 
noch vor Sonnenuntergang einen Stand her, ließ ihm die 
Nacht Ruhe und war Morgens um zwei Uhr ſchon, und 


102 ; 

lange vor Tag zur Stelle. Wie mir aber das Herz klopfte, 
als ich zur gewöhnlichen Zeit, wo er zu Holze zog, das Knicken 
dürrer Aeſte und das Raſcheln im Laub hörte — und da 
plöglich trat er heraus, ficderte dem frifhen Morgen entgegen 
und zog vertraut, kaum mehr als neunzig Schritt von mir 
entfernt, über die Wiefe hinüber. Das aber war fein Yebter 
Gang; die Kugel Ihlug, mit dem Knall felbft zeichnete er, 
fuhr herum und brach wie ein Wetter in die Hafelbüjche 
hinein, durch die ich ihn noch eine kurze Strede hören konnte. 
Natürlich lud ich erit wieder frifh auf den Brand und ging 
dann erft zum Anſchuß hinunter und — hatte mich nicht ge— 
irrt. Auf dem Wechſel lag Schweiß, und der Spur folgend, 
fand ih ihn auch, Faum Hundert Schritt von dort entfernt, 
unter einer mächtigen Buche verendet. Denke Dir, ein un— 
vegelmäßiger Sechzehnender und feift wie Butter. Das Geweih 
wäre mir jeßt nicht für taujend Thaler feil ... Aber,” brach 
er plötzlich ab, halt Du Deine Huldgöttin bier ſchon wieder 
geſehen?“ 

„Hm, Kurt,‘ meinte Alfred, indem er des Freundes Arm 
nahm und langjam mit ihm auf der Terraffe zurüdichritt, 
„das ift eine ganz eigenthümliche Gefhichte. Denke Dir, ih 
bin ihr heute Morgen begegnet, und — fie hat mich nicht 
wieder erkannt.“ 

„Natürlich — meil fie Did noch nicht in Uniform ges 
ſehen.“ 

Alfred blieb ſtehen und ſah den Freund raſch und erſtaunt 
an. „Wahrhaftig, Du kannſt Recht haben,“ rief er, „Daran 
hatte id gar nicht gedacht! — Und doch dann, welch ein Unter- 
ſchied zwifchen mir und ihr — ich hätte ſie wieder erfannt, und 
wenn fie mir in dem bunteften Maskeradenſcherz entgegen= 
gefommen wäre. Webrigens weiß ich doch jebt, wo fie wohnt 
— denfe Dir, wie e8 mir heute Morgen ging‘ und jebt erzählte 
er dem Freunde die Lift, die er gebraucht, um ihre Wohnung 
aufzufinden. 

„Und wie ijt ihr Name?‘ 

‚Don Rankhorſt heißt ihr Vater.‘ 

„Oberforſtmeiſter außer Dienft?‘ rief Kurt rad. 

„Ich glaube ja — ja wohl — ganz recht.‘ 


103 


„Das trifft fi) ſonderbar,“ fagte der junge Mann Topf 
ſchüttelnd, ‚mein Vater Hat es mir auf die Seele gebunden, 
den alten Herrn aufzufudhen, denn Beide find intime dreunde, 
wenn fie auch weit von einander entfernt gewohnt und ſich in 
langen Jahren nit al haben.‘ 

„And willſt Du ihn aufſuchen?“ rief Alfred raſch. 

„Gewiß will ich,‘ Yautete die Antwort. 

„Out, dann begleite id Dich,“ rief Mfred entf ſchloſſen, 
„Hulda kann mic in der That nicht erkannt haben, ſonſt hätte 
ſie mir das durch ihr liebes Lächeln gezeigt und nis nicht 
jo fremd und erftaunt angejehen, und bei dem alten Herrn bijt 
Du dabei gleich im Stande mid) einzuführen. Das trifft fich aus— 
gezeichnet.‘ 

„ber unter welhem Vorwande?“ frug Kurt. 

„Hm,“ meinte Alfred, aber doch nicht ganz mit fich einig, 
„ich — fann Di) ja vielleicht nur begleiten — wir haben uns 
hier zufällig getroffen — oder auf meine Befanntichaft aus 
Ludwigsroda hin. Das geht ja doch, daß ich mich nach. dem 
Befinden der jungen Dame erfundige — tft wenigitend jehr 
natürlich.‘ 

„Das allerdings,‘ lachte Kurt; „nun, auf Deine Verantwor- 
tung, denn tiefen Eindruck kannſt Du auf die Dame Deines 
Herzens, wie mir faſt jcheinen will, nicht gemacht haben, oder 
fie würde Dich unter jeder Verkleidung ſelbſt wieder erkannt 
haben.‘ 

„Es war ja nur ein Moment, daß ich fie ſah,“ entfchuldigte 
fie Alfred, „aber wann gehen wir?“ 

„Denn e8 Dir recht ift, diniren wir hier oben zuſammen. 
Der alte Herr wird jedenfall fein Nachmittagsſchläfchen halten, 
und wir treffen ihn nachher bei feiner langen Pfeife und einer 
Taſſe Kaffee in beſter Laune.“ 

„Abgemacht!“ rief Alfred erfreut aus, und die beiden jungen 
Leute, die bis dahin unter den Bäumen auf und ab gegangen 
waren, traten jetzt in die Reſtauration. 


„Denke Dir nur, Hulda,“ rief Paula, als ſie nach Hauſe 
kam und lachend auf die Schweſter zueilte, „als ich vorhin 


104 


mit Elſa von Bülow über die Promenade ging, redete mich 
ganz vertraulich ein fremder Dfficier an. Ich erſchrak natür- 
lich nicht fchlecht, Habe ihn aber auch wahrhaftig furz genug 
abgefertigt. 

„Wer war es denn?’ frug Hulda neugierig. 

„Ja, wie fol ich das willen!" 

„Und was wollte er?’ 

„Jedenfalls eine Unterhaltung mit mir anfnüpfen — id 
weiß nicht einmal mehr die Worte, aber wenn ich nicht irre, 
jagte er mir, er würde glüdlich fein, meine Befanntihaft zu 
machen, oder etwas Aehnliches.“ 

„Aber eine folde Unverjjämtheit 1" rief Hulda erzürnt. 
„War es denn noch ein junger Mann?“ 

„Blutjung — er ſah wie ein Cadett aus.“ 

„Dann war's auch vielleicht einer,“ lachte Hulda; „aber 
willſt Du denn nicht ablegen? Wir eſſen gleich.“ 

„Nein, ich bin nur hergekommen, um Mama zu fragen, 
ob ſie mir erlaubt, heute Mittag bei Bülows zu eſſen; Eliſe 
hat mich ſo darum gebeten, und ich habe es ihr auch ſchon 
halb und halb zugefagt. Du ſollteſt aud) mitfommen, aber 
Großpapa ift immer verdrießlih, wenn wir Beide mweglaufen. 
Wo it Mama?" 

„Ich glaube, in ihrem Zimmer — und gehſt Du dann 
‚gleich 2‘ 

„Gewiß — — Herz,“ und die Schweſter umarmend 
und abküſſend, eilte das junge fröhliche Kind hinaus. 

Das Mittageſſen war verzehrt; nachher hielt der alte Ober— 
forſtmeiſter in ſeinem Lehnſtuhl gewöhnlich eine kurze Sieſta, 
und dann trank die kleine Familie zuſammen Kaffee, wobei er 
ſeine Pfeife Knaſter rauchte. Er war einmal daran gewöhnt 
und nahm deshalb auch nur höchſt ſelten und mit Widerwillen 
eine Einladung zu einem Diner an, weil er dort feine Bequem— 
Yichfeit nicht fo haben konnte. 

Die Kölnische Zeitung vor fih, ſaß er da, las bald einmal 
und horchte dann wieder dem freundlichen Plaudern Hulda’s, 
die noch immer viel von ihrer „Reiſe“ zu erzählen hatte, als 
der Burfche hereinfam und dem Oberforitmeifter eine Karte 
brachte, 


4105 


„Zwei Herren wünfhen dem Herrn Oberforftmeifter ihre 
Aufwartung zu machen,‘ meldete er. 

Der alte Herr nahm Fopfihüttelnd die Karte — er wäre 
am liebſten ungejtört geblieben, hatte aber faum einen Blick 
darauf geworfen, als er in jeinem Stuhl emporfuhr und dem 
Diener zurief: 

„Iſt das ein alter Herr, der Dir die Karte gegeben 
bat?’ 

„Nein, Herr Oberforſtmeiſter, noch ein junger Herr.‘ 

„Dann vielleicht der Sohn,‘ rief der alte Oberforftmeiiter 
lebendig. „Herein mit ihm, herein; der darf mir nicht fo 
lange vor der Thür ftehen. Denk' Dir, Paula,‘ rief er 
feiner Schwiegertochter, Hulda’3 Mutter, zu, „Kurt von Stern- 
bad, erinnert Du Dich noch auf meinen alten Freund Stern: 
bach, der damals eine Zeit lang bei uns wohnte? Alle Wetter! 
Das freut mich, wieder einmal von ihm zu hören.’ 

Es blieb ihm feine Zeit, weiter etwas zu jagen, denn 
in dem Moment öffnete fi die Thür, und Kurt, dem Alfred 
ſchüchtern folgte, betrat das Kleine freundlihe Gemad, wo 
ihm der Oberforjtmeifter Schon mit beiden ausgeitredten Händen 
entgegenfam. 


„Sind Sie ein Sohn meines alten Kurt, des Landjäger: 
meilter von Sternbach?“ 

„Der Sie durch mich taujfendmal grüßen läßt, verehrter 
Herr.” 

„Dann feien Sie mir herzlih und wieder und wieder will- 
fommen, mein junger Freund,’ rief der Oberforftmeifter, indem 
er ihn ohne Weiteres in die Arme nahm und ihm einen derben 
Kuß auf die Wange drüdte „Hier, Paula,“ rief er dabei 
jeiner Tochter zu, „der Sohn meines liebſten und beiten 
Freundes, den ich auf der Welt fenne, wenn wir und aud) 
faft ein paar Jahrzehnte niht um einander befümmert 
haben, Hulda, meine Enkelin, lieber Kurt — ſeien Sie mir 
nicht böfe, daß ih Sie Kurt nenne, aber ein anderer Name 
will mir nit über die Lippen. Hulda’3 Schweiter, Paula, 
lieber Kurt, ift gerade heute nicht zu Haufe.’ | 

Kurt von Sternbach wechſelte die Begrüßungen. 


106 a 


„Mein gnädige® Fräulein,’ ſagte er Dabei, „ich glaube, 
nein, ich bin fejt überzeugt, dag ih ſchon kürzlich in Ludwigs— 
roda dad Vergnügen hatte, Ihnen zu begegnen, mit feiner 
Ahnung freilih, wer Sie wären, und hier mein Freund Alfred 
von Beriting war, wie ich weiß, ebenfalls fo glücklich, dort 
Ihre DBelanntfchaft zu machen. Mein lieber Herr Oberforft: 
meifter, darf ih Sie befannt machen?‘ 

Hulda hatte merfwürdiger Weiſe bei der Anrede einen 
diden rothen Kopf befommen und fih ſchon verlegen gegen 
den fie ftumm, aber ehrfurchtsvoll begrüßenden jungen Dfficier 
verneigt. Der Oberforjtmeifter aber, dem dies vollitändig 
entging, empfing den jungen Officier ebenfall3 in feiner jovialen 
gemüthlihen Weile. Hulda's Mutter beorderte gleich friſchen 
Kaffee für die Herren, und kaum zehn Minuten jpäter ſaßen 
Ale plaudernd und erzählend jo gemüthlih um den großen 
runden Tiſch, als ob fie ſeit Jahren befannt geweſen wären 
und fich nicht erjt feit wenigen Minuten gefunden hätten. 

Und Alfred ſchwelgte in Seligfeit. Hulda war allerdings 
anfangs etwas befangen geweſen, aber das verlor fi bald 
wieder. Als Kurt nun fogar dem alten Waidmann in humo— 
riftiicher Weile erzählte, wie und wo er jeinen Freund Alfred 
zum erjten Mal wieder getroffen, und in welcher Art ihm diefer 
auf der Jagd gedient, wollte fi) der alte Herr vor Laden 
ausſchütten, und ſchon dadurch war ein heiterer, ungezwungener 
Ton in das Ganze gefommen. Die Zeit verging ihnen auch 
jo rafh, daß es ſechs Uhr wurde, ehe fie an den Aufbrud 
dachten, und Alfred befand fich gerade noch in eifrigem Geſpräch 
mit Hulda, welcher er einige von Ludwigsroda mitgebrachte 
Photographien gezeigt. 

„Ach, da hab’ ich noch hübſchere!“ rief Hulda lebhaft, „das 
bier find nur Bilder von Gebäuden und Anlagen, wir haben 
aber einige reizende Waldlandichaften mitgebraht, die den 
richtigen Charafter der dortigen herrlichen Berge wieder: 
geben.‘ 

Damit huſchte fie zur Thür hinaus, um die Photographien 
zu ſuchen. Kurt aber, der indeß ſchon Abichied von dem alten 
Herrn genommen und ihm verfprochen hatte, feinen Beſuch 
recht bald zu wiederholen, drängte zum Abſchied, und Alfred, 


107 


der gern noch länger geblieben wäre, Eonnte dafür feine Ent: 
ſchuldigung finden. 

Draußen, als Hulda eben in ihr eigenes Zimmer hinüber- 
eilte, Fam ihr gerade Paula entgegen, die dort ihren Hut und 
Shawl abgelegt und in das Wohnzimmer hinüber wollte, 

„Wir haben Beſuch, Paula,” rief fie der a zu, 
„bitte, gehe hinein, ich komme gleih nad.‘ 

,„Beſuch? wen? 

„Den Sohn eined Sugenbfikundes von Großpapa, geh’ 
aur hinein, er wird Dir Schon gefallen.’ 

Als Paula das Zimmer betrat, kam ihr Alfred entgegen: 
„Run, mein gnädiges Fräulein, haben Sie die Photographien 
ſchon?“ 

Paula ſah ihn verwundert an; ſie erkannte im Moment 
den jungen Officier von heute Morgen und wich faſt ſcheu 
vor ihm zurück. Wie kam der hierher? 

„Meine Enkelin Paula,“ ſtellte ſie der alte Herr vor. 
„Kurt von Sternbach, mein Kind, und Lieutenannt von 
Berfting.” 

„Die Uehnlichkeit mit Ihrer andern Tochter ift aber fabel- 
Haft!’ rief Kurt, „es find Zwillinge, nicht wahr?“ 

„And Beides ein paar liebe, gute Kinder,‘ nidte der alte 
‚Herr vergnügt. 

Alfred jtarıte fie an, als ob er einen Geift gejehen hätte. 
Das war nicht Hulda? und doch wieder Hulda mit jedem 
‚Zug ihres Tieben Gefihts, mit jedem einzelnen Theil ihrer 
Kleidung, mit den lieben blauen Mugen, den Fleinen reizenden 
Grübchen, dem ſchelmiſchen Lächeln, als fie jebt errieth, daß 
Der junge Mann fie jedenfalls für die Schweiter gehalten. 
Und jeder Ton ihrer Sprache, dabei jede Bewegung, — es 
war rein zum DBerzweifeln, daß gerade fein deal doppelt 
exiltiren follte. 

Die jungen Leute da hatten ſich verabſchieden wollen, durch 
Paula's Erſcheinen war ihnen aber eine neue Feſſel angelegt 
worden, und während ſich beſonders Alfred nicht losreißen 
konnte, wurde er zuletzt, als Hulda nun ebenfalls zurückkehrte, 
und er Beide neben einander ſah und mit einander vergleichen 


108 N 


fonnte, oder vielmehr im Gegentheil nad, einem Unterſchied 
fuchte, ganz verwirrt. 

AS er endlih, und fait Schon gegen Abend, mit dem 
Freunde zurüd nad Altitadt ſchritt, waren beide junge Leute 
anfangs ſehr ſchweigſam und Jeder augenjcheinlid mit feinen 
eigenen Gedanken beichäftigt, bis Kurt endlich frug: 

„un, Alfred, was jagt Du zu den beiden jungen 
Damen? Welche gefällt Dir beſſer?“ 

„Welche?“ ermwiderte der Lieutenant, aber immer nod wie 
in einem halben Traume, „ja, das iſt ja eben die verzweifelte: 
Geſchichte, Kurt, daß ich gar nicht weiß, welches welche tft.” 

„ie 502% lachte der junge Mann, „was meint Du 
damit?“ 

„Das iſt ſehr einfach,“ ſagte Alfred. „Haſt Du nicht 
bemerkt, daß die Eine von ihnen an der Schulter eine kleine 
weiße Schleife trug und die Andere eine jeegrüne? Daran 
hielt ih mich anfangs.‘ | 

„Ja gewiß,“ nidte Kurt, „Hulda hatte die ſeegrüne.“ 

„Bar das Hulda?‘ 

„Und weißt Du dad nit?“ 

„Ich wußte e8 anfangs, aber ich gebe Dir mein Ehren- 
wort, daß ich zuleßt irre wurde, ich hatte es rein vergeflen. 
oder verwechjelt, und nachher war ich nicht mehr im Stande, 
fie wieder heraus zu erkennen.‘ 

„Aber wie ift das möglich!" rief Kurt, „ich wollte Hulda 
unter Zaufenden von Zwillingsichweftern heraus erkennen, und - 
wenn fie ſämmtlich gleichfarbige Schleifen trügen.“ 

„Unfinn, “ſagte Afred, „Du findeit fie eben jo wenig . 


wieder wie einen beftimmten Grashalm mitten auf einer großen - . 


Wieſe.“ 

„Aber ich verſichere Dich, daß mich mein Auge feinen Mo⸗ 
ment täuſchen würde.“ 

„Ich war wie vor den Kopf ge ſchlagen,“ bemerkte der Lieu— 
tenant, „und wenn ich mich einen Augenblick abwandte und 
ſah wieder hin, fo mußte ich immer erſt nach der Schleife, 
ſuchen, um die Rechte heraus zu finden.‘ 

„Du wirft alfo jet im Traume Alles doppelt ſehen,“ 
lachte Kurt. 


109 


„Wahrhaftig, Du haft Recht,“ rief Alfred. „Aber jage 
mir felber, ift da3 Mädchen nicht bezaubernd ?'' 

„Welches?“ frug lächelnd fein Gefährte, 

„Beide! jtieß Alfred heftig hervor. „Ich kann jebt 
noch feinen Unterſchied zwifchen ihnen machen, den muß erft 
die Zeit herausstellen ; aber ſei verfichert, zehn Jahre meines 
Lebens gäb’ ich darum, wenn ich Paula nicht gefehen hätte,“ 

„Welches war doch Paula? frug Kurt unbefangen, „Die 
mit der grünen oder weißen Schleife?‘ — Alfred ſah ihn 
verwirrt an. 

„Ich will auf der Stelle Sterben, wenn ich's jebt- wieder 
weiß,‘ rief er endlich heftig aus, „Es ift rein zum Verzweifeln, 
Kurt, und ich muß nur erjt fehen, daß ich meine Sinne wieder 
ein wenig zu einander befomme. Weberlaß mich eine Zeit lang 
mir Selber, denn jeßt wirbelt mir der Kopf.‘ 


4. 
Schluß. 


Acht Tage waren vergangen, und draußen in der Welt 
war während der Zeit eigentlih nichts DBefonderes gefchehen, 
defto mehr dagegen in des alten Dberforjtmeifters Haufe, wo 
eine augenfcheinliche Veränderung ftattgefunden hatte, 

Hulda nämlich, jonft faft ausgelafjen in ihrer Fröhlichkeit 
und unerfhöpflich heitern Laune, ſchien ihren Charakter ganz 
verändert zu haben, denn fie fonnte zu Zeiten Halbe Stunden 
lang ftil und nachdenkend an ihrem Nähtiſch ſitzen und ihre 
Arbeit total vergellen, und Paula merkte das am erjten und 
nedte fie deshalb. 

Lieutenant von Berfting ſowohl als Kurt von Sternbad 
hatten fie allerdings noch verſchiedene Male befucht, wenn aud) 
nicht wieder gemeinfhaftlih, und Baula wußte jebt, daß gerade 
diefer junge Lieutenant Hulda's Courmacher geweſen, während 
es ihr zugleich nicht entging, daß er hier jedesmal in die größte 
Berlegenheit gerieth, wenn er ihr manchmal zuerjt begegnete und 


110 —— 


dann nicht gleich wußte, welche der Schweſtern er gerade vor ſich 
hätte, Nur in den zwei lebten Tagen ſchien er es fich gemerkt 
zu haben, daß Hulda, welches Kleid fie auch trug, eine dunklere 
Schleife als Paula auf das ihrige befeftigte, und er war 
dadurch ficherer geworden. | 

„Hulda, Hulda,“ jagte Paula, als fie die Schweſter wieder 
einmal ertappte, wie fie Halbträumend an ihrem Nähtifh ſaß 
und über ihre Arbeit hinaus ftarrte, „was ift eigentlich mit 
Dir? Du bift nicht mehr mein fröhlicher, Teichtherziger Schak- 
von früher. Sollte vielleicht Das ftehende Heer —“ 

Ein lichtes, ſonniges Lächeln flog über Hulda's Züge, die 
fi) freilich bei den erjten Worten tief geröthet hatten. 

„Das ftehende Heer hat nicht? damit zu thun, Paula,“ ſagte 
fie dabei, und um ihre Lippen zudte e8 wie das Sonnenlicht 
auf einem murmelnden Bad; „übrigens weiß ich auch gar nicht, 
wad Du willft, denn ich begreife nicht, worin ic) mich ver: 
ändert haben fol. Daß ich zu Zeiten einmal ein wenig ernfter 
bin, ad, Herz, das fommt ja doch wohl überhaupt mit den 
Jahren.“ | 

„Ja, befonderd mit ſiebzehn,“ lachte Paula; „nein, was 
die Jahre betrifft, jo haben wir alle Beide da wohl nod) nicht 
mitzureden.‘ 

„Wir find ſchon ſiebzehn gemejen, Paula.‘ 

„Ja, vor fünf Wochen, vorgeftern war’3 gerade ein Monat;. 
aber da Du mir immer — da geht er wieder,‘ unterbrad) fie 
ſich raſch, als fie zufällig einen Blif aus dem Yenfter warf. 

„Wer?“ frug Hulda und wurde doch jebt wirklich blutroth, 
indem fie unmillfürli halb von ihrem Stuhl emporfuhr. 
Paula lachte. 

‚Run, Dein Shmachtender Lieutenant; er läuft fi ja fait 
die Füße auf der Promenade da drüben ab. So ein Lieutenant 
auf Urlaub ift doch wirklich etwas Schredliches !'' 

„Mein Lieutenant?‘ fagte Hulda, indem fie den Kopf, fait: 
ein wenig böfe, abdrehte, „wie Fannft Du ihn nur meinen 
Lieutenant nennen. Ich bin doch fein General!” 

„ber er gehorcht Dir genau fo, als ob Du einer wäreſt.“ 

„Ach, Du bift thöricht! Er hat eben nichts auf der Gottes— 
welt zu thun und braucht eine Cur, und da wird ihm der: 


111 


Doctor wohl die Königsbrüder Straße zur Laufbahn verordnet 
haben, weil die hübſch Yang iſt.“ 

„Jetzt dreht er wieder um,‘ ſagte Paula, die ihn indeffen 
von der Gardine verdedt beobachtet hatte „wahrhaftig, ich glaube, 
er wendet ich diefer Seite zu, dann kommt er auch jeden: 
falls herauf.’ 

„Es war doch höchſt komiſch,“ meinte Hulda, „daß er uns 
anfangs immer verwechſelte. Er kam dabei aus der Verlegen— 
heit gar nicht heraus.“ 

„Aber jebt kennt er und,‘ lachte Baula, ‚er hat es mir 
neulich verrathen, und zwar an den Schleifen, weil Du ja im- 
mer die dunklere trägſt.“ 

„Alſo das hat er endlich herausgefunden; fieh, fieh, deshalb 
fam er mir auch feit einigen Tagen jo zuverfichtlic vor.’ 

„Er kommt wirflih aufs Haus zu,“ rief Paula, „dort 
hält er über die Straße. 

„Dann ſei Du fo gut und bleib hier,‘ rief Hulda, raſch 
von ihrem Stuhl emporfahrend, „ih muß hinüber zu Grof- 

apa.“ 

„Oh bitte, Tiebes Herz,“ rief aber Paula, der Schwefter den 
eg vertretend, „Deinetwegen fommt er nur hierher, und ich 
denke gar nicht daran, die Honneurs für Dich zu machen. ni 

„Beſte Paula!“ 

„Nein, wahrhaftig nicht! Du darfſt Deinen Ritter nicht ſo 
enttäuſchen.“ 

„Aber er iſt gar nicht mein Ritter.“ 

„Du kannſt es nicht leugnen,“ rief Paula, ſie neckend, 
und wollte eben zur Thür hinaus, als Hulda ihr nachrief: 

„So laß uns wenigſtens die Schleifen tauſchen!“ 

„Wahrhaftig, Du haſt Recht,“ rief das junge heitere 
Weſen, raſch auf den Gedanken eingehend, „dann wird der 
arme junge Menſch aber ganz confus. Geſchwind! da geht 
ſchon die Hausthür.“ 

Mit haſtigen Fingern ſteckte ſie Hulda ihre helle Schleife 
an und glitt dann in das Nebenzimmer, um durch dieſes hin 
dem Nahenden auszuweichen. Es dauerte auch nicht lange, 
ſo meldete das Mädchen Herrn Lieutenant von Berſting, und 
gleich darauf betrat Alfred die Wohnſtube der Familie, die 


112 Ä 
‚eine fo fabelhafte Anziehungskraft auf ihn ausübte, daß er, 
wie Karl der Große den See nicht meiden fonnte, in dem der 
geheimnißvolle Ring lag, diefen Plab zehnmal täglich um: 
Ihritt und fehnfüchtige Blide hinauf warf. Hulda war hier 
freilih der Talisman, der ihn bannte und immer und immer 
wieder in dieſelbe Straße zog. 

Als er das Zimmer betrat und die junge Dame ehrfurchts— 
vol begrüßte, hatte der Ausdrud feines Gefichts aber troßdem 
etwas Scheues oder Vorfihtiges; er war noch nicht im Stande 
geweſen, die Farbe der Schleife zu erfennen. Er hätte freilid) 
darauf ſchwören mögen, daß er Hulda vor fi habe, ſich aber 
doch ſchon fo verſchiedene Male getäufcht, um Feineswegs ficher 
zu fein. Im nädften Moment entdedte er dabei das helle 
Band und fchien jet nicht einmal geſonnen, jeine Mütze ab- 
zulegen. 

„Sie entichuldigen, mein gnädiges Fräulein, daß ih Sie 
ſtöre. Ihr Herr Papa ift wohl nicht zu Haufe?“ 

„Es thut mir leid,“ fagte Hulda, während fi die Fleinen 
Grübchen wieder reizend zufammenzogen, denn es fonnte ihr 
nicht entgehen, daß der Beſuch nad der Schleife gejucht Hatte 
und jebt völlig enttäufht war. „Papa ift ein wenig außge- 
gangen. Er befam heute Morgen den Beſuch eines alten 
Freundes und führt diefen ein wenig in der Stadt herum.“ 

„And Ihre Frau Mama?’ 

„In ihrer Stube, wünſchen Sie fie zu ſprechen?“ 

„Oh nein, bitte ſehr,“ ſagte Alfred, faft ein wenig zu 
raſch, „ich — wollte mich nur nad) ihrem Befinden erfundigen.‘' 

„Oh, ih danfe Ihnen,” fagte Hulda und mußte an fid 
halten, um nicht ihren Muthmwillen zu verrathen, „es geht ihr 
ziemlich gut; nur gejtern hatte fie ein wenig Kopfſchmerzen.“ 

‚Das bedauere ich recht jehr, das Wetter war auch in der 
lebten Zeit jo jehr veränderlich.‘‘ 

„Finden Sie? Ich dächte, wir hätten prachtvollen Sonnen- 
ſchein gehabt.‘ 

„In der That, aber die ſehr große Hitze,“ ſagte Alfred 
verlegen, denn die Wetterbemerfung war ihm nur fo unbes 
dacht entfahren. „Ihre — Ihre Fräulein Schweiter ift wohl 
ebenfalls ausgegangen? Als mich vorhin mein Weg hier vor- 


113 


über führte, war es mir fait, als ob ich die beiden jungen 
Damen bier an den Fenftern gejehen hätte, die Straße ift 
aber fo breit, ich kann mich geirrt haben.‘ 

„Oh nein,‘ fagte Hulda, „wir waren Beide hier; die 
Schweiter Hat aber die Woche in der Wirthihaft und fteht 
ihrer Arbeit vor.‘ 

Das Geſpräch ſtockte wieder; Mlfred hatte ſich auf eine 
einladende Bewegung Hulda's niedergelafien, aber er faß nur 
auf der Ede feines Stuhls, als ob er jeden Augenblick wieder 
aufftehen wollte, und ſchien fich überhaupt nicht beſonders be— 
haglich zu fühlen. Er begann allerdings auf's Neue eine 
Unterhaltung, aber es blieb eben bei fürmlichen Redensarten 
und Oemeinpläßen, und Hulda amüfirte fih nur im Stillen 
über die unverfennbare DBerlegenheit de8 jungen Mannes, 
Endlich aber ritt er fih felbit in diefen nichtsfagenden Be— 
merfungen fejt und ftand auf, um Abſchied zu nehmen. 

„Mein gnädiges Fräulein, wenn ic) Sie noch bitten dürfte, 
nich den lieben Ihrigen auf das Freundlichite zu empfehlen.‘ 

„Ich werde ed gewiß ausrichten, Herr von Berſting.“ 

Alfred athmete hoch auf, als er endlich wieder vor der 
Thür war, und beflagte nur fein Mißgeſchick, Hulda heute 
nicht getroffen zu haben, In der Schweiter Nähe aber, ob- 
gleich fie der Geliebten jo ähnlich war, daß er die Beiden 
nicht einmal zu unterfcheiden wußte, wenn er fie nebenein- 
ander jah, befiel ihn ſtets, vielleicht gerade in Folge davon, 
ein gewiſſes unheimliches Gefühl. Es war die Form und 
nit das Herz, ed war, was er hätte ein Trugbild feines 
Ideals nennen mögen, das immer nur jtörend mehr als ver- 
ſöhnend zwiſchen feine Liebe trat. 

Eben als er daS Zimmer verließ und über den Gang 
hinüber nach der Ausgangsthür zu wollte, öffnete fih ſchräg 
‚gegenüber die Küchenthür, und Hulda — trug fie denn nicht 
die dunkle Schleife! — trat heraus. Im erften Moment 
freilich, als fie ihn bemerkte, war es faft, als ob fie zurüd- 
fahren wollte und ſich fheute, ihm zu begegnen — geſchah 
das ihrer Haustraht wegen? — oh, wie Unrecht hätte fie 
daran gethan, denn gerade darin und mit der fchneemweißen 
Schürze ſah fie gar fo allerliebit aus. 

dr Gerftäder, Erzählungen ac. 8 


114 n 


Bon Beriting war blutroth geworden, al3 er fie erblidte, 
aber mit raſchen Schritten eilte er auf fie zu, und ihr die 
Hand entgegenftredend, fagte er, und feine leuchtenden Blicke 
bezeugten dabei die Wahrheit feiner Worte: 

„Mein gnädiges Fräulein, Sie glauben gar nicht, wie ich 
mich freue, daß mir wenigſtens die kurze Gelegenheit geboten 
it, Sie begrüßen zu können.“ 

„Kerr von Berſting,“ fagte die junge Dame lächelnd, „Sie 
find jehr gütig.‘ 

„Bräulein Paula,‘ fuhr aber Alfred beredt fort, „ſagte 
mir ſchon, daß Sie heute mit häuslichen Arbeiten ſehr be— 
ſchäftigt wären.“ 

„Paula?“ erwiderte die junge Dame anſcheinend er⸗ 
ſtaunt. „Sie verwechſeln ung Beide wahrſcheinlich — Paula 
bin id.‘ 

„Ste? rief Alfred, jest völlig verwirrt gemadt, und 
jein Blick flog unwillfürlih und zweifelnd nad der dunkeln 
Schleife, „aber wie iſt das möglich — da drinnen Ihr Fräulein 
Schweiter —“ 

„Iſt Hulda, mit der Sie zufammen in Ludwigsroda waren,‘ 
lächelte Paula. 

„Ja, aber ih dachte —“ ftotterte Alfred. 
| „Sie dachten? — was?“ frug Paula und jah ihn dabei 

mit einem faſt ein wenig malitiöß freundlichen Blick ihrer 
Haren blauen Augen an. 

„Ich — ich dachte, dag die — die Schleifen —“ 

„Welche Schleifen ?‘' frug Paula vollfommen unbefangen. 

„Jun, die Schleifen, die Sie an der Schulter tragen,“ 
fuhr Alfred, ſich ein Herz faſſend, fort, „für Sie eine be— 
ſondere Bedeutung hätten.“ 

„Um uns von einander zu unterſcheiden?“ lachte Paula 
jeßt gerade heraus. 

„Ich will nicht fagen, das,’ erwiderte der junge Mann 
verlegen, „aber daß fie doch wenigſtens als — als eine Art 
Abzeichen dienten.‘ 


„Für den Tag vielleicht,‘ meinte Paula, „aber wir 
wechfeln häufig damit, und wenn Sie weiter Fein Kennzeichen 


115 


haben, können Sie ſich doch nicht gut, wenigſtens nicht ficher 
danach richten.” 

„Aber, mein gnädiges Fräulein,’ fagte Alfred verwirrt, 
„Die ganze lebte Zeit, wo id) das Glück hatte, Ihr Haus be- 
ſuchen zu dürfen, konnte ich mich doch To vortrefflih nach den 
Schleifen richten, — daß — 

„Ste mandhmal mich al3 Hulda und Hulda als Paula 
begrüßten,“ jagte da3 junge Mädchen, und von Berfting 
fonnte der Spott nicht entgehen, der in den Worten Yag. 
„Sie find furzfihtig, nit wahr?” febte die junge Dame 
noch außerdem hinzu. 

„Ich babe Augen wie ein Falke,“ rief Alfred raid. 

„Dann wundert es mich in der That, und ift wenig. 
jchmeichelhaft für uns Beide,’ meinte Paula. „Ein Unter- 
ſchied muß doch in unferen Zügen liegen, denn jo ohne Aus= 
drud find wir doch nit wie eine Eierſchale.“ 

„Mein gnädiges Fräulein, bat Alfred. „Sie jhmähen 
fich jelber. Gerade der lebendige Ausdrud in Ihren Zügen 
ift es ja, der mich verwirrt, denn unaufhörlich wechjelt der 
vom Heitern zum Ernſten und wieder zurüd, Wenn Gie 
fih nur ein klein wenig verfchieden Heiden wollten!‘ 

‚DBielleiht in die Landesfarben,“ lachte Paula, ‚jo daß 
wir nachher in der Stadt nach) unferer Couleur die „Grüne“ 
und die „Weiße genannt würden. Ich danke Ihnen, aber 
Sie müſſen mid) jetzt entſchuldigen,“ brach fie das Geſpräch 
ab, „denn meine Pflicht ruft mich. Wenn Großpapa zurück— 
kommt und das Eſſen iſt nicht fertig, ſo zankt er,“ und mit 
einem freundlichen Kopfnicken huſchte ſie in eine der Kammern 
hinüber. 

Alfred ſtieg wie in einem Traume die Treppe hinunter. 
Unten vor der Hausthür begegnete ihm der Oberforſtmeiſter, 
aber er ſah ihn gar nicht, ſchritt quer über die Straße hinüber 
und wanderte ſo lange in tiefen Gedanken fort, bis er zu— 
letzt eine Hand auf ſeiner Schulter fühlte und ſich angerufen 

örte. 
„Hallo, Alfred! ſo in Gedanken? Wo kommſt Du her, 
und — was liegt Dir auf dem Herzen?“ 

Der junge Mann ſah raſch und faſt erſchreckt auf, den 


8* 


116 $ 


Freund aber erfennend, nahm er deſſen Arm und jagte, ihn 
mit ſich fortziehend: 

„Ich werde noch verrüdt, Kurt, etwas Derartiges tft mir 
in meinem ganzen Xeben noch nicht paffirt.‘‘ 

„Du biſt auch noch fehr jung,‘ lächelte der ältere Freund, 
„aber was ift es, wenn ich fragen darf?‘ 

„Ich komme eben von Rankhorſts und — muß Dir ge 
ftehen, daß ich mir erſt feit einigen Tagen eines Gefühls 
far geworden bin, von dem ich mir felber feine Rechenſchaft 
geben kann.“ 

„Du liebſt Hulda, denke ih, und ſchwärmſt für fie —“ 

‚Sa, und das it erflärlih, denn wer könnte fie fehen 
und fie nicht lieben, aber das Unerflärliche dabei bleibt, 
daß ich gerade das entgegengejeßte Gefühl für ihre Schweiter 
empfinde.‘ 

„Thorheit,“ lachte Kurt, „wie kann man etwas hafjen, das 
genau und zum Verwechſeln fo ausfieht, wie dad, was man 
wirklich liebt?“ 

„Du nennt gleich den Grund mit, ſagte Alfred; 
„es ift eine verzweifelte Geſchichte, denn ih bin nicht im 
Stande, fie von einander zu unterfcheiden, und jehe dabei 
fein Ende ab.‘ 

„Aber Du haft mir doch ſelbſt verfichert, daß Du ein vor— 
zügliches Mittel dazu an den Schleifen hättet.“ 

„Aber die vertaufhen fie ja, rief Alfred heftig aus, 
„und ich habe mich jebt in gegründetem Verdacht, mehrere 
Male Paula die jchönften Dinge gejagt zu haben, während 
ih Hulda vernadläffigte' — Kurt lachte — „aber das 
Schlimmſte dabei iſt,“ fuhr der junge Mann erregt fort, 
„daß ſie es abfichtlih thun, allein um mid irre zu führen, 
und diefen Zuſtand ertrage ich nicht Länger.” 

„Sollten fie es nicht nur im Scherz gethan haben?’ 

„Ein Schlechter Scherz, der mir das Herz zerreißt,“ er- 
widerte Alfred düfter, „und trauft Du mir nidt fo viel 
Seelenkenntniß zu, daß ich die Züge von anderen unterſcheiden 
würde, in denen ich wirkliche Liebe für mich läſe. Es ſind 
ein paar Koketten, weiter nichts.“ 

„Du Bu ihnen Unrecht, Alfred. u 


117 


„Lehre Du mich Menſchen kennen,“ fagte der junge Mann; 
„aber es geht auch nicht anders, eine Entſcheidung muß in 
der nächſten Zeit getroffen werden, oder ich gehe dabei zu 
Grunde.‘ 

„Du meinft damit, daß Du vernünftig werden wirft.‘ 

„Kurt! rief Mfred gefränkt, „wir find alte treue Freunde, 
aber geh auch nicht zu weit.“ 3 

„Ich will Dich nicht Fränken, aber wenn Du Dir Deiner 
eigenen Gefühle Kar und dabei überzeugt bijt, in Deinen 
Sahren einen Hausjtand gründen zu können, weshalb ſprichſt 
Du nicht einmal offen mit Hulda und hörft dabei, was ſie 
dazu jagt? Ihre Meinung mußt Du doch auch erfahren!‘ 

„And wenn ich dann wieder aus Verſehen an die Falfche 
fomme?’ jagte Alfred in faft komiſcher Verzweiflung. 

„Das wäre freilich ein böfer Spaß,“ lachte Kurt, ‚wenn 
Du der, die Du verihmählt, ohne e8 zu willen, Deine Liebe 
erklärteſt.“ 

„Ach Kurt,“ ſagte Alfred unwillig mit dem Kopfe ſchüttelnd, 
„ich weiß ja ſelber nicht, wie es mit mir ſteht. Manchmal 
glaube ich, ich haſſe Paula, und dann werde ich auch wieder 
an mir irre. Ich bin der unglücklichſte Menſch, den es auf 
der Welt giebt.“ 

„Du redeſt, als wenn Du ſechzig Jahre ſtatt einundzwanzig 
zählteſt.“ 

„An Erfahrung bin ich's,“ rief der junge Mann, ſelber 
faſt von dem überzeugt, was er ſagte, „aber laß mich jetzt. 
Der Kopf wirbelt mir, ich muß mit mir allein ſein und 
erſt wieder klar denken können, dann erſt werde ich handeln,“ 
und Kurt's Arm loslaſſend, bog er rechts in die nächſte 
Straße ein. 

So vergingen mehrere Tage, ohne daß Kurt das Oeringite 
von dem Freunde ſah; nur bei Rankhorſts erfuhr er, er habe 
nod zweimal vorgefprochen, fi dann aber nicht wieder jehen 
laſſen. Kurt fuchte ihn jetzt felber verichiedene Male in feinem 
Quartier auf, fand ihn aber nie zu Haufe und hörte dag lebte 
Mal ſogar von feinen Wirthsleuten, dag der Herr Lieutenant 
morgen abzureijen gedenke. 

Am nähften Morgen ſaß Kurt eben bei jeinem Frühftüd 


118 i 


und der Zeitung, als es jtarf an feine Thür pochte und im 
nächſten Moment auch Mfred auf der Schwelle ſtand. 

„In Reiſekleidern?“ rief ihm Kurt entgegen, denn der 
Freund war wieder in Civil. 

„Wie Du ſiehſt, ja, aber ich wollte Dir vorher doch noch 
Lebewohl jagen.‘ 

„Halt Du ſchon von Rankhorſts Abſchied genommen?’ 

Alfred erwiderte die Frage nicht gleich, er jah den Freund 
erjt eine Weile ſtarr an; endlich fagte er: 

„Erlaube mir, Kurt, Dir ein Kleines Gedicht vorzulefen, 
das ich einmal vor längerer Zeit irgendwo las und mir ab- 
ſchrieb. Vor einigen Tagen kam es mir wieder zufällig, wenn 
wir in der Welt überhaupt einen Zufall wollen gelten laſſen — 
in die Hände.‘ 

Er nahm ein Blatt Papier aus der Taſche. „Die Ueber: 
ſchrift,“ fagte er, „it: „grau und Schwägerin‘, und das 
Gedicht lautet: 


Sie glihen einander in Allem fo jehr, 

Es gab auf der Welt nichts jo Aehnliched mehr. 

Genau folh ein Blick — wie der Schnitt ihres Kleides — 
Genau ſolch ein Herz — damals glaubte ich Beides, 

Und täglich nur ſchien ed mir mehr einerlei, 

Mer von ihnen Frau oder Schwägerin Jet. 


Doch leider geſteh' ih — 's iſt Ihlimm, aber wahr, 
Der Unterichied wurde erft jpäter mir klar, 

Und jest bin ich endlich dahinter gefommen, 

Daß ih — aus Berjeh'n nur — die Falſche genommen. 
Nun dent’ ih und wünſch' ich fo Hin und her, 

Daß doch meine Frau meine Schwägerin wär’! 


Die Frau? — Papilloten und ſtets Neglige — 

Sie immer frifirt und der Anzug wie Schnee, 

Die Frau voller Launen und mürrii und hikig — 
Sie immer gleich freundlich, zuvorkommend, wißig. 
Der Teufel hat fiher, zur Dual nur dem Mann, 
Die Schwägerin mit in die Che gethan. 


Doch giebt es Vollkommenes hier auf der Welt, 

Mo Trübfal und Aerger vom Himmel oft fällt? 

Die lieblichſte Roſe mu Dornen veriteden, 

Das Licht hat den Schatten — die Sonne ſelbſt Fleden, 
Doch das nur ist, was mich am meijten betrübt, 

Daß es ohne Frau — feine Schwägerin giebt.” 


119 


R „And der Gefahr willit Du Did nicht ausfeßen ?" lachte 
——— 

„ein, fjagte F ganz beitimmt. ‚Ih war no 
ein paar Mal bei Rankhorſts, aber die jungen Damen 
haben es förmlich darauf abgefehen, mich verwirrt zu machen. 
Ebenſo muß der alte Dberforftmeifter mit in das Geheimniß 
gezogen fein, denn er wollte fich neulih, als ih — als id, 
nun, al3 ich wieder einmal nicht wußte, welchen von den beiden 
Heinen Teufeln ich vor mir hatte,’ febte er ärgerlich Hinzu, 
„dor Lachen förmlich ausfhütten, und zum Auslachen halte 
ih mich doch zu gut.‘ 

„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig ift? Er- 
innert Du Dih noch der Worte, die Du mir damals auf 
meine DVernunftgründe entgegnetejt ?’' 

„Allerdings,“ fagte Alfred mürriſch; „wahre Liebe muß 
dann auch einen feiten Gegenftand Haben, auf dem fie haften 
kann, und Einem nicht fortwährend vor den Augen herum: 
flirren. Für wahre Liebe gehört ein bejtimmter Gegenftand, 
dem man fie zumendet, ich gebe Dir aber mein Ehrenwort, 
daß ih bis auf die Stunde noch nicht weiß, welche von 
den beiden Schweitern Hulda oder Paula if. Alſo lebe 
wohl!" 

„Und Du willit wirklich fort —?“ 

„Deine Sachen find ſchon auf dem Bahnhofe.“ 

„Und Hulda?“ 

„Verſuch' Du Dein Glück bei ihr, wenn's Dich gelüftet; 
meine beiten Wünfhe Haft Du dazu. Wenn Du aber 
anfängft, confus zu merden, fo erinnere Did: daß ich 
Di) vorher wohlmeinend gewarnt habe, und zwar ich, der 
Süngere‘ 


Lieutenant von Berfting verließ etwa eine Stunde fpäter, 
ohne fih von Rankhorſts auch nur verabjhiedet zu haben, 
Dresden, um bald nachher wieder in feiner Garnifon ein: 
zutreten. Drei Monate vergingen auch, ohne daß er von 
dort das Geringſte hörte. Da erhielt er eines Tages einen 


120 1 


Brief mit dem Dresdener Poſtſtempel, und als er ihn öffnete, 
fand er eine gedrudte Verlobungsanzeige. 
Hulda von Rankhorſt. 
Kurt von Sternbach. 
Dresden. Großgeringen. 
Darunter aber hatte Kurt nur die wenigen Worte geſchrieben: 
„Am 25. December iſt unſere Trauung; wenn Du 
mir eine Freude machen willſt, ſo komm dazu nach 

Dresden. | 

Dein Kurt. 
Hulda und Paula laſſen freundlih grüßen!’ 

„sa wohl,‘ fagte Alfred vor fich Hin und langfam dazu 
mit dem Kopfe nidend, „weiter fehlte mir gar nichts. Daß 
ih wieder ala erjtes Entree der Falſchen gratulire und die 
Braut und Schwägerin in einem fort verwechjelte. Nein, mein 
lieber Kurt, ich gönne Dir Dein Glück aus vollem Herzen, 
aber mich befommt hr nicht wieder dahinein. Und ohne 
Weiteres an feinen Schreibtifch eilend, warf er ein paar Zeilen 
auf's Papier, fiegelte fie ein und fandte fie augenblidlich zur 
Pol. Der Brief lautete: 


Lieber Kurt! 

Meine herzlichſten und aufrichtigſten Glückwünſche zu Eurer 
Berbindung. Was Deine freundliche Einladung betrifft, fo 
bedauere ih in der That, ihr nicht folgen zu können, da mid) 
der Dienit hier an die Scholle bannt. Ach paſſe auch nicht 
mehr in fröhliche Kreiſe; ich habe mich, feit wir uns gejehen, 
jehr verändert und bin ernft und gefeßt geworden. Erfahrungen 
reifen den Mann, und ich glaube fait, ich habe klüger gehandelt, 
als mancher Andere, der mir gerade an Jahren überlegen 
it. Sch beabfichtige überhaupt nit mehr zu heirathen; die 
Frauen — ftammen alle von Eva ab, und ich glaube fait, 
man bat nie mehr nöthig Jemandem Glück zu wünſchen, 
als wenn er im Begriff fteht mit Einer ihrer Töchter vor 
den Altar zu treten. 

Uebrigens jende ih Dir als Hochzeitsgeſchenk die Abſchrift 
des Fleinen Gedichtes „Frau und Schwägerin”. Ich thu” 
es nicht aus Bosheit, fondern nur um Dich auf das vor— 


121 


zubereiten, was Deiner wartet, wenn Du erſt Hulda — id 
bin in diefem Augenbli nicht gleich) im Stande mich zu er- 
innern, welche von den beiden Schweitern Hulda ift — die 
Deine nennt. 

Lebe wohl, Kurt, grüße Deine Tiebe Braut und Deine 
genau jo liebe Schwägerin, und behaltet in freundlichem An— 
denken | 

Euern 
Alfred von Beriting. 


Der Bierzehnte, 


1.. 


Es war Markttag. Dur die Straßen und in der Nähe 
der Hauptpläße wälzte fich eine dichte Menſchenmenge; Drojchfen 
fuhren, Sleifch- und Gemüfewagen füllten den Fahrweg, während 
Dienftleute und Köchinnen mit großen, ſchweren Handförben 
die Trottoird dermaßen beengten, daß man ungeftoßen gar 
nicht — und auf alle Fälle nur ſehr langlam vorrüden konnte. 

Wem freilih nicht daran lag, raſch von der Stelle zu 
fommen, dem mochte, wenn fi feine Aufmerkſamkeit darauf 
lenkte, in den verfchiedenen Gruppen mander ftille Genuß ge: 
boten werden. Der galante Dienſtmann zum Beifpiel, der dort 
mit rother Mübe, rothem Kragen und rother Nafe für einen 
Silbergroſchen Honorar dem hübſchen Dienftmädchen den Marft- 
korb nah Haufe trägt und fie dabei angenehm zu unterhalten 
judt. Eine Menge von Damen dort, die fonjt nur in Seide, 
wie überhaupt eleganter Toilette ausgehen, jet aber mit dem 
„Markthut“ und in bejcheidenjtem Kattunfleid wahrlich nicht 
zu ihrem Bortheil gegen die jauberen Köchinnen mit ihren 
ſchneeweißen Schürzen, bloßen Armen und netten Hauben ab- 
ſtechen. Dort ſucht eine Dame in einer etwas abgetragenen Sam— 
metmantille, unter der fie jelber den Korb verborgen hat, jonft 
aber äußerft vornehm und refervirt, einer Marktfrau drei Pfennige 


123 


an Blumenkohl abzuhandeln und ſteckt Dabei die derbiten Redens— 
arten der alten Höferin ruhig ein. Da drüben fteht ein 
Sergeant; er hat fie gefunden, und fie ihren Marktkorb 
neben fich geftellt, um ihm einige wichtige Mittheilungen zu 
machen. Beide find aud in fo eifrigem: Gefpräch begriffen, 
daß weder er noch [ie bemerft, wie es — ein großes Windfpiel 
nämlich, ein Stück Fleiſch von etwa drittehald Pfund Gewicht 
vorjichtig und jehr zum Ergöben einiger beobachtenden Schufter- 
‚jungen aus dem Korbe zieht und dann in voller Flucht 
damit die Straße entlang und den Leuten zwiſchen die Füße 
rennt. 

Dort drüben entwidelt fih ein Hauptifandal: der Markt— 
meifter hat, wie fich herausjtelt auf Denunciation — bei 
einer ziemlich refolut ausfehenden Butterfrau einzelne Stüden 
gewogen, zu leicht befunden und den ganzen Waarenvorrath 
derjelben confiscirt. Die Denunciantin war aber leichtfinnig 
genug gemwejen, ji wieder mit an Drt und Stelle zu wagen 
und ihre Genugthuung darüber auszudrüden. Arme „Frau 
Räthin“! fie fonnte Gott danken, als fie nur endlich die Reihe, 
zwiſchen der fie förmlich Spießruthen lief und von deren In— 
fafjen fie mit faulem Obſt und kleinen Handfäfen in finniger 
Weiſe beworfen wurde, erjt wieder hinter fi hatte, und es 
bleibt die Trage, ob fie fich je wieder, außer in Verkleidung, 
auf den Markt wagen darf. 

Und welche interefjanten Berfönlichkeiten trifft man jelber 
unter den alten Marftweibern, die man aber nicht immer nad 
ihrem Geſchäft, und daß fie da um ein paar Pfennige mit 
Gemüſe handeln und fich ereifern, beurtheilen jol. Es find 
Frauen unter ihnen, die ihr eigenes Haus und Grundftüd 
mit Garten, wie ein nicht unbedeutendes Vermögen befiten, 
von dem fie recht gut und behaglih, ohne weitere An— 
ftrengung und befjer als manche Dame in einer Sammelmans 
tille, leben könnten. 

Da drüben die die Frau mit dem rothen, runden Gefiäht, 
dem Kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe, der jcharf ges 
ftärkten Falbelhaube, die ihren diden Kopf wie ein Heiligen- 
ſchein umgiebt, und die nur ſchlichtweg unter ihren Bekannten 
„die Lohbergern“ genannt wird, hat ein Vermögen von über 


124 


fünfzigtaufend Thalern, ein jehr Hübiches, wenn auch Feines Hau? 
mit natürlich einer „guten Stube‘ und giebt Kaffeegeſellſchaften, 
die ſich „gewaſchen haben’. Aber trotzdem fitt fie Winter 
und Sommer, in Sonne und Regen auf ihrem Stand, bei 
großer Kälte mit einem Kohlenbeden unter den Füßen, bei 
Hite mit einem riefigen Strohhut auf dem Kopfe, und verfauft 
felbit die kleinſten Duantitäten von Gemüfe, fogar für einen 
Dreier Beterfilie mit der liebenswürdigften Geduld — fo lange 
man ihr nämlich die Preiſe zahlt, die fie fordert; denn handeln 
läßt fie nicht mit fih, ausgenommen manchmal von einer armer 
rau. Gnade Gott aber, wenn ihr eine „Dame“ in einem 
ſchlumpigen Seidenfleid einen geringeren Preis bietet! 

Mitten dur das Gewühl der Käufer und Berfäufer und- 
quer über den Markt hinüber fchritt ein junger, ſehr elegant — 
ja man konnte faſt jagen auffallend elegant gefleideter Herr —, 
denn ſchwarzer Trad, weiße Weite und Halsbinde mit lichten 
Glacéhandſchuhen, wie ſehr jorgfältig gebürftetem Cylinder 
und ſehr blanfen Stiefeln paßten eigentlich nicht recht in 
diefe Umgebung und zu fo früher Stunde auf die Straße — 
hatte es doch kaum erſt zehn Uhr geſchlagen. 

Der junge Mann achtete aber gar nicht auf den ihn um— 
tobenden Lärm; er ging unmittelbar nach der Attake mitten 
zwiſchen den Butterweibern durch, hörte nicht einmal ihre ent— 
rüſteten Ausrufe und Drohungen, und wenn er ſie hörte, 
kümmerten ſie ihn nicht. Vollkommen mit ſeinen eigenen 
Gedanken beſchäftigt, ſuchten ſeine Blicke rings umher, ſo daß 
er dadurch mit mancher der ihm begegnenden Damen, die 
ihrerſeits ihre Augen auf die Butter hatten, zuſammenſtieß. 
Er entſchuldigte ſich dann allerdings ſtets ſehr artig, jene 
nahmen aber ſelten Notiz davon. Sie waren gewohnt, an 
Markttagen herumgeſtoßen zu werden, und betrachteten das 
als etwas zu dem Einkauf Gehöriges. 

Jetzt hatte er das eigentliche Getöſe des Marktes — wenigſtens 
deſſen unmittelbaren Tummelplatz hinter ſich und wollte eben in 
eine Seitenſtraße einbiegen, als ſein Auge durch einen am Boden 
liegenden blitzenden Gegenſtand angezogen wurde. In dem 
Moment ſah er aber auch, wie ein junges derbes Bauermädel, 
das einen Korb mit Eiern auf dem Rücken trug, gerade den 


4 125 


Fuß darauf ſetzen wollte Mit einem „bitt' um Entfehuldi- 
gung“ fchob er fie deshalb ein wenig ab, bückte fih raſch und 
ob den Gegenjtand auf. | 

„Herr Je!“ rief das Mädel erſchreckt aus — „was machen 
Sie denn für Dummheiten?“ Der junge Mann achtete aber 
gar nicht auf fie, jondern beſchaute nur jeinen Fund und fah, 
Daß es eine Kleine, mit Korallen eingefaßte, aber font ziemlich 
werthlofe Broche war, die nur in der Mitte eine Miniatur: 
Photographie, den Abdrud eines älteren Frauengeſichts trug. 

Der Shmud mußte übrigens in demſelben Augenblick ver- 
loren fein, denn ſonſt wäre er jedenfalls Schon gefunden, oder 
im andern Fall von der jehwärmenden Volfsmenge zertreten 
worden. Unwillfürlich richtete fich der glüdliche Finder empor 
und überflog mit feinem Blick nad rechts und links das 
Trottoir. Nah der einen Richtung jah er indeß nur Bauer: 
frauen und Dienſtmädchen, von denen feine einen ſolchen 
Schmuck getragen haben fonnte; nah der andern ‘aber be- 
merkte er eine junge Dame in einem braunen Geidenfleide 
und einem ähnlich farbenen Hut auf, die gerade vor einem 
dort befindlichen Bilderladen ftehen geblieben war, um die 
ausgejtellten KRunftblätter zu betrachten. — Eben wandte fie 
fih aber wieder, um ihren Weg fortzufeben; der Fremde 
warf noh einen Blif auf den Schmudf, und es war fait, 
als ob er den Fund in der Hand wog, dann eilte er ihr 
nah und hatte fie auch bald überholt. 

An ihr vorüberfchreitend fuchte er ihr Gefiht zu fehen 
und lüftete dabei unmwillfürlich den Hut, zügelte auch feinen 
Gang jo weit ein, daß er dicht bei ihr blieb. Die junge 
Dame hatte allerdings bis dahin ihm nicht einmal den Kopf 
zugewandt, nur als fie die Bewegung des Grüßens bemerkte, 
glaubte fie natürlid im erften Moment, daß es ein Bekannter 
ihrer Yamilie wäre, und ermwiderte, indem fie zu ihm aufjah, 
den Gruß — aber fie erihraf, als fie einen vollfommen 
fremden Menschen neben fih jah, der augenjheinlih im Be— 
‚griff ftand fie anzureden, und wollte ihm jcheu ausweichen. 

‚Mein gnädiges Fräulein, fagte da der Fremde jehr 
artig — „entſchuldigen Sie die Frage, aber haben Sie nicht 
etwas verloren?" & 


126 


„Rein, mein Herr,‘ erwiderte das junge Mädchen, ver: 
wirrt und blutroth, und ſchien nicht übel Luft zu haben, in 
das nächſte Haus zu flüchten. 

„Auch feinen Schmuck?“ beharrte aber der Fremde, und 
jeßt zum erſten Mal vergaß die Angeredete das Unermartete 
der Anſprache, griff erjchredt oben an ihr Kleid und rief 
dann mit offenbarer Beſtürzung aus: / 

„Ah mein Gott! meine Brode.’ 

„Eine Eleine Broche.“ 

„Mit Korallen und einer Photographie.‘ 

„Dann bin ih glüdlich genug, fie Ihnen wieder über- 
reichen zu können,“ lächelte der ehrliche Finder, indem er fie 
ihr mit der rechten Hand, von der er den Handſchuh abge- 
zogen, entgegen hielt. „Sie lag kaum vierzig Schritt von 
bier auf den breiten Steinen und wäre faſt zertreten worden.” 

„Oh wie dankbar bin ich Ihnen!’ rief die junge Dame, 
indem fie den Schmud aus feiner Hand nahm. 

„Bitte, mein gnädiges Fräulein,’ fagte der Fremde ab- 
mwehrend — „es hat mich gefreut, Ihnen einen Kleinen Dienjt 
erwiejen zu haben“ und mit einer furzen Berbeugung verab- 
Ihiedete er fih und ſchritt a Weiteres den Weg zurüd, 
den er gekommen. 

Die junge Dame blieb noch einen Moment wie unſchlüſſig 
auf der Straße ſtehen und ſah faſt unwillkürlich dem Fremden 
nach, der ſogar jeden Dank ver ſchmähte. Dieſer aber ſchaute 
nicht mehr zurück; er ſchien auch in der That den Kopf voll 
von anderen Dingen und das kleine Intermezzo bald vergeſſen 
zu haben. 

Vom nächſten Kirchthurm ſchlug es halb, und er ſah nach 
der eigenen Uhr, um dieſe mit der Stadtzeit zu vergleichen, 
mußte aber doch wohl mit ſeiner Zeit noch nicht gedrängt 
ſein, denn nach einer kleinen Weile drehte er um und wandte ſich 
wieder, trotz ſeines für den Markt nicht paſſenden Anzugs, dem 
dichten Gedränge des Marktes zu, in das er ſich auf's Neue 
miſchte. Fühlte er ſich hier draußen in ſeiner etwas ſehr ele— 
ganten Kleidung genirt? Die Jungen waren allerdings ſchon 
einige Mal auf ihn aufmerkſam geworden — aber möglichenfalls 
hatte er auch bei „vornehmen Leuten”, hohen Gönnern oder 


T2( 


„unteren Beamten’ feine Aufwartung zu machen, war vielleicht 
jogar bejtellt worden, und mußte deshalb nicht allein feine 
Zeit einhalten, jondern auch in der gehörigen „Form“ erjcheinen, 
da es ihm ſonſt jedenfalls „verübelt“ worden wäre. 


2. 


In der Küche der Frau Geheimen Kegierungsräthin von 
Bentlow ging es heute ſehr lebhaft zu, denn der Herr Geheime 
Regierungsrath Hatte, allerdings nicht fehr viele, aber dafür 
deſto bedeutendere PBerfonen zu einem Diner eingeladen, und 
die Wirthin machte deshalb auch die größten Anjtrengungen, 
um die Sache auf das Glänzendſte auszuftatten. 

Zu den erwarteten Gäften gehörten zuerft Se. Ercellenz 
der Herr Minifter des Innern von Lobezahn mit Frau Ge: 
mahlin und Tochter, dann Oberſtaatsanwalt von Vogtheim 
und Frau, der alte General von Degen mit feiner jungen, 
jehr liebenswürdigen Tochter, Hauptmann von Selching, Ad— 
jutant Sr. Königlihen Hoheit, Fräulein von Bentlom Er: 
cellenz, die Schweiter de3 Geheimen Negierungsrathd und 
Staatsdame Ihrer Königlichen Hoheit, und Finanzrat Blum, 
ein jehr einflußreiher Mann im Staate — alfo eine aus— 
gewählte Geſellſchaft, die es ſogar Mühe gefojtet Hatte zu: 
jammen zu bringen. 

In höheren Kreifen paſſen nämlich nicht immer die mit 
der Familie felber befreundeten Perfonen auch zu einander — 
e8 find da und dort Rüdfichten zu nehmen; man will 
Niemanden kränken oder nur den geringften Anhalt zu einem 
Mißbehagen geben, und e8 muß da gar fo viel vorbedadt 
und beachtet werden. Die Frau Geheime Negierungsräthin 
hatte aber einen ganz außerordentlichen Tact in derlei Dingen, 
einen gewiſſen Inſtinct, der fie ftet3 den richtigen Weg führte, 
und ihr Gatte überließ ihr in folchen Fällen denn auch ſtets 
mit dem größten Vertrauen das ganze Arrangement, und zwar 


128 


um fo lieber, da er fich felber nicht gern aus feiner Ruhe 
bringen ließ. 

Die Frau Geheime Regierungsräthin wirthichaftete heute 
auch mit einem wahrhaft erjtaunlichen Eifer im ganzen Haufe 
herum; zwei Dienftleute mit einem Kunfjtgärtner waren ſchon 
den ganzen Morgen bejchäftigt gewejen, um Topfgewächſe 
herbei zu Schaffen und den Speifefaal in geſchmackvoller Weife 
zu decoriren; alle Delicatefjen, welche die Stadt nur bot, 
waren angeihafft worden, die feinften Weine hatte der Ge— 
heime Negierungsrath natürlich jelber im Seller, und «3 
wurde drei Uhr Nachmittags, bis die geplagte und entjeblich 
in Anſpruch genommene Wirthin endlih Zeit fand, an ihre 
eigene Toilette zu denfen — allerdings etwas ſpät — denn 
um fünf Uhr follte ſchon die Tafel fein — und zwei Stunden 
brauchte die ſchon in die Jahre hHineinragende Dame regel- 
mäßig zu einem folchen ect. 

Es hatte eben vier Uhr gefchlagen, als der Briefträger in 
da3 Gewühl von dienjtbaren Geiftern einen Stadtpoftbrief 
brachte, den der Geheime Negierungsrath annahm, erbrad), 
durchlas und dann in der größten Unfchuld bei Seite legte. 
Es war nidhts als ein Abjagefchreiben des Yinanzrath Blum, 
der plößlich in einer Geſchäftsſache, — d. h. ſchon zwölf Uhr 
Mittags hatte abreifen müſſen und nun bat, ihn zu entfchul- 
digen. Der Brief war fhon in aller Frühe gefchrieben, aber 
wahrſcheinlich in dem Trubel der Abreife nicht gleich auf die 
Poſt gegeben, fo daß er eigentlich ein wenig fpät an den 
Drt feiner Beitimmung gelangte. 

Der Geheime Negierungsrath hielt das für fein Unglüd. 
Auf Einen mehr oder weniger fam ed nicht an, und der 
Finanzrath war außerdem gar fein intimer Freund des 
Haufes, fondern nur mehr rüdfichtshalber eingeladen worden. 
Er felber Hatte nicht recht gewußt weshalb, da aber jeine 
Frau darauf beitanden, fügte er fich eben deren Wunſch und 
Willen. | 

Er war noch damit bejhäftigt, die verfchiedenen Wein— 
orten zu ordnen und die Leute anzumeifen, in welcher Reihen- 
folge fie auf die Tafel gebracht werden follten, als jeine 
Tochter Erna, ein liebes Mädchen von faum mehr als neun 


123 


zehn Jahren, die bis jebt noch nicht an ihre Toilette gedacht 
Hatte, weil jie immer in einer halben Stunde mit derjelben 
fertig wurde, mit verſchiedenen Anordnungen beichäftigt, über 
den Borfaal Schritt. Ihr Bruder Karl, der feine Studien 
beendet En gerade fein Examen gemacht hatte, begleitete fie 
und trug jehr artig einen Korb mit den verjchiedenartigiten, 
nothwendig gebrauchten Gegenftänden. 

„Kann ih Dir etwas helfen, Papa?“ jagte Erna, als fie 
an ihm vorüberging und nur einen Moment neben ihm ftehen 
blieb. 

„Rein, mein Herz,‘ erwiderte der Geheime Negierungs- 

rath, der, die Brille auf der Naſe und einen Zettel in der 
Hand, eine Batterie von Flaſchen herauf beſchwor, als ob er 
ein paar Hundert durjtige Kehlen und nicht eine Eleine aus— 
gewählte Geſellſchaft zu verjforgen habe — „ich danke Dir. 
Das hier muß ih Alles allein bejorgen, oder es fommt mir 
nachher Confuſion hinein, und von Tifh ſteh' ich nicht .gern 
wieder auf, wie Du weißt.‘ 
ESchön, Papa,’ nidte ihm freundfih Erna zu, „dann 
beiorge ih und Karl das Andere — Du fiehit, er ift außer: 
ordentlich Liebenswürdig, und ich denke, daß wir in einer 
Diertelftunde Alles fertig haben.‘ 

„Gut, mein Kind, gut," fagte der Geheime Regierungs- 
rath geſchäftig; „apropos, was ich Dir noch gleich jagen wollte, 
Finanzrath Blum Hat eben abjagen laſſen. Er mußte in 
Dienſtgeſchäften verreiſen.“ 

Erna war eben im Begriff geweſen, das kleine Gemach, 
in welchem der Vater ſeine Flaſchenbatterien aufpflanzte, zu 
verlaſſen — Karl war ſchon in den Speiſeſaal getreten, um 
feine Lajt abzuſetzen — aber erjchredt blieb fie in der Thür 
noch ftehen und rief: 

„Finanzrath Blum bat abgejagt, Papa? — aber daß tit 
ja doch gar nicht möglich, eine Stunde vor dem Diner — dad 
fann nicht möglich ſein.“ 

„And weshalb nicht, mein Herz?“ erwiderte ihr Vater, 
der eben aufmerkſam überwachte, wie der eine Lohnbediente 
den Champagner und Rheinwein in große Kübel mit Eis 
brachte, aus denen ſie dann in ſilbernen Abkühlern auf die 

dr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 9 


130 “ 


Tafel geſchafft werden follten. „Der Brief ift allerdings 
etwas verfpätet abgegeben, aber Gefchäfte oder vielmehr Dienſt— 
angelegenheiten gehen vor und können eines Diner wegen 
nicht hintangefeßt werden.” 

„Aber Bapa, dann find wir ja dreizehn bei Tifche!‘ 
rief Erna erfchredt aus, „das geht ja gar nicht!” 

„Hm,“ bemerkte der Geheime Negierungsrath, indem er 
feine Tochter überrafcht anjah, und er wußte genau, wie feine 
Gattin darüber dahte — „dreizehn? Das wäre ja merk: 
würdig! Wie fommt denn das? — Biſt Du abergläubiſch?“ 

„Ach Bapa, ich gewiß nicht, jagte Erna, „ich würde mid 
eben fo gern mit zwölf wie mit dreizehn Perſonen zu Tiſche 
jeßen, aber Mama ift jo ängſtlich. Da Hofrath Morling 
ſchon vorgeftern abfagte, hatte fie ja nur zu dem Zweck allein 
den Yıinanzrath eingeladen — und nun fann der unglüdjelige 
Menſch nicht und meldet das im lebten Augenblick!“ | 

„Daran babe ich allerdings gar nicht gedacht, fagte der 
Geheime Negierungsrath beftürgt — „das ift jehr fatal, und 
ih weiß wahrhaftig nicht, was wir da anfangen wollen.‘ 

„Was iſt denn, Papa?“ frug Karl, der eben aus dem 
Speiſeſaal zurüdfehrte — „mas habt Ihr denn, Ihr jeht ja 
Beide fo verdußt aus?“ 

„Ach, Karl,‘ meinte die Schweiter, „es iſt eigentlich nichts; 
es hat Jemand abgejagt, und wir find jebt gerade dreizehn 
bei Tiſche.“ | 

„Gerade dreizehn?" Tachte ihr Bruder, „und was thut 
das, Schatz? Ahr ſeid doch nicht etwa abergläubiich 2’ 

„Abergläubiſch, ach nein,‘ meinte die Schweiter, und doch 
etwas verlegen, „aber die Mutter hat darin ihre eigenen An— 
fihten; — viele andere Leute haben es ebenfall3 nicht gern, und 
man weiß bei einer. ſolchen Gefellfhaft dann nie, wen man 
vielleicht jehr unangenehm dadurd berührt. Es gehört Keinen: 
falls zum guten Ton, ein Diner von dreizehn Gedecken zu 
ſerviren.“ | 

„Ihr ſeid komiſche Leute,’ lachte Karl gutmüthig, „aber 
wenn Euch das wirklich genirt und als unpafjend erjcheint, 
dann Saft mih weg — ich mahe mir außerdem nicht? aus 


131 


ſolchen ſteifen Diners und ſchenk' e8 mir gerne. Nachher feid 
Ihr nur zwölf, und Mama kann ſich vollfommen beruhigen.‘ 

„Das iſt jehr liebensmwürdig von Dir, mein Sohn,” fagte 
der Geheime Regierungsrath, „‚aber es geht nicht, denn Dei- 
netwegen beſonders habe ich daS Diner arrangirt.“ 

„Meinetwegen, Papa?“ rief Karl verwundert aus. 

„Ja, Deinetwegen,‘ wiederholte dev Vater, „um Dich näm- 
lich der Ercellenz, dem Herrn Staatöminifter vorzuführen. Du 
ſuchſt jebt eine Karriere, und es iſt meine Pflicht und Schul- 
digkeit, Dir darin Vorſchub zu leiſten.“ 

„And fol das bet einem Diner gefchehen, Papa?“ 

„Se. Ercellenz lernt Di wenigftens erft einmal Fennen, 
fagte der Geheime Kegierungsrath nad kurzer Baufe — „und 
— das Vebrige findet fih dann ſpäter.“ 

„Dann werde ich Kopfweh befommen, Papa,‘ warf Erna 
ein — „ich weiß, Mama würde unglüdlich fein, wenn fie zu 
dreizehn an einem Tiſche fiben müßte.’ | | 

„Das geht eben fo wenig, mein Sind,’ erwiderte der Va— 
ter. „Du weißt, wie Elvira von Degen an Dir hängt, und 
wir geriethen da in eine Neihe von Lügen hinein, die fich unter 
feiner Bedingung rechtfertigen ließen.‘ 

„Dann wird e8 das Belte fein,’ bemerfte Erna, „wir ſprechen 
einmal mit Mama darüber und hören ihre Anficht, oder wir 
haben ihr ſonſt den ganzen Abend verdorben. Sie klagte fo 
ſchon wieder heute über ihre Nerven.’ 

Der Geheime Kegierungsrath jeufzte tief auf, denn der 
Schreden aller Schreden war für ihn gerade das Nervencapitel, 
das überdies eine bedeutende Rolle in feinem ehelichen Leben 
Ipielte. Erna aber hatte Recht; unter Diefen Umftänden war es 
geboten, die Mutter von dem unangenehmen Zwiſchenfall in 
Kenntniß zu eben. Es lag allerdings nicht der geringjte ver- 
nünftige Grund vor, fich bei einem Diner von dreizehn Berjonen 
nicht eben jo wohl zu fühlen, wie bei zwölf oder vierzehn, aber 
das Gemüth der Menſchen ift eben unberechenbar. 
| Erna übernahm es, der Mutter die Nachricht mitzutheilen 

und fie zu fragen, wie fie darüber befchließen wolle; aber ſchon 

nad) zwei Minuten wurde der Gatte jelber in das Xoiletten- 

zimmer citirt, denn der Gegenftand war zu wichtig und drin— 
9* 


192 e 


gend, um nicht gleih und augenblidlidh eine Erledigung zu ver- 
langen. 

Die Frau Geheime Regierungsräthin ſaß, mit einem großen 
weißen Pudermantel um, der ihre ganze Gejtalt und ebenfo den 
Stuhl verhüllte, vor dem großen Totlettenfpiegel, während ihr 
Mädchen beihäftigt war, das nicht unſchöne und noch fehr 
reihliche Haar der Dame zu kämmen und zu fteden. Die Frau 
Geheime Regierungsräthin bedurfte bei ihrer Frifur noch Feiner 
fremden Beihülfe, jonft würde fie auch ihre Familie in die „Ge— 
heimniſſe“ ihrer Toilette nicht eingeweiht haben. 

„Ludwig!“ rief jie aber dem Gatten entgegen, wie er nur 
faum das Zimmer betrat (Karl hatte fich ebenfalls dem Zuge 
angeſchloſſen), „das iſt ja erſchrecklich! Der entſetzliche Menſch, 
der Finanzrath, hat abgeſagt?“ 

„Dienſtgeſchäfte, liebes Kind — dagegen läßt ſich nichts 
machen.“ 

„Und ſo ſpät, das iſt doch höchſt unſchicklich; aber es ſieht 
ihm ähnlich — es iſt einer der rückſichtsloſeſten Menſchen, die 
ich kenne. Und was fangen wir jetzt an?“ 

„Und iſt es Dir wirklich ſo unangenehm, zu dreizehn an 
einem Tiſche zu ſitzen, liebes Herz,“ ſagte ihr Gatte, vorſichtig 
erſt einmal vorausfühlend — „ich hielt Dich in dieſer Hinſicht 
für viel zu aufgeklärt, um an einen folhen alten Aberglaus 
ben — 

„Aber ich doch nicht,“ rief die Frau Geheime Negierungs- 
räthin, indem fie erſt noch einen Bid in den Spiegel warf 
und fih dann auf ihrem Sit Halb herumdrehte — „ich doch 
wahrhaftig nicht! Aber Du weißt, wie Ercellenz, die Frau Mi- 
nifterin darüber denkt. Ste wäre außer fich, wenn ihr das hier 
in unſerem Haufe geſchähe, und ich möchte doch wahrhaftig nicht, 
daß mir dad nachgefagt würde. E3 ſähe ja genau fo aus, als 
ob ich es nur abjichtlih gethan hätte, um fie zu kränken.“ 

„Aber, mein Kind, wer fol das denken?’ 

„Lehr' Du mid bie Menſchen fennen, Ludwig — lehr' Du 
mich die Menſchen kennen, und die Excellenz ift überhaupt miß- 
trauifher Natur und außerordentlich leicht empfindlich.‘ 

„Das iſt fie in der That, feufzte der Geheime Regierungs- 
zath, „und außerdem, wie man fich erzählt, ein Drache.‘ 


133 


„Aber, Ludwig!’ ermahnte ihn feine Gattin, indem fie ihm 
einen warnenden Blid zumarf — er hatte jedenfall3 ganz die 
Gegenwart des Kammermädchens vergefjen. Die augenblidliche 
unglüdfelige Situation nahm aber vor der Hand all’ ihre Sinne 
in Anſpruch, und ihren Gedanken folgend, murmelte fie halb- 
laut: „Wenn wir es nur noch wenigitend Deiner Schwefter 
abjagen könnten; die würde e8, unter ſolchen Umftänden, gewiß 
nicht übel nehmen.‘ 

„Das geht unter Feiner Bedingung, Kunigunde!‘ rief der 
Geheime Negierungsrath raſch und fait erihredt aus. „Du 
weißt, wie jelten wir fie überhaupt bei uns ſehen, und fte war 
ſchon neulich etwas aigrirt darüber. Sie würde das als eine 
directe Beleidigung betrachten.‘ 

Die Frau Geheime Kegierungsräthin zog die Lippen ein 
wenig zuſammen, erwiderte aber nicht3 darauf, bis fie endlich 
ftöhnte: 

„Dann weiß ich’S nicht — dann muß ich Frank. werden, 
denn mit dreizehn können und dürfen wir heute nit an einem 
Tiſche fiben, oder wir verderben e3 auf immer mit der Ex— 
cellenz.“ 

„Vielleicht weiß ich da einen Rath, Mama,“ ſagte jetzt 
Karl, der indeſſen nachſinnend in dem durch ausgehangene Klei— 
der und ſonſtige Toilettengegenſtände etwas beengten Raume 
auf und ab geſchritten war, indem er vor der Mutter ſtehen 
blieb. 

„Du? und welchen?“ frug die Mutter raſch — „Du 
weißt, daß Du heute nicht bei Tiſche fehlen darfſt.“ 

„Allerdings, Mama, Papa hat mir den Grund geſagt, 
aber ich finde doch vielleicht noch eine Aushülfe, jo daß mir 
wieder zu vierzehn find.’ 

„Es ift jebt gar nicht mehr möglich!” rief die Mutter in 
Verzweiflung aus. „Du kannſt doch nicht daran denken, in 
faum einer Stunde vor dem Diner noch irgend wen einzuladen; 
es wäre fo unſchicklich wie möglih. Niemand würde es über- 
haupt annehmen.‘ 

„And genügte Dir ein Premierlieutenant, Mama ?'' 

„Sin Fähnrich wäre ein Segen Gottes,’ rief die Mutter. 

„Schön, lachte Karl — „auf der Univerfität wurde ich mit 


134 


einem Lieutenant von Winbach bekannt, ein Tiebenswürdiger 
junger Mann, den bei uns einzuführen ih Papa ſchon um 
Erlaubniß bitten wollte.‘ 

„And Du glaubit, daß er käme?“ 

„Ich weiß es gewiß.‘ 

‚ber er wird jebt fchon dinirt haben.‘ 

„Um ein Uhr, fo daß er bis Fünf wieder tüchtigen Hunger hat.” 

„Und wo willft Du ihn jet finden?‘ 

„Mm diefe Zeit ift er ſtets zu Haufe.‘ 

‚Dann darfit Du aber auch feinen Augenblid mehr ſäu— 
men, Karl, jagte die Mutter, — „gütiger Himmel, e3 tft 
ſchon ein Viertel auf fünf Uhr und meine Frifur noch nicht 
einmal in Ordnung! — Ludwig, Deinem Yinanzrath verzeihe ich 
das im ganzen Leben nicht.‘ 

„Alſo raſch an's Werk, Mama!“ rief Karl lachend, indem 
er nad) der Thür eilte, ‚ich gebe Dir mein Wort, ich fchaffe 
Dir einen Vierzehnten und fehre nicht ohne ihn zurück.“ 

Damit verließ er das Haus, und es war ein Glüd, daß 
die Frau Geheime Kegierungsräthin jebt gar feine Zeit mehr 
hatte, an irgend etwas Anderes als ihre Toilette zu denken, 
fie würde fonft die kurze Zeit vor dem Diner nur in peinlich- 
jter Angſt und Aufregung verbracht haben. 


3. 


Karl verſäumte wirklich keine Zeit. Er war allerdings 
ſelber noch nicht einmal in voller Toilette, aber er wußte 
auch, daß er dieſe in wenigen Minuten beenden konnte. Sein 
Freund Winbach wohnte außerdem auch nur eine kurze Strecke 
von ihnen entfernt, und raſch eilte er die Straße entlang, um 
ihn aufzuſuchen. 

Dort traf ihn aber wie ein Donnerſ ſchlag die Kunde, daß 
der Herr Lieutenant vor etwa einer halben Stunde ausgeritten 
ſei und die Andeutung gegeben habe, daß er nicht vor ſieben 


Uhr Abends — wahrſcheinlich noch etwas fpäter — zurüd- 
tehren würde, — Und was jebt? — Im Sturm überlegte 
er nun, wen anders er für ihn, in der nun wirklich drängenden 
Zeit, auftreiben könne, und die wenigen Freunde, die er hier 
in der Stadt hatte, ließ er im Fluge an feinem Geifte vorüber 
gleiten. Aber da Half nichts als eine Droſchke, und in die 
warf er fih. — So pünktlich begannen ja auch derartige Diners 
nie, und Mama Hatte Geſchick genug, um die Tafel noch für 
furze Friſt hinaus zu zögern. 

Beide Freunde waren Kommilitonen von ihm und wohnten 
zuſammen; traf er fie aber auch Beide an, fo ſchadete das 
nichts, er nahm fie gleich alle Beide mit, denn Einer zu viel 
machte keinen Unterfchted. Unglüdliher Weife wohnten fie 
aber in einem fehr entlegenen Stadttheil, und der Kutfcher 
hieb erit nach dem Verſprechen eines guten Trinfgeldes auf 
jein Thier ein, daß die alte Drofchfe nur fo über das Straßen: 
pflajter dahin rafjelte. 

„Pech!“ murmelte aber Karl vor fih hin in den Bart, 
als er, an Ort und Stelle angelangt, die Wohnung glüdlid) 
gefunden und nun auch hier erfahren mußte, daß die beiden 
jungen Leute, bei dem ſchönen Wetter Heute, einen Spazier— 
gang gemacht Hätten und es ganz ungewiß ſei, wann fie 
zurüdfehren würden, — keinenfalls aber vor zehn Uhr Abends. 
— „Pech — Heillofes Pech!“ wiederholte er mit zuſammen— 
gebiffenen Zähnen, „und was nun? — habe ih nicht 
Mama verfproden, daß ich ihr einen DVierzehnten mitbringen 
würde 2’ 

Hier war nicht? mehr zu machen. Er war in Diefer 
Gegend ſonſt vollkommen unbefannt, und wo follte er jebt 
noch Jemanden finden, der in den wenigen Minuten bereit 
fein würde, einem Diner beizumohnen? Und in dieje Ge- 
jelichaft fonnte er auch nicht Jeden einführen. 

Am Markt, alfo nicht weit von ihrem Haufe, wohnte ihr 
Hausarzt, ein noch junger, ſehr gebildeter und tüchtiger Mann 
— daß er an den auch nicht früher gedacht! Das arme ges 
plagte Drofchkenpferd mußte den Weg wieder mit erneuter 
Halt zurüdlegen, was es aber gern unter dem irrigen Gefühl 
that, daß es feinem eigenen Stalle damit entgegen eilte. — 


136 


Traurige Täufhung! in der nädhiten halben Stunde war es 
vielleicht Thon wieder im nächſten Dorfe 


Am Markt angelangt — und jebt fehlten nur noch zehn 
Minuten an fünf Uhr, bezahlte er die Droſchke und ftieg zu 
des Doctors Wohnung zwei Treppen hoch empor. — „Mein 
lieber Gott," betete er unterwegs, als er die Stufen empor: 
ftieg, „laß mich nur diesmal den Doctor zu Haufe und hungrig 
finden,’ und mit den Schlußmworten zog er Schon die Klingel — 
Niemand fam — noch einmal riß er daran, daß es durd) 
das ganze Haus vibrirte — Jetzt hörte er Schritte — 
drinnen ging eine Thür und ein fchwerer Schritt wurde laut. 

„Gott jei Dank!" murmelte Karl zwifchen den Zähnen, 
al3 drinnen ein Schlüfjel umgedreht und die Thür geöffnet 
wurde. Aber nicht des Doctors ſehnlich erhofftes Angeficht 
Ihaute heraus, jondern der die rothe Kopf der Köchin. 


„Bitte, jchreiben Sie's nur auf die Tafel da,’ jagte 
dieje, ohne eine weitere Bemerkung oder Frage für nöthig zu 
halten. 

„Der Herr Doctor ift nit zu Haufe?‘ rief Karl fait 
außer ſich. 

„Ne,“ ſagte das Mädchen, — „wenn er wieder zurüd- 
fommt, fieht er jedesmal die Tafel an und jchreibt fih, was 
darauf jteht, in fein Taſchenbuch.“ 

„Sehr angenehm,‘ jagte Karl, indem er fih in Ver— 
zweiflung wieder wandte und die Treppe hinunteritieg. 

„Wollen Sie’3 denn nicht aufſchreiben?“ rief ihm das 
Mädchen nah; Karl gab ihr aber gar Feine Antwort — es 
war rein zum DBerzweifeln, und in einer ähnlichen Stimmung 
fand er fih gleich danach) auf der Straße, die er jetzt, voll— 
ftändig rathlos, feinem elterlichen Haufe zu entlang jchritt. 

„Zum Henker auch,“ murmelte er dabei vor fi hin, — 
„unſer rothes Dienftmann-Inftitut iſt hier ganz vortrefflich 
eingerichtet, aber vollfommen doch wahrhaftig noch lange nicht, 
ſonſt hielte es jedenfalls eine Anzahl von anftändigen Leuten 
in ſchwarzen Fracks, die als Vierzehnte, oder Taufpathen, oder 
fonjt bei feftlichen Gelegenheiten in die Brefche treten könnten! 
Xumperei überall, wohin man blidt, und nur auf Mamas 


137 


Geficht freue ih mid, wenn ih als Dreizehnter wieder 
nah Haufe fomme. — Und wegen fol)’ eines albernen Vor: 
urtheils bin ich jet über drei Viertel Stunden in der Stadt 
umher gehetzt — ich wollte, daß Ihre Ereellenz die Frau 
Minifterin — er hielt überrafcht in feinem. eben nicht wohl- 
wollenden Selbſtgeſpräch inne, denn dicht vor ihm, unmittelbar 
an dem Fenſter eines Delicatefjenladens, in welchem die in= 
tereflantejten Dinge, wie Straßburger Gänfeleberpafteten, ges 
räucherter Lachs, Aal, ausgeſchmückte Faſanen und Truthähne, 
getrodnete Datteln, überzuderte Früchte und eine Maſſe anderer 
guter Dinge aufgeſtellt waren, ſtand ein Herr in voller Toilette, 
in tadelloſem Frack, weißer Cravatte, hellen Glacéhandſchuhen, 
Lackſtiefeln — kurz, ein Menſch, wie er ihn gerade in dieſem 
Augenblick brauchte, und betrachtete ſich die da drinnen auf— 
geſtellten Herrlichkeiten. 

FJaſt unwillkürlich blieb Karl neben ihm ſtehen und ſuchte — 
angeblich ebenfalls die Waarenvorräthe muſternd — einen Blick 
auf das Geſicht des Fremden zu gewinnen, was ihm auch ge— 
lang, da ſich deſſen Aufmerkſamkeit ausſchließlich mit dem In— 
halt des Schaufenſters beſchäftigte. 

Er ſah wirklich ſehr anſtändig aus, ja das dunkelgelockte 
Haar und ein kleiner Schnurrbart gaben dem blaſſen Geſicht 
ſogar etwas Intereſſantes. Sollte er ihn wirklich anreden? — 
Es lag ein gewiſſer Humor darin, einen wildfremden Menſchen 
zu einem ſolchen Zweck auf der Straße aufzugreifen; aber 
trotzdem ſchien es dem jungen Manne nicht allein undelicat, 
ſondern auch roh, denn durfte er ihm den richtigen Grund an— 
geben? und wenn nicht, welchen andern ſonſt? 

Da ſchlug es fünf Uhr — Herr des Himmels und der 
Erden, er ſelber war noch nicht einmal in voller Toilette und 
der Vierzehnte fehlte! Aber da ſtand er! Es half nichts 
mehr, jede Rückſicht mußte vor der dringenden Nothwendigkeit 
des Augenblicks ſchwinden und jedenfalls wenigſtens der Ver— 
ſuch gemacht werden, damit er ſich ſelber keine Vorwürfe 
zu machen brauchte. Zeit hatte er keinenfalls mehr zu ver— 
lieren, und ſeine Mütze lüftend, wandte er ſich gegen ſeinen 
Nachbar. 

Dieſer hatte die Bewegung wohl bemerkt, aber wohl nicht 


d 


138 


geglaubt, daß fie ihm gelte. Der neben ihm Stehende wollte 
jedenfall3 die Sachen da drinnen, jo wie er, in Augenschein 
nehmen, und er gab ihm deshalb unwillkürlich ein wenig 
Kaum. , ; 

„Mein Herr,‘ faßte ih da Karl ein Herz und redete ih 
mit einer artigen Berbeugung an, „darf ich mir, als vollflommen 
Fremder, eine Frage an Site erlauben?‘ 

Der Fremde drehte fih raſch und erjtaunt nah ihn um, 
füftete aber ebenfalls den Hut. Er hatte wirklich ein intelligentes, 
wenn auch etwas ſcharf marfirtes Gefiht. „Womit kann ic) 
Ihnen dienen, mein Herr?“ 

„Die Frage mag Ahnen Sonderbar erjcheinen, verehrter 
Herr,‘ jagte Karl, aber doch verlegen dabei Lächelnd, denn es 
kam ihm jelber komiſch vor, „aber ih — ich wollte Sie nur 
bitten, mir zu jagen, ob Sie eben von einem Diner fommen 
oder zu einem folchen gehen?“ 

Ein leichtes Lächeln zudte über die Züge des Fremden, 
als er antwortete: „Mein lieber Herr, wenn eins von beiden 
der Fall wirklich wäre, jo würde mein DBerweilen vor dieſer 
Delicatefjenhandlung eher zu einer Annahme des lebten Falles 
‚ berechtigen, denn wenn man von einem Diner fommt, in= 
tereffirt man fich felten für derartig ausgeftattete Schaufeniter.‘ 

„fo find Sie ſchon verſagt?“ rief Karl raſch und er— 
ſchreckt aus. 

Der Fremde lachte jett wirklich. „Und dürfte ich Sie 
fragen, inwieweit Ste das intereſſirt?“ fagte er jett feiner: 
ſeits; Karl aber, alfo gedrängt, konnte nicht länger hinter 
dem Berge halten. 

„Mein lieber Herr, mein Betragen mag Ihnen fonderbar 
vorkommen, aber ich erbiete mich nachher zu jeder Erklärung. 
Zuerft muß ich mich Ihnen vorftellen, mein Name ift Karl 
von Bentlow, mein Vater ift Geheimer Negierungsrath, und 
nun die Frage: Sind Sie auf heute Mittag Schon verfagt, und 
wollen Sie, wenn das nicht der Fall ijt, in unſerer Familie 
heute ſpeiſen?“ 

„Seheimer Kegierungsratd von Bentlow!“ jagte der 
Fremde erftaunt. „Kennen Sie mich denn?‘ 


159 


„Ich Habe nicht die Ehre — dürfte ih Sie nur, um Sie 
vorzuftellen, um Ihren Namen bitten 2‘ 

Der Fremde lachte, und feine Wangen färbten fi dabet 
nit einem leichten Roth. „Ich muß Ihnen geftehen, Herr 
von Bentlow,“ jagte er, „daß Ihre Einladung — und Sie 
ſcheinen das felber zu fühlen, etwas — ich weiß nicht gleich, 
wie ich mich außdrüden ſoll — etwas Unermwartetes hat.’ 

„Sagen Sie Unverſchämtes,“ lachte Karl, „aber ich er: 
kläre Ihnen Alles.’ 

Unverſchämt fann man einen Menſchen nicht nennen,‘ be— 
merkte der Fremde, „der einen Andern zum Diner einladet — 
‚außergewöhnlih aber tft es jedenfalls und — wunderbar 
außerdem, wie ich Shnen vielleicht |päter erklären fann, aber 
ich nehme ed an — mein Name ift Conrad von Sevang — 
und wann fpeilen Sie?’ 

„Bir ſollten ſchon bei Tafel fiben. Sind Sie bereit ? 
Mir wohnen hier ganz in der Nähe‘! 

Der Fremde überlegte einen Moment, dann jagte er 
lächelnd: „Alſo gehen wir — ich überlafje mich ganz Ihrer 
Führung, Ihnen aber auch jede Verantwortung für diefen 
Schritt, den ich außerdem noch nicht begreife.“ 

„Herzlihen Dank!“ rief Karl erfreut aus, indem er des 
Tremden Hand nahm und Fräftig jchüttelte, dann ohne Weiteres 
feinen Arm in den feinen zog und mit ihm die Straße hinab 
Tritt. „Und nun, ehe ich Ihnen meine Erklärung gebe, noch 
eine Frage Sind Sie ein klein wenig abergläubifch.‘ 

„Sind Sie das nicht?” frug von Sevang, indem er ihm 
fein jetzt ernſtes und blaſſes Geficht zumwandte. „Sind es nicht 
alle Menſchen, und weiß Einer von uns auch nur beſtimmt — 
wenn er auch keck genug das Gegentheil behauptet — wo das, 
was wir Glauben nennen, aufhört und das, was wir Aber— 
glauben nennen, beginnt?“ 

„Sie haben vielleicht Recht,“ rief Karl, jetzt wahrlich nicht 
in der Stimmung, ihm darin zu widerſprechen; „dann aber 
kann ich Ihnen um ſo offener erzählen, was mich bewogen 
hat, einen mir vollkommen Fremden ſo plötzlich zu Tiſche zu 
laden.“ Und jetzt ſtattete er ihm mit kurzen Worten Bericht 
über das Vorgefallene ab, dem der Fremde ſchweigend und nur 


140 


till vor ſich hinlächelnd zuhörte. Er ſchien das Humoriſtiſche 
in der Sache zu fühlen. 

„Und was werden Ihre Eltern dazu ſagen?“ frug er nun, 
als ſie das Haus erreicht hatten und Karl raſch an der Klingel 
zog. 
„Mama iſt mit Allem einverſtanden,“ lachte Karl, „wenn 
ſie nur nicht zu dreizehn an einer Tafel ſitzen muß. Uebrigens 
kann ſie gar nicht wiſſen, ob wir nicht ſchon ſeit langen 
Jahren befreundet ſind — komme ich doch eben erſt von der 
Univerſität zurück und werde Sie jedenfalls kurzweg als einen 
Jugendfreund von mir vorſtellen. Aber da ſind wir, und 
nun bitte ich Sie, nur noch einen Moment auf mein Zimmer 
mit hinauf zu kommen, daß ich mich ebenfalls ein wenig zu— 
recht machen kann — es ſoll keine zehn Minuten dauern.“ 


‚ah 


In den Gejelfchaftsräumen des Geheimen Regierungsraths 
von Bentlomw waren die Säfte Schon ſämmtlich eingetroffen, 
nur ©e. Ercellenz, der Staatsminifter hatte — wie er das 
ftet3 that, etwas warten lafjen. Er durfte fhon feinem Range 
nad bei ſolchen Gelegenheiten nicht der Erſte fein; mit deſto 
größerem Effect betrat er nachher, mit feiner Gemahlin, den 
Saal. 

Dadurch war ziemlich eine halbe Stunde über die beftimmte 
Zeit vergangen, eine halbe Stunde aber, in welcher ſich die 
Frau Geheime Negierungsräthin in einer faum zu bejchreiben- 
den Aufregung befand, denn ihr Sohn Karl Fam ja nicht 
wieder — er hatte alfo auch feinen Freund — wie fie das 
gleih von Anfang an gefürchtet, nicht zu Haufe getroffen. 
Und was nun? wie follte dad enden? 

Bis dahin Hatte fie auch noch eine Ausrede gehabt, den 
Beginn der Tafel zu verzögern — Excellenz konnte fih nicht 
gleich von der Straße aus an feinen Suppenteller feßen — 


141 


Die Form verlangte, dag noch wenigitens ein paar Minuten 
gezögert wurde, um den Herrfchaften Zeit zu geben, fich ein- 
ander zu begrüßen — aber zulett fehlte auch diefe Ausrede, 
und der Geheime Regierungsrath jelber gerieth in die größte 
Berlegenheit, da er gerade dieſe furze Zeit am Tiſche Hatte be- 
nußen wollen, um Sr. Ercellenz feinen Sohn vorzuitellen und 
ihn — wenn auch nur bildlih — ihm an's Herz zu legen. 
Der unglüdfelige Menih Fam ja nicht wieder zurüd, und in 
reiner Derzmeiflung flüfterte er endlich feiner Gattin zu, nur 
in Gottes Namen die Tafel zu befehlen, denn fie dürften die 
Herrihaften nicht länger warten laffen. 

Da Elingelte e8 unten an der Hausthür, und Erna ſchlüpfte 
hinaus, um zu hören, ob Karl denn noch nicht zurüdgefehrt 
ſei. Ein Diener fam gerade die Treppe herauf und berichtete: 
Der junge Herr fei eben mit einem andern Herrn gefommen 
und die Seitentreppe hinauf in jein Zimmer geftiegen; und 
die junge Dame kehrte freudejtrahlend in den Salon zurüd. 
Es war ja gelungen, die Calamität abgemendet, und wenn 
das Diner auch jebt noch um einige Minuten verzögert wurde, 
ſo fonnte daS ertragen werden. 

Die Frau Geheime Regierungsräthin ſchöpfte auch, als fe 
das heitere Geficht der Tochter ſah, deren Rüdfunft fie ängſt— 
Gh erwartet hatte, friihe Hoffnung. Am Nu — und fo 
unbemerkt al3 es gejchehen fonnte — war fie an ihrer Seite. 

„un, mein Rind?’ 

„Alles in Ordnung, Mama,’ flüfterte ihr diefe raſch und 
freudig zu. „Karl hat richtig den Vierzehnten mitgebracht.‘ 

„Sott jei Dank," feufzte die Mutter recht aus tiefter 
Bruft, „es war aber auch die höchfte Zeit! Kommen fie?" 

„Den Augenblick, Mama, Karl wird fih nur noch anziehen, 
und er braucht dazu nicht lange Zeit.‘ 

Noch vergingen einige peinliche Minuten. Se. Ercellenz 
war wirklich hungrig geworden und warf ſchon ſehnſüchtige 
Blide nach der Thür des Speifefaald. Da öffnete ſich die 
Stubenthür und herein trat, von Karl gefolgt, ein jehr elegant 
gefleideter junger, aber freilich vollfommen fremder Herr, der 
höchſt achtungsvoll grüßte, dann aber mit einem gemifjen In— 
ftinet, der dem Menſchen bei derlei Gelegenheiten eigen ift, 


142 


direct auf die Dame vom Haufe zuging und ihre Hand ehr— 
furchtsvoll an feine Lippen drüdte. 

„Mama,“ ſtellte ihn dabei Karl vor, auf den fi die Augen 
der Mutter indeß fragend gerichtet hatten, „ein lieber Freund 


von mir, den ih“ — ſetzte er dann lauter Hinzu — „erit 
. vor einer halben Stunde vom Bahnhof abgeholt habe, Herr 
Conrad von Sevang — mein Dater — lieber Conrad — 


Geheimer Negierungsrath von Bentlow.“ 

„Mir jehr angenehm, Ihre werthe Befanntichaft zu machen,“ 
jagte der Rath; er hatte Feine Ahnung, wen er vor fidh habe, 
und die übrige und übliche Borfiellung nahm dann noch einige 
Secunden weg. Der junge Fremde benahm fich aber jo tact- 
vol und ſchien fih in einem jolden Kreife jo vertraut zu 
fühlen, daß Karl's Mutter wieder freier Athem ichöpfte. Das 
Unglüd war abgewandt, und fie konnte jet ihrem Diner mit 
voller Ruhe entgegen gehen. 

Die Einzige, die in eine gewifje Aufregung zu gerathen ſchien, 
als fie den Fremden erblicdte, war Erna, und als er ihr vor— 
gejtelt wurde, fürbte fih ihr Liebes Antlik mit tiefer Röthe. 
Sie vergaß ganz, daß ihr Bruder eben erzählt, er habe den 
Freund erjt vor einer halben Stunde vom Bahnhof abgeholt, 
und befangen jagte fie: . 

„Ich glaube fait, daß wir uns heute nicht zum erſten 
Mal begegnen. Waren Sie e8 nicht, der mir die verlorene 
und jo liebe Broche zurückbrachte?“ 

Der junge Fremde fah fie überrafcht an und fagte nad 
kurzem Zögern: 

„Mein gnädiges Fräulein, ich hatte Feine Ahnung, daß 
mir nad dem Kleinen ’Dienft, den ich fo glüdlich war Ihnen 
heute zu leiften, noch einmal das Vergnügen zu Theil werden 
würde, Sie perjönlich begrüßen zu Dürfen — ja, daß Sie die 
Schmeiter meine® Freundes wären.‘ 

Die Frau Negierungsräthin warf der Tochter allerdingS- 
einen fragenden Bli zu, und jelbit Karl wußte nicht, worauf 
fi die Andeutung bezog, aber die Unterredung wurde hier: 
furz abgebrochen — fo weit e8 wenigſtens die Uebrigen betraf, 
da fih in dieſem Augenblid die zum Speifefaal führenden 
Flügelthüren wie aus eigenem Antrieb öffneten; und der Ge— 


143 


heime Regierungsrath, der jebt Feine Zeit mehr zu der erfehnten 
Borftellung feines Sprößlings befam, mußte nothgedrungen 
das Zeichen geben. 

„Meine Herrichaften, wenn ich bitten darf — es ilt ſervirt; 
wenn Gie fi arrangiren wollten!’ 

Der junge Fremde jchien fih wie zu Haufe zu fühlen; 
er bot ohne Weiteres Erna feinen Arm, was diefe ein wenig 
in Derlegenheit brachte, denn fie wußte, daß „Mama“ dag 
ander beftimmt hatte; aber weigern konnte fie ſich — allen 
gefelichaftlihen Regeln nah) — eben fo wenig, und da die 
Frau Geheime Regierungsräthin eben von Sr. Excellenz jelber 
aufgefordert wurde, ließ fich eben nichts an der Sache thun. 

Die beiden Ercellenzen nahmen felbftverftändlich den oberiten 
Pla an der reich geihmüdten Tafel ein, und Frau von 
Bentlow hatte dabei zu Erna’3 Nachbar den Hauptmann von 
Selding, einen nod ziemlih jungen Dffieier und Adjutant 
Sr. Königlihen Hoheit, beftimmt, konnte ihn aber jet nur 
auf ihre rechte Seite bringen; denn der junge Fremde nahm 
ungenirt deſſen Plab ein, während er auf feine andere Seite 
das gnädige Fräulein von Degen, die Tochter des Generals 
von Degen, alfo die beiden hübfcheften Damen der Geſellſchaft 
rechts und links befam. 

Nur einen Troſt hatte Karl’s Mutter dabei: denn noch 
ehe fie ſich jebten, bemerkte fie — und hatte in der That 
darauf gewartet — dab Ihre Excellenz, die Frau Minifterin 
mit etwas äÄngjtlihem Blick die Gäfte überzählte; dann aber 
flog ein freundliches Lächeln über ihre Züge, und beruhigt und 
zufrieden ließ fie fih in ihren Seſſel finfen. Gott fei Dant, 
das Unheil war glücklich abgemendet! 

Allerdings hatte der Geheime Negierungsrath, ehe fie zur 
Tafel gingen, einen Moment benubt, um Karl zu fragen, 
wer der Herr eigentlich wäre, den er da mitgebracht; da aber 
Karl e3 jelber nicht wußte, fo wich er einer directen Be: 
antwortung aus. 

„Ein ſehr Tiebenswürdiger, anjtändiger junger Mann, 
Papa, gefällt er Dir nit?" 

„Oh, ganz gut, mein Sohn, ganz gut!“ fagte der alte 
Herr, der nie daran gedacht haben würde, über irgend Jemand 


144 


aus den höheren Kreiſen ein abiprechendes Urtheil zu füllen; 
„ein wahres Glück auch, daß Du ihn gefunden, wir hätten 
font einen harten Stand mit Mama befommen.‘ 

Die Gejelihaft nahm ihre Pläbe ein, und mollte die 
Unterhaltung zuerft auch nicht reht in Zug kommen, fo 
änderte fih das doch bald. Der fich ſchon bedeutend Fürzen- 
den Tage wegen hatte man die Lichter angezündet, die 
Rouleaur waren niedergelaffen, und wenn auch Se. Ercellenz 
oben an der Tafel ziemlich laut dad Wort führte und über 
die unbedeutendjten Dinge in der breiteftien Weife — und 
ſelbſtverſtändlich unanfechtbar ſprach, jo fing doch die Be 
haglichkeit des NKaumes an, ihre Wirfung auf die Eleine 
Gefellihaft auszuüben. Die Unterhaltung zwifchen den 
einzelnen Gruppen begann und wurde bejonders lebhaft 
zwifchen dem jungen Fremden und feinen beiden jchönen 
Nahbarinnen geführt. 

Im Anfang hatte fih allerdings Elvira von Degen nod) 
etwas zurüdgehalten, aber der geminnenden Unterhaltungs= 
gabe ihrer neuen Bekanntſchaft konnte auch fie zuletzt nicht 
widerjtehen. 

Der junge Fremde fchien viel erlebt und gefehen zu haben. 
Er war überall gewefen und befannt: in ‘Petersburg, London, 
Paris, Rom — ja jelbjt in Cairo und Athen, und wußte in 
der jpannenditen und zugleih anſpruchsloſeſten Weiſe zu er- 
zählen. Aber troßdem Hatten fait alle feine Schilderungen 
einen düftern, oft fogar unheimlihen Hintergrund, wobei er 
das Geſpräch endlih auch auf das ——— auf 
Ahnungen und den Einfluß übernatürlicher Weſen u. f. w. hin⸗ 
überſpielte. 

Damit fand er aber nicht allein die größte Aufmerkſamkeit 
bei ſeinen ſchönen Nachbarinnen, nein, die ganze andere Unter— 
haltung bei Tiſche ſchien in's Stocken zu gerathen; Alle lauſchten 
den Worten des Fremden. Beſonders intereſſirte ſich Excel— 
lenz die Frau Miniſterin für einen derartigen Stoff. Und 
als die Tafel bald danach aufgehoben und der Kaffee herum— 
gereicht wurde, ſuchte die Dame ſelber den jungen Mann auf 
und unterhielt ſich auf das Lebhafteſte mit ihm. 

Er glaubte — und etwas Erwünſchteres Hätte ihr nicht 


145 


geihehen können — ganz entjhieden an die Einwirkung einer 
uns unfihtbar umgebenden geheimnißvollen Welt, der man ge 
wiffe Zugeftändnifje machen müſſe, wenn man fich nicht ihrer 
Ahndung und oft gefährlichen Nahe ausſetzen wolle. Er 
glaubte an Ahnungen und verfierte Excellen; — wenn er 
deshalb auch von Einzelnen beſpöttelt werde — daß DVerjtorbene, 
unter gewillen Verhältniffen, wieder auf der Erde ericheinen 
und unjeren irdiichen Augen fichtbar werden könnten, und: die 
Hauptſache — er hatte eö jelber erlebt! 

Der Tal war zu interefjant — Ercellenz winfte ihm, 
neben ihr Plab zu nehmen, und er mußte die Thatfache, wäh: 
rend fich die übrige Gefellihaft um ihn jammelte, berichten. 

Solde Geiſtergeſchichten fteden aber genau fo an mie 
Jagdgeſchichten. Kaum hat Einer den Anfang gemadt, ſo 
brennt jeder Einzelne darauf, ebenfalls eine Erfahrung aus 
feinem eigenen Leben einzuſchieben, und aus gejellichaftlicher 
Rückſicht mußten fie natürlich angehört werden. Die verjchie- 
denen Damen aber, bejonders die Frau Geheime Regierungs— 
räthin jelber, juchten doch immer indefjen das Urtheil des 
Fremden zu hören und das Anderer wurde wenig beachtet. 

Natürlih Fam das Geſpräch auch auf die Dreizehner bei 
Tiſche, dad Herr von Sevang ebenfalls nicht ablehnte. Er 
erklärte aber, es gäbe wenigſtens gegen den böjen Einfluß 
dieſer fatalen, oft nicht zu vermeidenden Sache ein ganz jicheres 
Gegenmittel, wonad fein Harm die Einzelnen betreffe. Na— 
türlich wurde er von Allen gedrängt, e8 mitzuteilen, bis er 
lächelnd fagte: 

„Dürfte ih Sie dann wohl für einen Moment um jech 
Löffel bitten.’ 

Erna ſprang felber, um fie zu Holen, und der junge Fremde 
trat damit an den in dem Salon ftehenden Flügel und legte 
die Löffel in Form eines Pentagramm, aber mit grögter Auf: 
merfjamfeit, zuſammen. 

„Sehen Sie, meine Damen,‘ fagte er dann, auf die Figur 
deutend, „wenn Sie jemals in den Fall fommen jollten, 
davon Gebrauch zu machen, dann haben Sie nur die Güte, 
darauf zu achten, daß fich feine diefer Eden verſchiebt. Das 
Beite wird fein, Sie laſſen fih vom Buchbinder einen Kleinen 

Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 10 


146 


eleganten Kajten machen, in welchem die ſechs Löffel in diefer 
Lage feit aneinander gejhoben bleiben und ſich nicht verrüden 
fönnen. Sie dürfen aud den Kaſten verfchließen, oder einen 
Aufſatz darüber ftellen, daß er nicht gejehen werden fann — 
die Wirkung bleibt, wenn er nur auf dem Tifche fteht, 
dieſelbe.“ 

„Und das ſoll wirklich helfen?“ rief Excellenz — „Gott, 
welche Beruhigung Einem das manchmal gewähren könnte!“ 

„Sie dürfen ſich feſt darauf verlaſſen, Excellenz. Sie wiſſen, 
daß dieſes Zeichen ſeine beſtimmte kabbaliſtiſche Kraft hat.“ 

„Gewiß,“ ſagte die Excellenz. „Das kommt ja auch im 
Göthe'ſchen Fauſt vor, aber ich habe nie geglaubt —“ 

„Es iſt Thatſache, Excellenz, denn ich weiß, daß die Probe 
öfter ſchon, und zwar mit Erfolg, gemacht wurde.“ 

„Aber woher will man das wiſſen?“ frug Fräulein von 
Degen. 

„Wir hatten eine Geſellſchaft gegründet, mein gnädiges 
Fräulein,“ fagte der junge Mann, „wo wir immer nur zu 
dreizehn zufammenfamen und die wir auch die „Dreizehner‘ 
nannten. In dem Gejellichaftslocal waren aber — ich weiß nicht 
durch wen eingeführt — jene ſechs Löffel als Pentagramm auf: 
geſtellt, bis es einmal, nachdem wir vier Jahre ungejtraft 
unfere Situngen gehalten, Einem der Gejellichaft in etwas über: 
mütbhiger Stimmung einfiel, dies Pentagramm als einen aber- 
gläubifchen Mißbrauch zu bezeichnen und den Antrag zu jtellen, 
es abzuschaffen. Die Meijten gingen in jugendlihem Leichtfinn 
darauf ein, und das Rejultat war, daß das Pentagramm als 
unmwürdig der Geſellſchaft aufgeflärter Leute entfernt wurde. 
Wir follten dafür büßen,“ jebte der junge Mann düfter Hinzu. 
‚Roh in demfelben Winter ſtarb mein liebiter Freund — wir 
hielten es für einen Zufall, aber der nächſte Januar forderte 
wieder fein Opfer. Lebt wollten wir es durchjeben, aber im 
nächſten Jahr fiel der Dritte dem unergründliden Schiejal 
zur Beute, und von geheimnißvollen Schauern erfaßt, gaben 
wir nicht allein die Geſellſchaft auf, wir zerjtreuten uns über: 
haupt in die Welt, und nie habe ich feit jenem Abend einen 
meiner früheren Freunde wieder gejehen.’' 

Die Damen, von dem Unheimlihen des Vorfalls er: 


147 


griffen, ſahen fich fcheu untereinander an, und Excellenz ſchauerte 
ſichtbar zufammen, ja nahm ſich feit vor, von jebt ab nur 
noch feiter an dem alten Grundſatz zu halten — nie mit Drei— 
zehn an einem Tiſche zu ſpeiſen. 

Die Herren achteten nicht beſonders auf das Geſpräch, da 
die meiſten nicht an dieſe übernatürlichen Dinge glaubten. Der 
Geheime Regierungsrath hatte fogar den Moment benukt, feinen 
Sohn vorzuftellen, und Se, Ercellenz der Herr Miniiter, etwas 
weinjelig von dem guten Stoff, den er getrunken, wohlwollend 
feine jehr weiche und weiße Hand auf die Schulter Karl von 
Bentlow's gelegt und ihm zu feiner fünftigen glänzenden Car— 
riere gratulirt. Der Geheime Negierungsrath aber jtand ent- 
zückt und mit einer geheimen Thräne daneben. 

Indeſſen Hatte Herr von Sevang noch immer gewußt, die 
Aufmerfjamfeit der Damen zu feſſeln; nur der junge Haupt- 
mann von Selding jtand mit untergefchlagenen Armen dane- 
ben und ſchien an alle dem Feine rechte Freude zu finden... 
Um dem aber ein Ende zu machen, gab es ein Mittel. Er 
trat an den Flügel, öffnete ihn und begann erſt leife, dann 
lauter auf dem Inſtrument, auf dem er Meifter war, zu 
phantafiren. 

Bon Sevang ſchien vielleicht zu fühlen, daß er das In— 
terejje für fich ein wenig zu ſehr in Anſpruch genommen, aber 
er half jelber jeßt dem neuen Genuß die Hand zu bieten, räumte 
den Flügel ab, ſchob die Stühle zurüd und wandte fih danı 
der Gefelichaft wieder zu, mit deren einzelnen Gliedern er fi) 
in der lebendigjten Weile, wenn auch mit gedämpfter Stimme, 
unterhielt. Gerade diejenigen, die von jedem Andern den Tact, 
fih zu benehmen, fordern, betragen ſich gewöhnlich vollkommen 
tactlos, jobald Mufif beginnt, und Damen, die vielleicht den 
ganzen Abend den Mund noch nicht aufgethan haben, werden 
gerade in dem Moment gejprädig, wo fie ſich ruhig verhalten 
follten. 

Einige der jungen Damen wurden jebt zum Singen auf 
gefordert, wozu fie fi auch gar nit lange nöthigen liegen. 
Erna hatte eine prachtvolle Stimme. Bon Sevang jtand jekt, 
als fi ihr Alle aufmerkfam zumandten, mit untergefchlagenen 
Armen an der Thür und laufchte den bezaubernden Tönen. 

10% 


148 


Als fie aber geendet und Alles um fie her drängte, um ihr etwas 

Angenehmes zu jagen, öffnete er leife die Thür und verließ 
unbeachtet das Zimmer, Er mochte wohl fühlen, daß er die in 
fo mwunderlicher Weile gewonnene Gaftfreundfhaft auch nicht 
migbrauden dürfe. 

Auf dem DVorfaal war Niemand von der Dienerfchaft zu 
fehen, und von Sevang blieb einen Moment wie unfhlüffig 
itehen und befühlte fih die Taſchen. Endlich ging er auf eine 
der in den Corridor mündenden Thüren zu, öffnete fie und 
trat hinein, blieb aber nicht lange und begegnete jebt dem 
einen der Bedienten, der gerade den Gang entlang fan. 

„Ach, lieber Freund,‘ redete er den Mann, der ihn etwas 
eritaunt betrachtete, an, „ich habe hier die Thür verfehlt — 
fönnen Sie mir wohl das Zimmer des jungen Herrn zeigen 
und mir einen Augenblid leuchten? Ih muß vorhin meine 
Zorgnette dort vergefjen haben.‘ 

„Sehr gern, Herr Baron,‘ jagte der Mann. „Das bier 
it das Zimmer der gnädigen Frau, bitte nur bier ein- 
zutreten — das Gas brennt noch.“ 

Der junge Fremde trat voran hinein, jhritt nach dem 
Tifhe und begann hier nah feiner Lorgnette zu fuchen. 
Sohann, der Diener, unterjtüßte ihn dabei, aber fie fanden 
dad Vermißte nit. Herr von Sevang bejchrieb es ihm 
jebt. Es war ein Lorgnon von Schildpatt, mit goldenem 
Geftel und auf der Schale mit einer Fleinen goldenen Krone 
eingelegt. 

„Vielleicht hat e8 der junge gnädige Herr weggeſchloſſen,“ 
meinte der Diener, — „wenn ich ihn vielleicht rufen ſoll —“ 

„Kein, nein,‘ fagte der Yremde, — „bis morgen früh 
wird e3 fih ſchon finden, und dann fomme ich ja doch wieder 
her, um den Damen meine Aufwartung zu mahen. — Gute 
Nacht, Lieber Freund. Dabei drüdte er dem Burſchen ein 
Trinkgeld in die Hand, nahm feinen Hut wie einen der dort 
hängenden Paletots und verließ das Haus. 


149 


5. 


Johann, der Diener, kehrte, aber ſo geräuſchlos als möglich, 
in das Geſellſchaftszimmer zurück, denn die melodiſchen Klänge 
eines prachtvollen Adagios, daß der Hauptmann wieder 
jpielte, durhmogten den Saal. Er bemerkte aber, wie ihm 
der Geheime Regierungsrath, der in allen feinen Taſchen nad 
etwas ſuchte, heimlich zuwinkte. — Die Herrichaften hatten 
indefjen ringsumber ſchon wieder ihre Site eingenommen, 
und fid) vorfichtig nach dort ziehend, bog er fich zu ihm nieder, 
um jeine Befehle zu vernehmen. 

„Johann,“ flüfterte der Geheime Regierungsrath, „Tieh 
Did doch einmal im Zimmer um, ob Du meine Dofe nidt 
findejt, vielleicht auf dem Flügel drüben — ich habe fie vor: 
hin noch gehabt.‘ 

Der Diener fuhte den Auftrag auszuführen und glitt 
jebt, jehr zum Entjegen der Geheimen Frau KRegierungsräthin, 
die ihm alle erdenklichen telegraphiichen Zeichen gab, wie ein 
Schatten und ohne diefe zu beachten oder nur zu fehen, mit 
den unerflärlihiten Bewegungen weiter. 


Erſtlich jtreifte er eine Weile, einen langen Hals machend, 
um den Flügel herum und gudte auch vorfihtig hinein, wo— 
bei ihm der Hauptmann einen erftaunten Blick zumarf, dann 
fing er an, die verjchiedenen Tifche zu revidiren und zulebt 
ſogar unter die Stühle zu friechen, wobei er der Excellenz, 
der Frau Minifterin feinen geringen Schred einjagte, 

Der Geheime Regierungsrath ſah jest wohl zu feinem 
Aerger, wie ungeſchickt fi der Burfche benahm und die ganze 
Geſellſchaft ftörte, diefer Hatte aber für nichts weiter Sinn 
mehr, als die verlangte Dofe, achtete weder auf Zeichen noch 
Veichtes Bft’en und gab die Jagd nicht eher auf, bis er fi 
von der vollftändigen Nutzloſigkeit derfelben überzeugt hatte, 
Dann kehrte er wieder, jebt von den Bliden der ganzen Ge— 
fellfehaft verfolgt, zu feinem Herrn zurüd, zudte hier jehr be— 
deutungsvoll mit den Achſeln und fagte bedauernd: 


150 


„Nicht die Spur von einer Dofe zu finden, Herr Ge 
heimer Regierungsrath.“ 

„Eſel,“ antwortete diefer fehr leije, aber nichtsdeſtoweniger 
jehr verftändlih und ſah feinen Diener nicht einmal an, fo 
daß diefer verdußt zu ihm niederfchaute und fi dann wieder 
in den Speijejaal zurüdzog. 

Drinnen wurde indefjen weiter muſicirt. Erna und Elvira 
von Degen fangen noch einige Lieder; ebenfo der Hauptmann, 
der fich dabei felber begleitete, und ein Theil der Dienerichaft 
hatte fich indefien an der Thür des Speiſeſaals gefammelt, 
um an dem Genuß Theil zu nehmen. 

Da kam Ihre Ercellenz, die Frau Staatäminifter auf fie 
zu, jo daß fie ihr ehrfurdhtsvol Raum gaben, betrat den 
Speiſeſaal und jah fich bier überall nach etwas um. 

„Haben Ercellenz etwas verloren?" frug Johann; daß 
dem fo fei, war eben Deutlich genug. 

„AH ja, mein Freund,‘ fagte die Dame, „bitte, fehen 
Sie doh einmal nad. Sie wiſſen ja, wo ich geſeſſen habe. 
Meine Diamantbrohe muß dort auf die Erde gefallen fein; 
e8 wäre mir jehr fatal, wenn fie zertreten würde. Gie be- 
kommen ein Trinkgeld.‘ 

Das war nun allerdings etwas, was Johann von Ihrer 
Excellenz noch nicht gejehen hatte; es mag fein, daß gelinde 
Zweifel in ihm aufitiegen, ob er es wirklich befommen 
würde. Trotzdem aber begann er den Saal, befonders aber 
jene Stelle, gewifjenhaft abzufuden, kam aber eben fo wenig 
wie bei der Dofe zu einem Reſultate. 

„Ne,“ brummte er leife vor fih Hin, als er fi müh— 
fam wieder emporhob und dann den Staub von feinen ſchwarz— 
fammetnen Kniehoſen abihlug. „Das ift doch merkwürdig, 
wie daß hier heute zugeht! Was die Leute nur in den Fingern 
haben, daß fie Alles fallen laſſen! Erſt der fremde Herr die 
Brillengläfer, dann mein gnädiger Herr die Dofe, und nun 
die Ercellenz gar die Broche, und nichts ift wieder zu finden. 
Wenn wir morgen außfehren, werden wir wohl einen ganzen 
Soldihmiedladen finden.‘ 

Die Geſellſchaft rüjtete fih endlih zum Aufbruch — man 
Hatte den jungen Mann vermißt, deſſen ſtilles Verſchwinden 


151 


natürlich nicht aufftel, und die Damen beſonders gaben jebt 
ihr Urtheil über ihn ab, das übrigens — was eben unter 
ſolchen Umftänden nicht oft geſchieht — äußerſt günftig aus— 
fiel. Es war wirklich ein höchſt liebenswürdiger Menſch, und 
fo gewandt und anftändig in feinem ganzen Benehmen. Man 
jah e& ihm auf den erjten Bid an, daß er nur gewohnt 
mar, fih in „beſſeren“ Kreifen zu bewegen. — ber wo 
ſtammte er her? Denn die Yamilie von Sevang war eigent- 
ih gar nicht befannt, ja Sevang jelber nicht einmal ein 
deuticher Name. Karl mußte wiljen, wie er gejchrieben wurde, 

Karl Hatte übrigens fein beionderes Intereſſe dabei, den 
Fragen, jo weit das irgend möglich war, auszuweichen. — 
Sein Freund ſchrieb ſich am Schluß mit einem t, wie er 
jagte, und war aus der Pfalz; — jedenfalls ein elſäſſiſcher 
Name, und zwar aus angejehener Familie. 

Die Gefelihaft war fort — die Familie Hatte fi in 
das Wohnzimmer zurücdgezogen, um dort noch eine Tafje Thee 
zu trinken, und die Dienerfchaft mußte indeffen den ganzen 
Saal durchſuchen, um die Diamantbrohe Ihrer Ercellenz wieder 
zu Tage zu bringen. Diefe konnte ja doch auch nicht verloren 
fein, denn die Frau Geheime Negierungsräthin verfiherte, fie 
jelber gefehen zu haben. Die einzige Möglichkeit blieb — wenn 
fie fich wirklich hier nicht Fand, daß fie ihr abgefallen und fich 
vielleicht irgendwo in ihr faltiges Kleid eingehaft Habe — und 
dann konnte fie freilich noch recht gut unterwegs verloren 
gehen. | 

Und der Geheime Regierungsrath vermigte noch immer feine 
Dofe und wußte genau, daß er fie noch in der Gefellfchaft 
gehabt Hatte. 

„Das ift heute ein recht unglüdlicher Tag!“ fagte Erna; 
„Heute Morgen verlor ih fhon zu allem Anfang meine 
Kleine Broche, die das jelige Schweiterchen getragen, und zu: 
fälliger Weife fand fie Herr von Sevant und bradte fe mir 
wieder.‘ 

„Herr von Sevant ?'' rief die Mutter erftaunt — „kannteſt 
Du ihn denn Schon früher?’ 

„Gott bewahre, Mama,’ ſagte Erna — „ich habe ihn zum 
erften Mal heute Morgen gefehen, als er mir die Broche über- 


192 u 


reichte. Lieber Gott, fie hat ja feinen Werth, aber ich war 
doch froh, daß ich fie wieder hatte, und darüber verſchmerzte 
ih auch nachher gern meine Uhr.‘ 

„Deine Uhr?“ rief der Bater, „was iſt mit der?“ 

„Sie muß von der Kette Iosgegangen fein. Als ih nad 
Haufe fam, vermißte ich fie.‘ 

„le Wetter!“ rief der Geheime Regierungsrath; „aber 
wie ift daS möglich? fie ſtak an einem ſtarken Carabinerhafen, 
und die Kette reift nicht.‘ 

„Der Garabinerhafen ift ebenfalls mit fort, Papa, Die 
Kette muß doch geriffen fein.‘ 

„Aber das iſt nit möglih, Kind — Du trägft fie ja 
feit faum mehr als zwei Monaten !’' 

„Du kannſt Dich felber überzeugen,” ſagte Erna und 
ftand auf, um ihre Kette zu holen. Als fie am Speifefaal 
vorüber ging, fam gerade Johann heraus. 

„Ad, gnädiges Fräulein,‘ fagte diefer, „haben Sie viel: 
Yeicht die ſechs LTöffel fortgethan, die auf dem Klavier lagen?‘ 

„Was für Löffel?’ ſagte Erna erftaunt. 

„Ih, die ſechs Stüd, die der fremde Herr da gebraudt 
und fo ineinander und übereinander gelegt hat!" 

„Ach die! — nein; fragen Sie Mama — meiß denn 
Fräulein Wittih nichts davon?’ — Fräulein Wittih war 
eine Art Geſellſchafterin Erna’s, die aber auch zugleich einen 
Theil der Wirthſchaft mit beforgte und befonders das Silber 
unter ſich hatte. Natürlich durfte fie in Geſellſchaft nicht mit 
bei Tafel ericheinen. 

„Ne,“ ſagte Johann — „nicht die Spur — Hm, das ift 
doch komiſch!“ 

Erna achtete nicht darauf und holte ihre Uhrkette, die ſie 
dem Papa brachte — dieſer hatte indeſſen wieder, aber mit 
nicht befjerem Erfolg als früher, feine Doſe geſucht. Kopf: 
jhüttelnd nahm er die Kette, aber faum daß er den Blid 
auf die Stelle geworfen, wo fie fich getheilt, fo rief er jchon 
aus: 

„Aber, Kind, die Kette ift ja nicht geriffen, die iſt ab— 
geknipſt!“ 

„Was, Papa?“ 


153 


„Abgeknipſt mit® einer Iharfen Zange. Die hat Dir ein 
Taſchendieb geitohlen. Warft Du irgend wo im Gedränge?“ 

„ein, Papa,“ rief Erna erſchreckt; „das ift ja auch gar 
nit möglich, denn das hätte doch wahrlich nicht gejchehen 
fünnen, ohne daß ich ed merkte.’ 

„Mein Yiebes Kind,’ fagte der Geheime Negierungsrath 
achjelzudend, „wir haben da DBeifpiele von Tafchendiebitählen, 
die an das Wunderbare grenzen und mit einer höchſt merk: 
würdigen Gejchidlichfeit ausgeführt werden. Befinne Dich 
einmal, hat Dich Niemand angeredet?‘' 

„Niemand, Papa, ald Herr von Sevant — 

„Dder Dir vielleiht etwas zum Kauf angeboten? Bei 
folden Gelegenheiten ift man einem Raub am meiften ausgeſetzt.“ 

„Aber gewiß nicht, Papa — ich ſage Dir, es ift mir 
völlig unerflärlich, und doch Haft Du Recht, denn die Kette ift 
wirklich wie mit einem ſcharfen Inftrumente glatt abgefchnitten 
— jieh nur hier, man erfennt ja deutlich die glänzende Stelle.‘ 

„Dann wirft Du aber auch morgen die Anzeige auf der 
Polizei machen, Ludwig,’ fagte die Frau Geheime Regierung: 
räthin zu ihrem Manne, „es wäre doch nicht übel, wenn mir 
das hier dulden wollten, und eine Schande für die Polizet. 
Solche gefährliche Individuen darf man nicht frei herumlaufen 
lafien. Wohin gehit Du, Karl?‘ 

„Auf mein Zimmer, aber ich fomme wieder — ich wollte 
mir nur noch ein Buch holen.’ 

Der Geheime Negierungsrath ging mit auf den Rüden 
gelegten Händen in dem Gemach auf und ab, war aber in 
verdrießliher Stimmung, denn die Dofe wollte ihm nicht 
aus dem Kopfe. Eine Möglichkeit gab e8 noch, daß fie nämlich) 
der alte zerftreute General von Degen eingeftedt, was er 
Ihon früher einmal in Gedanken gethan hatte, und fie dann 
am nächſten Morgen wieder zurückſchickte. Es wäre auch zu 
fatal gemwejen, wenn fie verloren fein follte! Einmal von 
nicht unbedeutendem Werthe, ſchätzte er fie außerdem als das 
Geſchenk feines Landesherrn doppelt hoch, und hätte wahr: 
ſcheinlich den zehnfachen Werth, der Doje nicht dafür an- 
genommen. Aus feinem Sinnen follte er aber bald aufgeftört 
werden ; draußen ſchlug eine Thür fo heftig in's Schloß, daß 


154 “ 


die Fenster Elirrten, und gleich darauf ſtükmte die Frau Geheime 
Regterungsräthin mit Hochgeröthetem Kopf und bligenden 
Augen in's Zimmer und rief mit vor innerer Aufregung fait 
erftidter Stimme: 

„Ludwig, mein ganzer Schmud iſt gejtohlen — e8 muß 
Jemand bei uns eingebrochen fein!" 

„Dein Schmuck?“ fagte ihr Gatte, aber doch felber er- 
ihredt emporfahrend — „Du träumjt, Kind, Du haft ihn ja 
um!‘ 

„Die Diamanten ja, aber mein ganzer Rubinenſchmuck iſt 
fort. Ich hatte heut Abend, noch unjhlüffig in der Wahl, 
beide Kaſten vorgeholt und endlih die Diamanten gewählt, 
die Rubinen aber auf dem Tijche ftehen laſſen — jebt ift der 
Schmuck verſchwunden.“ 

„Aber Du irrſt Dich, Herz, Du wirſt ihn in Gedanken 
in ein anderes Fach geſchoben haben.“ 

„Aber das Etui ſteht ja noch offen auf dem Tiſche!“ rief 
die Frau Geheime Regierungsräthin, in aller Aufregung ſtark 
gegen ihren Gemahl geſticulirend — „der Schmuck iſt heraus 
— ich werde doch den Schmuck nicht weglegen und das Etui 
ſtehen laſſen. Du mußt den Augenblick auf die Polizei.“ 

„Sind denn Deine Fenſter offen, daß irgend Jemand ein— 
ſteigen konnte?“ frug ihr Gatte. 

Die Frau Geheime Regierungsräthin ſtürzte in ihr Zimmer 
zurück, um dort Alles nachzuſuchen und zu unterſuchen — der 
Bediente und Kutſcher wurden ebenfalls dazu gerufen, denn 
es war ja doch denkbar, daß der Dieb noch keine Gelegenheit 
gefunden, ſich zu entfernen und irgendwo in einem Kleider— 
ſchrank oder ſonſt wo verſteckt war. 

Noch während ſie damit beſchäftigt waren, klingelte es 
draußen an der Thür, und als der Geheime Regierungsrath, 
der eben zu ſeiner Gattin hinüber gehen wollte, ſelber öffnete, 
ſtand das Mädchen der Frau von Vogtheim, die ebenfalls 
Theil an dem Diner genommen, draußen und richtete eine 
Empfehlung von der gnädigen Frau aus, und die gnädige 
Frau müßten heut Abend hier beim Diner ihr goldenes Arm— 
band verloren haben, und erſuchten die Frau Geheime Regierungs— 


155 


räthin recht freundlich, einmal nachſehen zu laſſen, ob es nicht 
vielleiht noch unter der Tafel läge. 

Unter der Tafel! Der Johann Hatte ſämmtliche Zimmer 
Thon nah den verſchiedenſten vermißten Gegenftänden abge: 
krochen, und wenn es eine Stednadel geweſen wäre, müßte 
er fie gefunden haben. Der ganze heutige Abend fchien dem 
Geheimen Kegierungsrath aber felber wie verhert, denn daß 
ein Gegenftand verloren gegangen fein konnte, ließ fich er: 
lären, bier fehlte e8 aber aller Orten und Enden, und die 
Sache fing an ihm unheimlich zu werden. Es ſchien in der 
That, ala ob eine Anzeige auf der Polizei geboten fei, und 
ald Karl jebt gerade aus feinem Zimmer trat, fagte er: 

„Karl, wie viel Uhr haben wir?‘ j 

„Wie viel Uhr, Papa?“ frug dieſer etwas verlegen zurück 
— „ich — ich weiß es wahrhaftig nicht. Ich — habe vorhin 
meine Uhr in meinem Zimmer liegen lafjen und — Tann fie 
jett nicht finden.‘ 

„Deine Uhr?‘ 

„Ja, Bapı — ich hatte fie, alS ich meinen Anzug wechlelte 
— wie ich feft glaube, mit meinem Geld und der Brieftafche 
Herausgenommen und auf meinen Schreibtifch gelegt, aber dort 
iſt nichts mehr. Es kann fein, daß ich fie in Gedanken in 
eine Schieblade geſchoben habe, aber troß allem Suden bin 
ih nicht im Stande, fie im Augenblik zu finden.‘ 

Der Geheime Negierungsrath wandte fi zu dem Mädchen, 
Das noch immer in der halboffenen Thür ftand und auf Ant- 
wort wartete. 

„Bitte, fagen Sie der Gnädigen, mein Kind, daß ich Alles 
werde genau nachſuchen Yaffen, und wenn fih daS DBerlorene 
findet, woran ich nicht zweifle, ende ich e8 morgen früh Ihrer 
Herrſchaft zu.‘ 

Damit war das Mädchen wenigftens abgefertigt, die Thür 
aber kaum geſchloſſen, als der Geheime Regierungsrath feinen 
Sohn unter den Arm faßte, ihn mit fi in fein Zimmer führte, 
ihn dann los lieg und. Karl Scharf anjehend fragte: 

„Sage mir einmal, Karl, mer war der Herr eigentlich, 
den Du heute bei uns eingeführt, und wo Haft Du ihn früher 
Zennen gelernt?" 


156 


Karl hatte bei der Frage augenſcheinlich die Farbe ein 
wenig gewechſelt, er kam auch mit der Antwort nicht gleich 
heraus und fagte nur endlich, aber doch halb verlegen: 

„Herrn von Sevant meintt Du, Papa? — und — wie 
kommſt Du zu der Trage?‘ 

„Das will ih Dir nachher jagen,‘ bemerkte fein Vater 
troden. „Vor allen Dingen möchte ich aber jebt willen, wie 
lange es her ift, daß Du feine Bekanntſchaft gemacht haft — 
und mo.‘ 

Karl antwortete nicht gleich — er ſchaute ein paar Secunden, 
aber jetzt wirklich verlegen Lächelnd, vor fich nieder, endlich 
aber jagte er: 

„Was kann's helfen, Papa — ih werde Dir doch die 
Wahrheit jagen müflen. Ich fenne den Herrn feit heute Nach- 
mittag fünf Uhr.‘ 

„ber da kamſt Du ja mit ihm zur Tafel! 

„Senau jo, Bapa — aber Du kennſt Mama — fie war 
außer fih, daß fie zu dreizehn an einem ZTifche eſſen follte; 
mic mwolltet Ihr nicht austreten laſſen; die Bekannten, die 
ich zur Aushülfe auffuhte, waren nicht zu Haufe, die Zeit 
drängte, ja die Stunde des Diners ſchlug, und da — engagirte 
ih den erjten beiten anjtändig ausjehenden Fremden, den ic) 
auf der Straße traf.‘ 

„Es iſt unglaublich! rief der Vater, entjeßt Dabei die 
Hände zufammenschlagend, indem er den Sohn mit einem wahr 
haft verzweifelten Blick anjchaute; ‚und weißt Du, unglüd- 
jeliger Menſch, daß Du uns da jedenfalls einen der abgefeim: 
teiten Taſchendiebe in's Haus gebradht Haft, die es in ganz 
Berlin oder irgend einer andern verdorbenen großen Stadt 
giebt 2‘ 

„Aber, Papa!“ rief Karl jet wirklich entſetzt aus, „das 
it ja doch nit denkbar, nicht möglich! Er ſah jo anjtändig, 
ja vornehm aus und hatte ein jo gewinnendes Benehmen.‘ 

„Und glaubft Du, daß ſich nicht gerade ſolche Schurfen in 
alle Lebensverhältniffe genau hinein zu finden wiſſen? Aber 
rufe mir einmal den Johann herein!‘ 

Karl fprang hinaus, um den Diener zu rufen, konnte ihr 
aber nicht gleich finden, denn Johann Froch Schon wieder auf 


IP 


Händen und Knieen und ein Licht vor ſich herſchiebend im 
Speifejaal herum, um Dofe, Broche, Löffel oder Gott weiß 
was ſonſt aufzujudhen. Endlich traf er ihn, mit dem Kopfe 
unter dem einen Divan, beide Füße in der Luft und mit dem 
rechten Arm darunter herumfiichend. 

„Was ſuchen Sie da, Johann?“ 

„Ja, Du lieber Himmel,“ ſagte der alte Diener, indem er 
ſich natürlich aufrichtete, aber noch unwillkürlich den Blick 
rings auf der Erde herumſchweifen ließ, „einen ganzen Ju— 
welierladen. Heute iſt Dieſer und Jener in die Diamanten 
gefahren!“ 

„Es kann ſein, Johann!“ ſeufzte Karl; „aber kommen 
Sie einmal mit zu meinem Vater hinüber; er verlangt nach 


Ihnen.“ 


Johann wurde jetzt vom Geheimen Regierungsrath exa— 
minirt, wann der fremde Herr fortgegangen wäre und ob er 
ihn geſehen hätte. 

„Na verſteht ſich,“ lautete die Antwort, „er hatte eben— 
falls ſeine Brillengläſer verloren und wollte in das Zimmer 
des jungen Herrn, um zu ſehen, ob ſie da vielleicht liegen 
geblieben wären, denn er war vorhin mit drinnen geweſen. 
Aus Verſehen gerieth er aber in das Zimmer der gnädigen 
Frau, und ich brachte ihn nachher zurecht.“ 

„Er war in dem Zimmer meiner Frau?“ rief der Ge— 
heime Regierungsrath raſch. 

„Ja, gewiß.“ 

„Und da brachten Sie ihn in mein Zimmer?“ frug Karl. 

„Na natürlich,“ nickte Johann, „und wohl zehn Minuten 
haben wir drinnen umher geſucht, aber nichts gefunden; dann 
zog er ſeinen Paletot an und verließ das Haus.“ 

„Seinen Paletot?“ rief Karl raſch, „er trug gar keinen, 
als ich ihn auf der Straße traf,“ und wie der Blitz ſchoß er 
aus der Thür hinaus, kehrte aber ſchon nach einer Minute 
zurück und ſagte: 

„Meinen Paletot hat er angezogen, Johann, ich hing 
ihn vorhin, als wir nach Haufe kamen, dorthin, und jest iſt 
er fort," 


158 S 

„Und Du Eſel haft das gelitten ?’' bemerkte der Geheime 
Regierungsrath. 

„Ja, aber mein Gott, gnädiger Herr,“ ſagte der alte 
Burſche beſtürzt, „ich konnte es ja doch nicht wiſſen, und er 
kommt auch jedenfalls morgen früh wieder her, um ſeine 
Brille abzuholen.“ 

„So? — hat er das geſagt?“ 

„Gewiß.“ 

„Nun, dann kannſt Du jetzt gehen; aber hole mir vorher 
einmal meinen Ueberrock und Stock, ich muß noch einen Weg 
ausgehen.“ 

„Wo willſt Du hin, Papa?“ frug Karl raſch, als der 
Diener das Zimmer verlaſſen hatte. 

„Auf die Polizei, und Du gehſt mit mir, um die näheren 
Data anzugeben.“ 

„And jo glaubſt Du wirklich, daß 

„Ich glaube gar nichts mehr, mein Sohn, ich weiß jetzt 
Alles genau, und wenn wir keine Zeit verlieren, iſt es doch 
vielleicht noch möglich, dem frechen Gauner auf die Spur zu 
kommen und ihm ſeinen Raub wieder abzujagen.“ 

Die Anzeige wurde allerdings noch an demſelben Abend, 
und zwar unter einigen Schwierigkeiten gemacht, denn der 
Polizeidirector war natürlich in Geſellſchaft und von den 
Actuaren Niemand zu finden. Der Geheime Regierungsrath 
ließ aber nicht nach, und ſein perſönliches Erſcheinen wirkte 
überhaupt auf den dienſtthuenden Polizeidiener. Er erinnerte 
ſich, wo der eine Actuar Stammgaſt war, und ſchoß fort, ihn 
zu holen, brachte ihn auch, und ohne Zeitverluſt wurde jetzt 
das ganze Perſonal in Bewegung geſetzt, um dem Betreffen— 
den auf die Spur zu kommen und beſonders ſeine Abreiſe 
zu verhindern — aber natürlich vergebens. 

Am nächſten Morgen machte er ſelbſtverſtändlich den ver— 
ſprochenen Beſuch nicht, war aber auch in der ganzen Stadt 
nicht mehr aufzufinden und blieb von der Zeit an eben ſo ver— 
ſchwunden, wie es die Werthſachen blieben, die er ſich ohne 
Zweifel angeeignet hatte. 


159 


Uebrigens war er nad) einiger Zeit, und zwar ſchon nad) 
acht Tagen, frech genug, felber ein Lebenszeichen von fi zu 
geben. 

Ihre Ercellenz, die Frau Minifter erhielt in dieſer Zeit 
ein Kleines unfrantirtes Paket mit dem Poſtſtempel Hamburg, 
und e8 würde wohl kaum je ein Menſch erfahren haben, 
was es enthielt, wenn nit ihre Kammerfrau zufällig die 
Schwefter der Kammerfrau der Geheimen Negierungsräthin 
geweſen wäre. Dieſe Hatte ſich nämlich den dem Paket bei- 
geſchloſſenen Brief zu verichaffen gewußt und der Schweſter 
gegeben, und durch die Schweiter gelangte er — natürlich 
unter dem Siegel der größten Verſchwiegenheit — im Die 
Hände der Geheimraths-Familie Der Brief lautete: 


Ercellenz ! 

Erinnern Sie ſich noch meiner? Ich Hatte die Ehre, in 
Ihrer Gefellihaft einem Diner, das der liebenswürdige Ge— 
heime Regierungsrath von Bentlow gab, beizuwohnen, und ich 
kann mich nicht beſinnen, je einen intereſſanteren Abend ver— 
lebt zu haben. Ich war auch eigentlich nur Ihretwegen ge— 
kommen, Excellenz, da Sie ſich fürchteten, als Dreizehnte 
oder, beſſer geſagt, als Erſte von Dreizehnen einem unerbitt— 
lichen Schickſal anheim zu fallen. Ich war in der That nur 
als Vierzehnter eingeladen worden — und was für liebe 
Menſchen fand ih da! — IH war auch jo entzüdt über 
diefe ganz neue Umgebung, daß ich, um den herrlichen Abend 
nie zu vergeffen, befehloß, mir von Jedem der interefjanteren 
Perſonlichkeiten ein Andenken mitzunehmen — von Ihnen, 
Excellenz, das, was Ihrem Herzen am nächſten geruht hatte 
— die Broche. Aber nehmen Sie mir das nit übel, Ex— 
cellenz, wenn man nicht einmal bei Damen Ihres Standes 
und Ranges verfichert fein kann, daß fie ächte Steine tragen, 
fo Hört jedes Vertrauen zu der Gefelligaft auf. Der Juwe⸗ 
Vier verſichert mich, daß die ganze Broche mit ber Gold— 
faffung kaum den Werth von 1 Thaler 7'/, Silbergroſchen 
überfteigen würde, ich ſende Ihnen deshalb anbei Die Broche 
zurück, denn es würde für mich, wenn auch eine Erinnerung, 
doch immer nur eine fehmerzlihe und für Sie demüthigende 


160 | ‘ 


fein. Uebrigens verlafjen Sie fih auf meine Discretion, mit 
der ih mich zeichne 


t 
jehr enttäufchter, aber Sie troßdem verehrender 
alias Sevang. 


P. S. Bitte nod Fräulein von Bentlow zu jagen, daß 
ihre Uhr ausgezeichnet geht. Karl's Uhr habe ih ſchon müſſen 
repariren laſſen. 


„Es ift unglaublich!” rief die Frau Geheime Regierungs— 
räthin, ihre Hände zufammenfchlagend, aus, „ganz unglaub- 
lich!“ und es war in diefem Augenblick ungewiß, ob fie die 
Trehheit des Diebes oder die falſchen Steine der Ercellenz 
meinte. Der Geheime Negierungsrath aber nahm feine Brille 
ab, legte fie zufammen, jtedte fie in das Futteral und jagte 
dann, indem er fih wandte, um in fein Zimmer zurüd zu 
gehen: 

‚Deshalb Hat uns alſo Se. Ercellenz gejtern nicht zu 
feinem Namenstage, wie er das ſonſt immer that, eingeladen 
— das iſt eine ſchöne Geſchichte; komme mir aber noch ein- 
mal Einer von Euch mit einem Vierzehnten!“ 


Die Mebergabe von Calobozo. 


r 
Die Pofada. N 


Mitten in den Llanos, von Chaparrobüfchen und einzelnen 
einen Balmen umgeben und nur im Hintergrunde höhere 
Bäume und eine junge Anpflanzung von Bananen zeigend, 
jtand eine der gewöhnlichen Poſaden oder Wirthshäufer, wie - 
fie fih hier und da am Wege finden, um den Maufthiertreibern 
oder Neifenden eine dürftige Erquidung oder einen gejhüßten 
Pla zu bieten, um Nachts ihre Hängematten unter Dad) 
und Fach zu befeitigen. 

Jetzt in der Kriegszeit freilich — es war im Juli des 
Sahres 68 — lagen diefe Plätze meift verödet, denn wer nicht 
‚ nothgedrungen mußte, wagte fi wahrlid nicht in die von 
wilden Soldatentrupps duchftreifte Ebene hinaus — Waaren 
wurden gar nicht transportirt, und Vieh gab es nicht mehr 
in der ganzen Nahbarfchaft, das man Hätte zu Markte treiben 
können — und welder Markt wäre es außerdem gemejen — 
die nächſte Batrouille hätte e8 Doch confiscirt und der Eigen: 
thümer feinenfalS je einen Gentavo dafür befommen, 

Wildbewegt war aber heute der Plab, denn ungebetene 
und ftet3 gefürchtete Gäfte hatten fich eingefunden. Vor dem 
Haufe, an den die Veranda jtügenden Pfählen waren acht 
oder neun Pferde und ein. paar Maulthiere angehangen, und 
ein Burfche, der eher einem Straßenräuber als einem Soldaten 


— rw fü Ei 7 
Yu Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 11 


162 


der Negierungspartei, den Amarillos oder Gelben glich, einer 
kurzen Carabiner im Arm und ein langes Mefjer an der 
Seite, ftand Wache bei ihnen. Uber er hielt auch ein Auge 
auf die freie Llano geheftet, denn der Feind — die Recon: 
quiftadoren oder Azules (Blaue) — ftreifte überall umher 
und durfte fie hier nicht überrafchen. 

Drin im Haus wirthfchafteten indefjen feine Gefährten. 

„Oh, Caballeros,“ bat eine junge wunderhübſche Frau, 
die — in allerdings jehr leichter Kleidung — vor dem 
Dffieier oder Führer der Truppe auf dem Boden lag und 
jeine Kniee umfaßt hatte — „nur die Kuh laßt mir — & 
it ja die lebte. AM meine anderen Thiere haben mir die 
Gelben ja ſchon geholt und die Pferde und Maulthiere dazu — 
Ihr wollt das arme Ding doch nit ganz ohne Nahrung 
laſſen!“ 

„Caramba, Señora,“ lachte der Burſche, denn wie ein 
Officier ſah er gar nicht aus, und doch war es Einer von 
jenen Tauſenden, die Falcon, der jetzige Präſident, zu Gene— 
ralen und Obriſten gemacht, um ſich durch fie eine Schuß- 
wehr gegen die Revolution zu bilden — „wir haben große 
Kinder zu ernähren, und in Calobozo ſelber iſt ſchon Alles 
. aufgezehrtt. Macht Fein unnöthiges Geſchrei, denn ed Hilft 
Euch nichts." 

„Und wenn ich fie Euch abkaufe?“ ſagte das junge Weib, 
indem ſie wieder emporiprang und fi die langen Dunkeln 
Locken aus dem Gefiht warf. 

„Abkaufen? womit ?' 

„Ihr wolltet Wein haben — den lebten, den ich hier im 
Haufe Hatte, haben fih Eure Truppen vorgejtern geholt.‘ 

„omnlun vier Der Officier, aufmerkſam werdend — „habt 
Ihr mehr?“ 

„Zwei Fäſſer noch,“ ſagte das junge Weib mit finſter 
zuſammengezogenen Brauen — „ich wollte ſie auf 
Zeiten aufheben — 

„Wenn die Blauen heranrückten,“ ſagte mit einem ver: 
ächtlichen Lächeln der Burſche. 

„Wollt Ihr den Wein für die Kuh nehmen, Señor?“ 


163 


drängte aber die Frau — „wir Anderen werden ja gern Alles 
entbehren, wenn nur das Kind feine Nahrung hat.’ 

„Bas für Wein ift es?“ 

„Guter vino blanco*), den wir vor ſechs Monaten ſchon 
von San Fernando herüberbefommen Haben.‘ | 

„Alle Wetter, das iſt vortrefflih!" rief der Officier mit 
leuchtenden Augen — „wir find fo Schon Alle Halb verdurftet. 
Wo ift er?” 

„Und ich darf die Kuh behalten ?'' 

„Meinetwegen, lachte der Burfhe — „was liegt mir 
an der Kuh — den Wein müfjen wir haben — den Wein 
her!“ 

Die Bande, die ihm gehorchte, oder wenigſtens unter 
ſeinem Befehl ſtand, denn bei ſolchen Gelegenheiten that 
Jeder gewöhnlich was er wollte und ſtahl was er kriegen 
konnte, horchte hoch auf, als vom Wein die Rede war, denn 
vergebens hatten ſie ſchon verſchiedene Male die leeren Fäſſer, 
die ihre Kameraden früher hier zurückgelaſſen, durchgeſchüttelt. 
Ein paar von ihnen beſchäftigten fi) auch gerade mit dem: 
Wirth, dem fie fcherzhafter Weile mit ihren vorgehaltenen 
Mefjern drohten, damit er ihnen fein verftedtes Geld heraus: 
gebe, um fih in Calobozo Lebensmittel dafür zu Faufen — 
Ernſt machten fie aber trobdem nicht, denn die ganze lebte 
Kevolution hat ſich gerade bei allen folchen Ueberfällen und 
Heinen einzelnen Gefechten durh ihren wenig blutigen 
Charakter ausgezeichnet. Es ftand eigentlich gar nicht Partei 
gegen Partei und Provinz gegen Provinz, wie in den früheren 
wirtlih graufam geführten Kämpfen, wo Liberale und Godos 
die Dberherrichaft zu erlangen juchten, ſondern es war nur 
der Präfident Falcon, der das Land ausgeſogen Hatte und 
noch) länger ausfaugen wollte und deſſen Soldaten fait alle 
nur gezwungen in der Armee dienten. Sie hatten de3- 
halb auch nicht den geringften Haß gegen das Volk, das fie 
befriegen mußten; und daß fie ftahlen — Du lieber Öott, 
eineötheils lag e8 in ihrer Natur, dann that e ihr Präfident, 





*) Vino blanco oder vino seco wird in PBenezuela ein dem 
Keres ähnlicher fpanifher Wein genannt. 
1 


164 


wie ihre dortigen Beamten und Dfficiere, und die Haupt- 
urfahe von Allem — fie mußten leben. Sold wurde ihnen 
nur versprochen, geborgt befamen fie nirgends etwas und 
von der Luft wurden fie nicht jatt, alfo blieb ihnen ſchon 
gar nichts Anderes übrig, als ed zu nehmen, wo fie es eben 
befommen fonnten — und daß das nicht immer auf die 
freundlichite Art geſchah, läßt ſich denken. 

Der Wirth war ein ſchon ältliher Mann — er ſah auch 
kränklich aus und ſchien eingefchüchtert durch das milde 
Drohen der Soldaten. Die junge Frau aber, rejolut in 
ihrem ganzen Weſen, drängte fich ohne Weiteres zu ihm durch, 
ſchob die Soldaten bei Seite und flüfterte ihm raſch einige 
Worte zu, bei denen er erfchroden zu ihr aufſah; aber fie 
geftattete Feine Widerrede — ihr Kind mußte die Milch be— 
Halten, alles Andere galt ihr gleich, und jeinen Arm ergreifend, 
zog fie ihn Hinter dem Haus der Stelle zu, wo fie die Fäſſer 
eingegraben hatten, 

Der Plab war ungefähr hundert Schritt vom Haus ent- 
fernt, unfern von einem ziemlih ftarken Dradenblutbaume 
und am Rande der Bananenpflanzung, die dort in Reihen 
jtanden, ja jelbjt unter der erften Pflanze, die ſchon etwa 
fünf Fuß Hoch darauf emporgewachſen. Dort hätte aud) 
fiherlid Niemand danach geiuht — aber e8 half nichts, 
jelbit das Leiste mußte preisgegeben werden, und die Soldaten 
zeigten fich in jofern gefällig, als fie die Seriora — fobald 
fie nur einmal den Plab mußten, nicht weiter bemühten. 
Einige Handwerkszeug hatten fie ſchon im Haufe aufgegriffen 
und mit herausgenommen, und ald Donna Juana, wie die 
junge Frau hieß, mit einem nur halb unterdrüdten Seufzer 
auf die Banane zeigte, riſſen fie die Pflanze im Nu heraus 
und arbeiteten wader mit Spitzhacke und Schaufel in den 
durch den lebten Regen etwas ermeichten Boden hinein. 

Es dauerte auch nicht lange, jo kamen fie auf den ver- 
borgenen Schab, und eine anerfennenswerthe Geſchicklichkeit 
entwicelten fie dabei, wie fie die Fäſſer emporhoben, das eine 
anzapften, und dann zugleich eins von ihren Padthieren 
berbeilchafften, um den Reit nad der nicht fernen Stadt 
Calobozo, wo fie ihr Hauptquartier hatten, mitzunehmen. 


165 


Der General en chef, Moneca, commandirte dort und war 
gewiß nicht böfe über einen jo ausgezeichneten Trunf. 

Südamerifaner find übrigens felten unmäßig im Genuß 
geiftiger Getränke, und außerdem von dem Dfficier überwacht, 
der den guten Stoff nicht vergeudet haben wollte, mußte das 
angebrochene Faß bald wieder zugeichlagen werden, ein zweites 
Maulthier befam es aufgefhnürt, und kaum eine halte Stunde 
‚Ipäter war der Trupp zum Aufbruch fertig. 

Die junge Frau, die ihre Leute mit den gelben Hutbändern 
ihon Fannte, juchte aber indefjen ihre Kuh in Sicherheit zu 
bringen, und um den Schwarm auh nicht einmal mehr in 
Verſuchung zu bringen, führte fie das Thier dem kleinen 
Wäldchen zu, das da oben bei den Bananen begann. 

Dbrijt Colina (er mochte kaum einundzwanzig Jahre zählen, 
mar aber ein Vetter des berüchtigten Negergenerals Colina, deſſen 
Blut er ebenfalls nicht ganz verleugnete) hielt draußen auf 
der Ebene und Hatte dort bemerkt, wie die Wirthin mit dem 
Thier die Anhöhe hinaufſchritt. Ein leiſes fpöttifches Lächeln 
zog fih um feine Lippen, aber er ließ fie ruhig gewähren, 
bis er feinen Zug zum Aufbruch gerüftet und im Sattel jah. 
Dann rief er Einen feiner Leute an die Seite, flüfterte ihm 
ein paar Worte zu und lenkte, ohne fih weiter um die Vor: 
gänge im Haus zu befümmern, jein Pferd ruhig wieder der 
Straße zu, die nad) Calobozo führte. 

Die Frau Hatte indefjen das Eleine Didicht erreicht, aber 
fie hielt fih dort no immer nicht auf; fie mußte erit aus 
Siht vom Haufe und vielleicht noch weiter fommen. Denn 
was half es ihr auch, wenn fie Diefem Trupp von Maro- 
deuren ihr Eigenthum entzogen hatte; ein anderer fonnte 
dicht Hinter ihnen drein kommen, und jebt bejaß fie nichts 
weiter, um ſich noch einmal von ihnen loszufaufen. 

Weiter und weiter fchritt fie, und die Kuh folgte, als ob 
fie gewußt hätte, daß fie ihr eigenes Leben in Sicherheit 
brachte, wenn fie hier in der Pflege blieb und ſich nicht nad) 
Calobozo Hineintreiben ließ. — Da hörte Doña Juana Pferde 
getrappel hinter ſich — erſchreckt wandte fte den Kopf und 
ſah ſchon im nächſten Moment Zwei der Bande mit grinjenden 
Geſichtern Hinter ihr drein traben und ihr zuniden. 


166 


„Sollen wir ein bischen treiben helfen?’ Yachte fie der 
Eine an, als er jebt mit wenigen Säben an ihre Seite fprengte, 
während der Andere vorritt und den Weg verlegte, „das geht 
fo zu langjam, Señorita.“ 

„Laßt Ihr mich nur zufrieden,‘ ermiderte die junge Frau 
mit gerungelter Stirn, aber fie fühlte zugleich, wie ihr das 
Herzblut ftodte, denn was die Buben wollten, wußte fie im 
Augenblick — „die Kuh ift mein; ich Habe ſie Euerm Dfficier 
abgefauft, und ich kann mit ihr machen was ich will.‘ 

„Hübſche Kuh das,‘ lachte jebt der Andere — „und wie 
fett — Schade, daß fie gefchlacdhtet werden muß!“ 

„Rührt mir die Kuh nicht an!’ jchrie die junge Frau, 
in jähem Zorne emporfahrend, „beim ewigen Gott, ich reiße 
Euch das Herz mit meinen Nägeln aus dem Leibe!” 

„Carajo cuidado !“ lachte der eine Burſch, aber fih in 
demfelben Moment auch mit feinem Pferd zwiichen die Kuh 
und ihre Yührerin werfend, hieb er mit dem ſcharfen und 
Ihweren Mefjer den Strid durch und ſcheuchte das erjchredte 
Thier, das fich plößlich frei jah, nach dem Haufe zurüd. Der 
Andere war ebenfalls rafh an feiner Seite, und ehe das 
junge, zum Aeußerſten getriebene Weib nur Einem in die Zügel 
fallen fonnte, hatten fie die Kuh in Gang gebracht und fchrit- 
ten mit ihr quer an der Kleinen Umzäunung hinüber, um fich 
ihrem Neitertrupp wieder anzufchließen. 

Die Frau rannte in Wuth und Verzweiflung hinter ihnen 
her, hatte aber kaum den Holzrand erreicht, von wo auß fie die 
Llanos wieder überſchauen fonnte, als ſie einen gellenden Jubel— 
ruf ausjtieß, denn dort über die Ebene ſah fie, vom Norden 
herunter, fünf Reiter in gejtredter Carriere über die Steppe 
jagen, und näher und näher kamen fie heran. 

Die Soldaten hörten wohl den Schrei, achteten aber gar 
nicht darauf, denn fie glaubten, daß fie die Frau nur dadurd 
bewegen wollte, ihre Beute im Stiche zu laſſen. Lächerlich! was 
fie einmal hielten, gaben fie wahrhaftig nicht wieder gutwillig 
her, und ihre ganze Aufmerkſamkeit war auf die Kuh gerichtet, 
damit ſich diefe nicht etwa — noch in der Nähe ihres alten 
Fütterungsplabes — wieder zurüdwende und ihnen unnöthige 
Arbeit mache. 


167 


Der ganze Trupp hatte ſich indefjen in Bewegung gejekt, 
denn fie wußten recht gut, daß fie Alles hier weggeholt, mas 
überhaupt noch zu holen war. Nur der Officer, Obrift Colina, 
war zum Haus zurüdgeritten, um ſich Feuer für Die ausge— 
gangene Gigarre geben zu laſſen — er fonnte jeine Leute ja in 
wenigen Minuten überholen. 

Selbft der bis dahin aufgeftellte Poſten hatte mit feiner 
Aufmerkſamkeit nachgelafen, denn er mußte jebt die beiden 
Maulthiere zufammenhalten, als plöslic Einer der Schaar den 
Kopf wandte und die anjprengenden Reiter entdedte. — Sein 
Warnungsruf — ein eigenthümlich außgeftoßener Schrei — machte 
aber auch die Uebrigen aufmerkſam, und erfchredt und über: 
raſcht fielen fie ihren Thieren in die Zügel, Sie wußten ja 
nicht, welchen Befehl fie von ihrem Dfficier erhalten würden, 

Drift Colina hatte übrigens Die Gefahr ebenfalls, und 
zwar erſt dur) das Stampfen der heranfprengenden Pferde er: 
fannt. Er konnte allerdingd nur fünf Reiter zählen, und acht 
befehligte er felber — aber wußte er, ob das nicht blos die 
Avantgarde eines größeren Truppd war, denn die Burſchen 
ihienen fih gar nicht darum zu kümmern, wie viele Feinde fie 
hier treffen würden. — Mit verhängtem Zügel kamen ſie 
heran, und ſelber nicht geſonnen, in ihre Hände zu fallen, gab 
er ſeinem Thier die Sporen und galoppirte ſcharf auf ſeine 
Leute zu. 

„Der Feind, Obriſt!“ rief ihn Einer von dieſen an. 

„Ich weiß es — fort!“ winkte der tapfere Obriſt, „wenn 
wir nur erſt den Waldrand erreichen, dürfen ſie uns nicht 
folgen.“ 

Der Soldat ſah wohl den kleinen Trupp, mit dem ſie es 
recht gut aufnehmen konnten, hatte aber ſelber nicht das ge— 
ringſte Intereſſe, ſich für die‘ — Sache aufzuopfern, und 
machte es deshalb wie die Uebrigen, d. h. er gab ſeinem Pferde 
die Sporen und ſuchte nur jetzt die beiden Vadthiere und die 
Kuh fo raſch als möglich vorwärts zu bringen, denn ihre Beute 
durften fie ſich doch Feinenfalls wieder abjagen lafjen. 

Wie ein Wetter aber kamen die fünf Reiter der Recon: 
‚quiftadoren heran. — Hatten fie wirklich noch eine Nachhut zum 
unmittelbaren Schub, daß fie fi fo keck auf einen weit ſtärke— 


168 


ren Feind warfen? und doch, fo weit das Auge auf der meer- 


gleichen Llanos reichte, war Fein menschliches Weſen mehr zu 
erfennen. Uber fie felber blicten fich weder danach um, nod) / 


ließen fie den Negierungstruppen — oder den Gelben, wie man 
fie kurzweg nach ihrem Hutband nannte — Zeit, die Köpfe zu 
wenden. Toll und wild fauften fie hinter ihnen drein, und es 
war ein prachtvoller Anblid, die Reiter zu fehen, wie fie auf 
den ſchnaubenden Thieren über die Ebene flogen. 

Wild genug fahen die Burſchen aus — Uniform 
hatten fie gar nicht — der eine trug eine alte Soldatenmüte, 
die anderen alte Strohhüte, mit Streifen roher Haut unter dem 


Kinn feitgebunden; der Dfficier oder Führer der Batrouille 


hatte eine kurze blaue Jacke an und blaugeftreifte Beinfleider, 
aber einen Degen an der Seite und links im Gürtel einen 
Revolver; den andern Revolver trug er zum Gebraud bereit 
in der rechten Hand, und feinem Thier voll den Zügel laſſend 
und e3 nur mit den ſcharfen Sporen zu rafcherem Lauf anz 
treibend, ſchien er gar nicht darauf zu achten, daß er ſelbſt feine 
Gefährten hinter fich Tie und fait allein die Verfolgung aufnahm. 

Den Bortheil erſah er aber, daß fich auch. die feindlichen 
Reiter getrennt hatten, denn Colina war mit Fünf feiner Leute 
ſchon weit voraus, während fich die drei Anderen noch abmühten, 
die Kuh und die beiden Padthiere fortzutreiben. Das freilich 
mußten fie bald aufgeben — — die Kuh brach zuerft wieder 
rechts aus, denn fie war das Heben nicht gewohnt, und dag 
Schreien ihrer Treiber machte fie Scheu — das eine Maulthier 
dabei, mit dem angebrochenen Faß auf dem Rüden, hätte wohl 
langjam feinen Weg verfolgen können, fo aber wurde ihn die 


bald vor: bald zurüdichiegende LXaft unbequem — ſtörriſch hielt 


es plöblich, dad andere drehte ih nah ihm um, und einen 
wilden Jubelruf ftießen die Verfolger aus, als fie jahen, daß 
zwei der Reiter zögerten und die Thiere nicht im Stich laſſen 
wollten. Der Dfficier der Blauen war jeßt bis auf faft Hundert 
Schritt an fte herangefommen — und follten fteihn erwarten ? — 
Was für Waffen Hatten die armen Teufel? Feine als ihre 
Meſſer und einen alten Karabiner, ja der Eine von ihnen nur 
eine Lanze, und die Dfficiere trugen, wie fie recht gut wußten, 
ſtets ihre Revolver. 


169 


Vorwärts! — Maulthiere, Wein und Kuh mochte der 
Henker holen, Wenn ihr Obrift nicht einmal Zeit hatte, 
darauf zu warten, fie befamen doch das Wenigite davon, und 
ihre Pferde herummerfend, folgten fie bald in wilder Flucht den 
Mebrigen — aber den Officier verloren fie deshalb doc nicht 
von der Fährte. 

Ohne fi) bet den Padthieren aufzuhalten, blieb er dicht 
hinter ihnen, denn er ſah bald, daß er das fchnellere Thier 
vitt, und war entfehloffen, mwenigftens einen Gefangenen zu 
machen. 

Allerdings begann nicht weit davon entfernt der Wald, in 
dem er möglicher Weife einem andern und flärferen Streif- 
corps in die Hände fallen konnte, aber nod lag wenigſtens 
eine Strede Llaͤnos vor ihm, und kaum Hundert Schritt weiter 
hatte er die Flüchtigen faft überholt. — Der zu rechts ritt, 
Hörte auch den kecken Verfolger und drehte ſcheu den Kopf nad) 
ihm, denn er fürdtete den Revolver; dann aber, in einem 
Inſtinct der Selbfterhaltung, ri er fein Thier zur Seite, ſchnitt 
quer über die Llanos und erreichte dadurch wenigitens, daß der 
„Blaue“ nicht gleich wußte, wem von den Beiden er folgen ſolle. 

Da ftolperte das Pferd des Andern in der Straße, und ſich 
nun nicht länger um den zur Seite Ausgebrochenen kümmernd, 
glaubte er ſich ſeiner Beute dort gewiß. Das geſtolperte Thier 
hatte ſich aber ſchon wieder aufgerafft, und der Reiter that ſein 
Beſtes, um es vorwärts zu treiben. 

„Halt, mein Burſche!“ rief da der Officier der Recon⸗ 
quiſtadoren, „halt, oder ich ſchieße Dich wie einen Sack vom 
Pferde nieder.“ | 

Der erichredte Soldat, dem fein Leben lieber war als feine 
militäriſche Ehre, fah recht gut, daß er nicht mehr entkommen 
konnte, und griff feinem Thier in die Zügel, aber jetzt wollte 
das Pferd nicht, Mit dem andern neben fih und in voller 
Flucht dahinfprengend, war es nicht mehr zu halten, denn mie 
es bei diefen Thieren fo häufig geht, daß auch die ruhigiten zur 
Anfpannung aller ihrer, ſelbſt der letzten Kräfte getrieben wer— 
den, wenn e8 zu einer Art von Wettlauf fommt und dag ans 
dere fie zu überholen droht, fo auch hier. Es nahm das Gebiß 
zwiſchen die Zähne und ging förmlich mit ſeinem Reiter durch. 


170 


Der Officer fah im Nu, daß der Soldat nit die Schuld 
trage und gern gehorcht hätte, aber er felber konnte feine 
weitere Zeit verfäumen, der Waldrand war zu nah, und ohne 
fih einen Moment länger zu befinnen, ſchoß er dem flüchtigen 
Saul, unmittelbar neben dem er fich befand, eine Kugel aufs 
Kreuz, daß er wie von einem Blitz getroffen zufammenbrad), 
feinen Reiter weithin über fi abjchleuderte und Dann per— 
gebens verjuchte, wieder auf die Füße zu kommen. 

Der Dfficier war aber im Nu an der Seite des Ge— 
ftürgten, wo er fein Pferd einzügelte und dann mit ruhiger 
Stimme jagte: 

„Ergieb Dih in Dein Schiefal, Eompafero, und verjudhe 
nicht, mir wegzulaufen, denn es hülfe Dir nichts. Meberhaupt 
haben Did Deine Kameraden Shmählih im Stiche gelalien, 
und ich glaube, Du haft bei uns befjere Behandlung zu er: 
warten, wie für eine befjere Sache zu fämpfen, als da drüben 
bei den Gelben. — Komm mit zurüd zu der Pofada — es 
fol Dir Fein Leid gefchehen, denn wir führen nicht mit Deines: 
gleichen Krieg.‘ 

„Und den Sattel?" fagte der Mann, der überhaupt an 
feine Flucht denken konnte, denn der Sturz hatte ihn übel 
mitgejpielt. 

„Nimm Sattel und Zaum ab, mein Burfche, und jchieß 
dem armen Thier Deine Kugel dur den Kopf — Du braudjit 
doch vor der Hand fein geladenes Gewehr — naher Fannft 
Du eind von den Maulthieren zum Reiten befommen. Mag’ 
raſch, denn wir haben nicht viel Zeit.‘ 

Dier von den anderen Soldaten der Blauen waren jebt 
ebenfall8 herangefommen, der fünfte trieb die beiden Maul- 
thiere und die Kuh zum Haus zurüd, denn er jah wohl, daß 
die Verfolgung aufgegeben war. Der „Gelbe“ wollte auch gern 
dem: Befehl folgen, aber fein Carabiner ging gar nicht los, und 
einer der Blauen ſprang jebt von feinem Thier und jtieß dem 
armen verfrüppelten Pferde fein Mefjer in die Bruft, damit 
es nicht lebendig von den herbeiftreichenden Zapoletes oder 
Aasgeiern angefrejlen wurde. Dann machte fi die kleine 
Gavalcade, langſamer al3 fie gefommen, denn der Gefangene 
fonnte nicht recht fort, auf den Rückweg, und während er 


mel 


neben dem Officier gehen mußte und Einer der Leute zurüd- 
blieb, um glei Nachricht zu geben, wenn fi) etwas Verdäch— 
tiges nach dem Wald zu zeigen follte, frug ihn dieſer nad) 
den DVerhältniffen in Calobozo und der Zahl der dortigen 
Truppen. Der Gefangene gab auch in der That jede Aus— 
£unft, die er irgend konnte. 

Falcon — Reconquiſtadores — er hatte wohl die Namen 
gehört, aber Feine Ahnung weshalb fie ſich Ihlugen und für 
was, und noch weniger Intereſſe dabei, feine Lage für eine 
oder die andere Partei unbehagliher zu machen. Löhnung 
Hatte er nie befommen, nicht einmal immer fatt zu eflen, ge: 
waltfam war er ebenfalls zum Militär aus feiner Heimath 
mweggefangen worden — welche Rüdfiht brauchte er auf die 
Armee des Präfidenten zu nehmen, der er ja doch nur ge- 
zwungen angehört. 

In Calobozo Tagen etwa vierhundert Mann Amarillos, 
aber jchlecht gekleidet und fchlechter bewaffnet, die meiften ſogar 
felbjt ohne Feuergewehr und nur mit Ranzen und Meſſern ver: 
jehen, mit denen fie freilich manchmal beſſer umzugehen willen 
als mit Feuerwaffen; General Moneca commandirte dort und 
ſchien bei den Soldaten nicht beſonders beliebt. Er Hatte viele 
Gontributionen ausfchreiben laſſen und viel Geld eingetrieben, 
aber nie eine Löhnung ausgezahlt, und es hieß, daß er das 
Geld für ſich felber zurückgelegt. Calobozo war ganz offen, und 
eigentlih nur die Plaza von den Truppen beiebt. Die Be 
wohner von Calobozo jollten aber, faſt ohne Ausnahme, der 
revolutionären Partei vollftändig ergeben fein — bejonders die 
Frauen waren, wie der Mann fi) ausbrüdte, ganz des Teufels 
für die Blauen und gegen die Gelben, und General Moneca 
Hatte fogar ſchon ein paar Mal einige von ihnen einjperren 
laffen, weil fie zu offenkundig mit ihrer Meinung heraus: | 
Tamen. 

Der junge Officer hörte ihn ruhig und ftill vor ih Hin 
lächelnd an, aber unterbrad ihn fait gar nicht und warf nur 
dann und wann einmal eine Frage ein, die meiften® die Polizei— 
führung in der Stadt betraf und wie man gegen Fremde dort 
verfahre. Davon wußte aber der Burfche nur ſehr wenig und 
£onnte weiter feine Auskunft geben, als daß Fremde, fobald fie 


172 


anfämen, auf die Präfectur geladen würden, um fich dort zu 
legitimiren. Wie er fagte, jtanden immer eine Anzahl Soldaten 
um die Stadt herum auf Poften, um augenblicklich ankommende 
Fremde zu fignalifiren. In der Nacht aber war nur die Plaza 
mit den nächſten Eden bejekt, da man fortwährend einen An- 
griff der Blauen fürchtete und ſchon ein paar Mal jehr nublos 
alarmirt worden war. 

Indeſſen hatten ſie die Poſada wieder erreicht, wo aber der 
junge Dfficier vorher einen ganzen Sturm von Dankbarkeit 
abhalten mußte. Die junge Frau nämlih Fam ihm entgegen- 
geſtürzt, zog ihn fait vom Pferde herunter und küßte ihn wieder 
und wieder, was er fich mit lächelnder Miene aud ruhig ges 
fallen ließ, bis e8 ihm doch endlich jelber zu viel wurde, denn 
feine Leute fingen ſchon an zu laden, und ihr Mann ftand 
dabei und machte ein furchtbar dummes Geficht. 

„ber, Señorita,“ rief er aus, „was habe ich denn ge— 
than? Daß id den Schuften daß Geftohlene abgejagt? dag 
mar ja nur meine Pflicht, und aus alter Freundichaft für Sie 
that ich e8 mehr als gerne Waren die Gelben lange hier?’ 
„Oh, wohl zwei Stunden — ad, die ſchreckliche Zeit, die 
ich verlebt — und meine arme Kuh!’ | 

‚un, das bischen Bewegung, das fie gehabt hat,“ lachte 
der junge Mann, „wird ihr ſchwerlich etwas ſchaden, aber den 
Wein haben fie Euch tüchtig durhgefchüttelt, Sefiorita, wie 
wär's, wenn wir ein Glas davon befämen, ehe er ganz verdirbt, 
denn lange wird er ſich doch wohl nicht mehr. halten.‘ 

„Oh, jo viel Ihr trinken wollt!’ rief die junge Frau leb— 
haft aus, „und wenn e8 Alles wäre, Gott weiß, wie gern ich ihn 
Euch gebe. Hatten wir ihn doch ſchon verloren geglaubt.‘ 

Der Dfficier gab den Leuten einen Wink, die auch ohne 
Meiteres das angebrochene Faß in Anſpruch nahmen und nicht 
viel ungefchicdter damit umzugehen mußten, als die Gelben. 
Das volle rollten fie in da8 Haus, wo ed der Wirth aber 
augenblicklich auf eine Schleife legte und mit einem der Maul- 
thiere in den Wald hineinzog. Er juchte fi dort jedenfall 
einen veritedteren Plab, um es auf's Neue zu verbergen, und 
den jollte diesmal ſelbſt nicht feine Frau erfahren. 

Der junge Dfficier hatte fich indeffen auf ganz eigenthüme 


173 


liche Weife beihäftigt, indem er dem Gefangenen das gelbe 
Band abnahm, jeine blaue Cocarde in die Tafche ftedte und 
das Zeichen der Amarillos um feinen eigenen Hut band; eine 
dünne Codija ſchnallte er dann von feinem Sattel los, warf 
fie fid) über und ftand jo ‚mitten in der Stube, als Doña 
Juana, die etwas draußen zu bejorgen gehabt, wieder in das 
Haus trat und vor Schred laut aufſchrie. 

„Ave Maria Purisima!‘ rief fie beftürzt aus, „aber Don 
Telipe, Habt Ihr mir Angſt gemadt. Ich glaubte ja wahrhaf- 
tig, die Gelben wären zurüdgefommen. — Ihr ſeht vortrefflich 
aus als Amarillo, und beinahe Hätte ih Euch gar nicht gekannt.“ 

‚So viel beſſer,“ Tachte der junge Mann, „dann habe ich 
aud die Hoffnung, daß ih in Calobozo einen Spaziergang 
maden kann, ohne gleich Berdacht zu erregen.‘ 

„Par Dios! Ihr denkt doch nicht daran, Eud in das 
Näuberneft zu wagen? Gott wolle es verhüten!“ rief die junge 
Frau, „Ihr würdet als Spion aufgegriffen und von dem 
alten Schuft, dem gelben Moneca, fo fiher als Spion aufge: 
hängt, wie fie neulich den armen Mateo gehängt haben, der nur 
in die Stadt geihlichen war, um feine alte Mutter zu befuchen.‘’ 

„Denn fie mich fangen, Querida!“ 

‚Aber weshalb wollt Ihr Euer Leben wagen 2 rief Die 
junge Frau, „es kann ja doch nicht mehr fo lange dauern, bis 
Ihr das gelbe Raubgefindel aus dem Neft Hinausjagt, und 
dann jeid Ihr die Herren im Orte.“ 

„Alles jehr Schön, Señorita, aber e3 fann auch eben noch 
länger dauern, als wir jebt glauben, und wenn ich num feit 
acht langen Monaten ſchon meine Braut nicht mehr gejehen 
hätte und ihr gern einmal Guten Tag jagen möchte, würdet 
Ihr mich deshalb tadeln?“ 

„Eure Braut?’ rief die Frau erftaunt, „Ihr habt eine 
Braut in Calobozo?“ 

„Allerdings hab’ ich die, und dag ih mich nicht behaglich 
fühlen kann, wenn ih fie unter ſolchem Raubgefindel weiß, 
mögt hr Euch einbilden. Apropos, kanntet Ihr den Officier, 
der die Bande befehligte?“ 

„Das war ja der Lump, der junge Colina,“ rief Die 
Frau, „der feinem Better, dem Neger, alle Ehre macht, der 


N 


ſchlechte Kerl! Berkauft mir meine eigene Kuh und läßt fie 
dann hintennach wieder jtehlen.‘' 

„Habt Ihr mir nit Grüße für ihn aufzutragen?“ Tachte 
der. Dfficier. 

„Oh, um des Himmel? willen fpottet nicht,‘ rief die 
Frau, „der Herr verhüte, daß er mit Euch dort zufammen: 
trifft! Denkt an den armen Mateo.“ 

„Bah!“ lachte der junge Mann verächtlich, „die Courage 
der Herren von der gelben Yarbe Habe ich heute geſehen.“ 

„Sie find nit Alle jo feige, Don Felipe,‘ warnte die 
Yrau. 

„And troßdem; ich bin von Alvaredo zum Recognosciren 
ausgeſchickt, und es ift mir überlaffen, wie weit ich meinen 
Zug ausdehnen will, Daß ich aber dabei einmal mein Bräut- 
hen wieder zu jehen wünfche, kann mir Niemand verdenfen,. 
und nebenbei erfahre ich Dort gleich aus ficherer Duelle, wie 
die Sachen in der Stadt jelber ſtehen.“ 

„Oh, Don Felipe, wenn fie Euch auch aufhingen,“ klagie 
die junge Frau, „ich würde mein ganzes Leben lang nicht 
wieder froh!“ 

Der junge Mann legte ſeinen Arm um ihre Taille, drückte 
ihr lachend — trotz der Braut in Calobozo — einen Kuß 
auf die Lippen, die ſie ihm nicht entzog, und ſagte dann 
leichtherzig: 

„Schönen Dank, mein Schatz, für das freundliche Wort, 
aber jetzt auch genug der Spielerei. — Benito, Du begleiteſt 
mich bis in die Nähe der Stadt, um mein Pferd zurück zu 
nehmen, denn zu Fuß möcht' ich den langen Weg doch nicht 
machen, und wenn das Glück mir wohl will, bin ich über— 
morgen früh zum Kaffee wieder hier.“ 

„Und wenn Ihr nicht kommt — 

„Bah,“ rief der Soldat, „dann brauche ich vielleicht gar 
keinen Kaffee mehr — und nun fort! — Den geraden Weg 
dürfen wir natürlich nicht nehmen, denn Señor Colina wird 
wohl ſchönen Lärm da drin gefchlagen haben; aber defto be- 
quemer komme ich nachher von der andern Seite hinein. Wie 
it der Huarico? hat er viel Waſſer?“ 

„Der Alte, der geftern Abend von dort zu Fuß herüber- 


175 


kam, fagte, dag ihm dag Waſſer kaum bis an die Siniee ges 
gangen wäre,‘ 

„Bueno ! — Alles nah Wunſch, und nun zu Geſchäften.“ 

Während die Wirthin das Wenige, was fie an Lebens— 
‚mitteln vor den Gelben verſteckt gehalten, auftrug — und in 
der That, es war ein dürftiges Mahl, gab Felipe Morro, der 
junge Obrift in der Armee der Reconquiſtadoren, feinen 
Leuten die nöthigen Befehle, fih während feiner Abweſenheit 
nicht hier, aber doch in der Nähe und indefjien gute Wacht 
auf Alles zu Halten, was gejchähe; der Gefangene, der fich 
aber jhon ganz bejtimmt erflärt hatte, zu den Blauen über: 
zugehen, wurde ihrer Obhut übergeben, und kaum eine Halbe 
Stunde fpäter trabte der junge Mann jeinem allerding3 etwas 
gefährlichen Abenteuer mit jo leichtem Herzen entgegen, als 
ob es fih nur darum gehandelt Hätte, einen Spazierritt dur) 
die frilch grünende Llano zu machen, nit um den Feind in 
feiner eigenen Höhle aufzujuchen. 





2. 
In Caloboso. 


Menn ed einen reizenden und freundlichen Punkt in den 
lanos giebt, fo iſt es das kleine Städtchen Calobozo, das 
etwa in der Mitte zwifchen den Gebirgen des Nordens und 
dem ſüdlich davon in den Drinoco jtrömenden Apure allerdings 
anfcheinend flah in der Ebene Liegt. Aber ſchon die Ufer des 
vorüberftrömenden Huarico find ziemlich hoch, und während 
der Boden ing der Stadt jelber nur unmerklich jteigt, findet 
man ſich plösblid im Süden an einem mit dem herrlichiten 
Grün bewachſenen, ziemlich fteil abfallenden Hügel, deſſen 
Tuß von gewaltigen Mangobäumen eingefaßt tft, und von 
dem aus man eine jo eigenthümliche wie prächtige Yernficht 
über das weite, meergleiche Chaparrogebüſch der Llanos hat. 


176 N 

Das war auch der Glanzpunkt der Stadt — dort lagen 
die warmen Bäder Calobozo3 unter Mango: Blüthendbüjchen 
und Palmen, und die fhöne Welt von Calobozo — und der 
Drt iſt berühmt in ganz Venezuela feiner ſchönen Mädchen 
wegen — verbrachte Hier gewöhnlich die heike Tageszeit. — 
Uber wie ſah das jebt an der font fo reizenden Stätte aus! 

Seit langen Monaten, wo der Neger-General Colina, 
von dem Volk el cholera genannt, Calobozo mit feinen 
Schwärmen überzogen und eine jtarfe Befeßung bier gelafjen 
hatte, um die Städter für ihre revolutionären Neigungen zu 
züchtigen, war Stadt und Nahbarichaft von den rohen Banden 
ausgeiogen und verwüftet worden. Aber das nicht allein — 
nein, gerade an diefem Lieblingspunft der Bewohner hatten 
fie am ſchlimmſten gehauft — ihre Pferde und Maulthiere 
in die Bäder getrieben und den freundlihen Raſen umher 
zerjtampft und dann auch noch ringsumher Posten ausgeftellt, 
die fih natürlid im Schatten der Bäume hielten und fo die 
Frauen von jedem Beſuch zurüdichreden mußten. 

Und wie verödet fah die jonit fo rege und geichäftige 
Stadt felber aus! Die meilten Läden waren gefchloffen, ja 
ſelbſt ein großer Theil der befjeren Häufer, deren Eigenthümer 
fih fort und meift nah Caracas gezogen Hatten, um den 
ewigen Contributionen und Chicanen zu entgehen. Die 
Gebäude an der Plaza, die völlig von dem Soldatenſchwarm 
bejebt und zum Theil auch fo gut es anging befejtigt waren, 
zeigten ſchon von außen an den zerbrohenen Yenjterjcheiben 
und verräucherten Rahmen, welche Säfte darin hauften, während 
ein anderer Menſch mie ein venezolanisher Soldat auch 
feine Stunde hätte im Innern aushalten können, ohne vor 
Schmutz und Geftanf frank zu werden. | 

Beſſer hatten fi allerdings die Officiere einquartiert — 
aber auch nicht viel beſſer, da man alles erdenkliche Gefindel 
jeldft zu Generalen gemacht, und diefe eben von ihrer Jugend 
her jo wenig verwöhnt waren wie die Soldaten jelber. 

Die Stadt ift weitläufig, in regelmäßige Straßen ausge— 
Yegt, und überall liegen freundlihe Gärten dazwiſchen, denn 
es fehlte ja nicht an Platz. Aber nur einjtödige Käufer jah 
man, mie das in den altjpanifchen Städten überhaupt Sitte 


177 


it, mit einem großen, geräumigen, bier und da fogar mit 
Bäumen bepflanzten Hofplat, und alle nach der Straße zu 
führenden Feniter, ja meiſtens auch die im Hof liegenden mit 
eifernen Gittern wohl verwahrt — eine fehr nöthige Vorfichts: 
maßregel in diefen Ländern, oder die Fenſter würden fonft 
manchmal häufiger zu Eingängen benußt werden, als die 
Thüren. 

Die letzten Tage war es entſetzlich ſtill in Calobozo geweſen, 
und wenn nicht zuweilen eine Trommel gerührt worden wäre 
oder Trompeten ein Signal gegeben hätten, ſo würde die 
Stadt einem Kirchhofe geglichen haben. Wußte man doch 
wenigſtens im Allgemeinen, wie es im Lande ſtand und kochte 
und gährte, und während die Einwohner mit Schmerzen darauf 
warteten, daß die Reconquiſtadoren endlich einmal hereinbrechen 
und dieſem faſt unerträglich werdenden Zuſtand ein Ende 
machen ſollten, lag das Militär in dumpfem Schweigen, denn 
einmal ſahen ſie ſich ſtets von Gefahr umringt, und dann 
wußten ſie kaum, ob ihr General nicht jetzt ſchon im Herzen 
mehr zu den Blauen als Gelben neigte. Gerüchte darüber 
liefen wenigſtens ſchon um, und war das wirklich der Fall, 
weshalb wurden ſie denn noch hier mehr wie Gefangene als 
Soldaten eingepfercht und kaum halb genährt, wie gar nicht 
gekleidet? Sympathien für Falcon hatte wohl kaum Einer 
aus Zwanzigen. 

Aber was war geſchehen? Die Bewohner von Calobozo 
ſteckten die Köpfe zuſammen und ſchauten überraſcht das 
Treiben um ſich her, denn plötzlich wirbelten die Trommeln, 
und das ſchmetterte und klang, als ob da draußen die größte 
Eile nöthig ſei. Kleine Patrouillen ſtrömten dabei im Sturm— 
ſchritt nach allen Seiten aus, und Officiere jagten auf ihren 
Thieren in voller Carrière duch die Straßen. 

Rückten die Blauen endlih an? — Die paar Krämer, 
die vereinzelt ihre Stände offen gehalten, ſchloſſen raſch die 
Läden und verrammelten ihre Thüren, denn man konnte nicht 
wifjen, was die vielleicht zur Verzweiflung getriebenen Regie— 
rungstruppen noch im lebten Augenblid begannen, 

Aber es mußte ein blinder Lärm gewejen fein; Stunde 
nad Stunde verging wenigjtens, ohne daß irgend ein Angriff 


Fr. Gerjtäder, Erzählungen ꝛc. 12 


i 


178 
erfolgte, und jelbjt die ausgefandten Kundſchafter Fehrten nad 
und nad) zurüd und meldeten, daß fie nirgends einen Feind 
entdeden könnten. 

Der Abend dämmerte. Auf der Plaza jtand General 
Moneca mit etwa einem Dubend DOfficteren, unter ihnen der 
Obriſt Colina, der fich jo tapfer da draußen an der Polada 
gezeigt, und jebt den Anderen gegenüber jeine bei der Rück— 
fehr gemachten Ausfagen aufrecht erhalten mußte, denn man 
fing an, jehr ſtark daran zu zweifeln. 

„Obriſt,“ fagte der General eben nicht befonders freund- 
id, „ih fürdte, Sie Haben den paar Reitern, von denen 
Sie angegriffen wurden, Unrecht gethan. Es war aller Wahr: 
iheinlichfeit nah nicht die Avantgarde, ſondern die ganze 
Armee der Rebellen, und wenn Sie etwas länger Stand gehalten 
hätten, würde das Gefindel jelber gelaufen fein.‘ 

„Ich berufe mich auf meine Leute, General,‘ ſagte mit 
zufammengezogenen Brauen der Burſche, „die ganze Llanos 
ſchwärmte von ihnen, und erjt als ich ſah, daß wir Alle ret— 
tungslo8 verloren wären, wenn wir und tollfühn der Gefahr 
ausſetzten, und Einer meiner Leute gefallen war, gab ich das 
Zeichen zum Nüdzuge Fünf von den blauen Schuften liegen 
aber auf der Wahlitatt, und die Unferen find nur wie dur) 
ein Wunder weiteren Berwundungen entgangen. Sehen Sie 
hier mein Beinkleid — den Lanzenftich, der nad) meiner Bruft 
gezielt war, parirte ich und hieb dann dem Kerl den Schädel 
von einander.” 

„Bitte, laſſen Sie einmal Ihren Degen ſehen,“ fagte der 
General troden. 

Colina zögerte — „Ich Habe ihn natürlich wieder abge 
wiſcht,“ ſagte er. 

„Darf ich Sie erſuchen?“ 

„Mit Vergnügen, General.“ 

Moneca nahm den Degen und betrachtete ihn genau, 
während ein Lächeln um die Lippen der übrigen Officiere zuckte. 

„Sonderbar,“ ſagte der Alte, „auch nicht die Spur von 
einem Kampf, und wie es ſcheint eben jo wenig an der Scheide. 
— Gie fehten außerordentlich reinlih, Obrift Colina.“ 


7) 


„Sie glauben mir nit, General,“ rief der Officer 
empört, „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort — 

„Bitte, unterbrad ihn der Alte, „wir wollen die Sache 
nicht weiter unterfuhen; aber Einer Ihrer Leute behauptet 
jet, daß er nur fünf Rebellen gefehen habe, und Sie hatten 
acht Soldaten bei ſich.“ 

„And wer von ihnen behauptet das?“ rief Colina, deſſen 
Antlitz aber merklich erbleichte. 

„Es ift gut,’ wehrte der General mit der Hand ab. 
„Ziehen Sie die äußeren PBatrouilfen zurüd, General Balle, 
damit wir die Leute nicht unnöthiger Weife ermüden — id 
‚glaube nit, daß wir einen Angriff zu fürdten haben, Eine 
Compagnie mag aber auf der Plaza lagern, und die Eden 
wollen wir ebenfalls befeßt Halten. Das Signal ift für 
heut Abend — nad zehn Uhr, wenn Niemand der Bewohner 
etwas mehr auf der Straße zu ſuchen hat — das geftrige — 
guten Abend, meine Herren!’ — und fi abwendend, fchritt 
‚er Über die Plaza feiner eigenen, nahe dabei befindlichen 
Wohnung zu. 

Die Dämmerung war indejjen raſch eingebrochen, und die 
übrigen Dfficiere zerjtreuten ſich, um die erhaltenen Befehle 
auszuführen: nur Colina, die Zähne feit zufammengebifen, 
denn er hatte recht gut gejehen, daß fich die Mebrigen über 
ihn luſtig gemacht, und haßte außerdem den General felber 
von Grund feiner Seele, jhritt langſam und allein quer über 
die Plaza hinüber, einer der Seitenftraßen zu, in welcher die 
beften, wenn auch fajt überall verfchloffenen Häufer jtanden. 

Colina befand fih nicht in befonderer Laune, und vor 
Allem ging ihm jebt im Kopfe herum, welchen Brief er über 
Moneca an feinen Better, den General, fchreiben würde, wenn 
er überhaupt je fchreiben gelernt hätte. Aber der Leichtfinn 
derartiger Gefellen, die eine militärifhe Ehre gar nicht — 
ja nicht einmal dem Namen nach fennen, fette fich rajch über 
alles Derartige hinweg. Cr hatte wieder einmal eine Nafe 
vom „Alten“ gekriegt, weiter nichts, deshalb wurde er doch 
jelber General, jo rasch ihm nur fein Vetter da3 Patent vom 
Präfidenten bejorgen Fonnte. 

Taft ohne daß er an die Richtung, die er nahm, gedacht 

12° 


180 

hätte, jchritt er, aus alter Gewohnheit, nad der Calle Ur: 
quiza und fand ſich plößlich einem Haufe gegenüber, das er 
oft — und leider meit öfter ald den Anfaflen lieb war — 
befuchte. Sefiora Vidaurri wohnte dort mit ihrer Tochter, 
einer der ſchönſten und Liebenswürdigiten jungen Damen der 
Stadt. Der alte Bidaurri war geflohen, weil ihn die „Gelben“ 
hatten gefangen nehmen wollen, und die Sefiora in ihrer 
faft unbejchüsten Lage hier und mitten zwiſchen den Feinden 
konnte natürlih nicht ſchroff gegen einen der Dfficiere auf- 
treten, denn fie fürchtete in dieſem Falle nicht mit Unrecht 
die Eleinliche Rache des Beleidigten. 

. An dem Haufe waren übrigens heute, da ed etwas fpät 
geworden, jchon die Fäden geſchloſſen, klopfen mochte er nicht, 
denn jein Dienft rief ihn aud nad der Plaza zurüd, und 
nur einen ſehnſüchtigen Blid nah dem Fenſter hinüber werfend, 
hinter dem er Rafaela gewöhnlich jah, drehte er wieder um, 
um zu feiner Pflicht zurüdzufehren. 

Nicht weit von dem Haufe entfernt begegnete er einem 
Manne, der einen mit Fäſſern beladenen Eſel vor fich her 
trieb. Er trug eine leihte Cobija und gejtreifte Beinkleider, 
und jah eigentlich anjtändiger aus, als es derartige Waller- 
führer gewöhnlich thun — aber er hatte ein gelbes Band um 
den Hut und ein verfrüppeltes ausgebogenes Bein, hinfte auch 
ſtark, jedenfalls ein in irgend einer früheren Revolution ver- 
früppelter Soldat, der fih feinen Lebensunterhalt auf diefe 
Weiſe erwarb. Colina warf auh kaum mehr als einen Blid 
auf ihn, fondern ſchritt vafch vorüber. Er hatte andere Dinge 
im Kopfe, al3 fih um einen Ejeltreiber zu befümmern, und 
diefer verfolgte, den Hut etwas in die Augen gezogen, jeinen 
eg, bis er vor dad nämlihe Haus fam, vor dem der junge 
„Obriſt“ noch kurz vorher geitanden. 

Dort hielt auch er an und Flopfte leife dreimal an den 
Laden. Licht war im Zimmer, das konnte er deutlich jehen — 
er glaubte jelbjt Stimmen gehört zu haben — jetzt war plöß- 
lich Alles todtenftill. 

Eine Patrouille bog in dem Augenblid um die nädhjite 
Ede und fam an ihm vorüber. Sie fahen wohl den mit 
Fäſſern beladenen Ejel, fümmerten ſich aber natürlich nit um 


181 


ihn, denn es war das etwas zu Allgewöhnliches in den 
Straßen von Calobozo. Der Eſeltreiber wartete aber geduldig, 
bis ſie vorüber waren, dann klopfte er wie das erſte Mal 
und in demſelben Tempo wieder an, und jetzt öffnete ſich 
auch raſch, aber immer noch vorſichtig, der Laden, ein ſchmaler 
Lichtſtreif fiel hindurch und eine ſcheue Stimme flüſterte: 

„Quien es?“ 

„Rafaela,“ flüſterte der Eſeltreiber zurück. 

„Santisima!“ klang es wie ein halblauter Schrei, und der 
Laden ſchloß ſich wieder, aber drin ging eine Thür, und wenige 
Minuten ſpäter hörte er, wie ein ſchwerer Schlüſſel in das 
Schloß geſteckt und ein Riegel zurückgeſchoben wurde — im 
nächſten Augenblick öffnete ſich die Pforte, und der Fremde, 
dem Eſel einen leichten Schlag mit der Gerte gebend, die er 
in der Hand hielt, rief lachend: 

„So, mein Burro, danke für die Begleitung, nun finde 
Deinen Weg allein nach Haus,“ und wie eine Wieſel ſchlüpfte 
er in die kaum geöffnete Thür hinein, an der er nur raſch 
den Riegel wieder vorſchob, und dann die Señorita, die ihm 
aufgeſchloſſen hatte, ohne Weiteres in die Arme nahm und 
herzhaft abküßte. 

„Aber, Felipe!“ bat das junge bildhübſche Mädchen, wie 
ſie nur eben die Lippen zum Reden frei bekommen konnte, „um 
Gottes willen, wo kommſt Du her? — Du biſt verloren, wenn 
ſie Dich erkennen!“ 


„Ich konnte es nicht länger aushalten, Querida,“ ſchmeichelte 
aber der junge Mann, ſie feſt an ſich preſſend, „denke Dir 
nur — acht Monate habe ich Dich nicht geſehen, und jetzt, 
da wir nun bald am Ziele unſerer Wünſche ſtehen, litt es 
mich nicht länger. Ich verſchaffte mir von Alvaredo einen 
Befehl, die Gegend hier zu recognogciren, und da bin ich — 
recht im Herzen des Feindes — und in dem Deinigen dazu, 
Schatz — mie?" 

„Aber die Angft wird mich verzehren, Felipe,’ klagte die 
Jungfrau, „erſt vor wenigen Tagen haben ſie wieder einen 
Spion aufgehangen.‘’ 

„Die Sache ift nicht jo gefährlih, Herz — unfere Blauen 


182 


folgen mir auf dem Fuße — Falcon ift geftürzt, unfere Sache 
gewonnen.“ 

„Aber wenn ſie Dich jebt fingen, wärſt Du doch ver: 
Ioren.‘' 

„Aber fie fangen mich auch nicht.“ 

„Ave Maria,‘ jagte da eine Stimme dicht hinter ihnen, 
und Rafaela's Mutter, ein Licht in der Hand, ftand vor den 
Liebenden. „Don Felipe, jo wahr ich jelig zu werden hoffe — 
ein ächter Blauer mitten in dem Lager der Gelben — und 
heilige Mutter Gottes, was habt Ihr mit Euerm Beine ge 
maht? — Seid hr verkrüppelt?“ 

Rafaela warf einen Bli hinab und fhlug entjebt die Hände 
zufammen, delipe aber lachte. 

„Nur meine „Jade habe ih darum gebunden und es dadurch 
ſchief gemacht, und dann einen Eſel geſtohlen und mich ſo in 
die Stadt hereingeſchmuggelt.“ 

„Einen Eſel geſtohlen?“ rief die alte Dame, den Kopf 
ſchüttelnd, „es wird immer befjer — aber fommt hier fort 
vom Eingang — durch das Schlüſſelloch kann man den ganzen 
Gang überfehen, und die Läden drinnen Schließen dicht.‘ 

Die Damen gingen voran, und Telipe blieb einen Moment 
zurüd, um fih von feiner Entjtelung zu befreien — er warf 
auch die Cobija wieder ab, zog feine „Jade an, folgte dann 
den Uebrigen und ſaß belb, die Geliebte im Arm und eine 
gute Flaſche vino blanco vor ſich, glückſelig in dem kleinen 
freundlichen Raume, der Alles umſchloß, was er auf dieſer 
Welt erſtrebte und für das er ſein Leben freudig, ja lachend 
in die Schanze ſchlug. 

Und nun mußte er erzählen, wie es draußen im Lande 
ſtand, denn bis hierher war ſeit langen Wochen keine Nach— 
richt gedrungen, wo doch faſt jeder Tag neue und wichtige 
Veränderungen brachte. — Aber er konnte nur Gutes berichten, 
denn in Caracas war die Sache Venezuelas entſchieden, die 
Revolution Hatte geftegt und Falcon, allein und von feinem 
feiner bisherigen ſo zahlreichen Freunde begleitet, in Laguayra 
dag Land auf Nimmerwiederfehren verlafien. 

Seht nun rückten die Blauen vor. In hellen Schwärmen 
warfen fie fich über das Land, und Las Tekes, Victoria Villa 


; ul fh 
* 
N, 

“ 


18) 


de Cura und Ortiz waren ſchon alle in ihren Händen. Sie 
hatten feinen Feind mehr im Nüden, nur noch die Schwachen 
Beſatzungen von Calobozo, Kamahuan und San Fernando 
voraus, und ihr Wunſch war, jebt dieje von einem doch nub- 
loſen Wiederftand abzuhalten, um ferneres Blutvergießen unter 
den Söhnen ein und defjelben Stammes zu vermeiden. 

„And wo ftanden die Blauen?” 

„Wenn ſie ſich geeilt, könnten fie bald vor der Stadt fein.‘ 

„Aber, Felipe!“ rief Rafaela beforgt, „und um einen 
Tag früher vielleicht einzutreffen, wagteft Du Dein Leben? — 
War das recht, und wird damit auch nur die Angft bezahlt, 
die mich jebt um Dich verzehrt?‘ 

„Du denkſt Dir die Sahe Schlimmer wie fie ift, mein 
Herz, lachte Felipe, „wir haben ziemlih genaue Nachrichten, 
daß Euer General Moneca ſchon felber nicht recht weiß, was 
er thun fol — bei Falcon ausharren oder zu den Blauen 
übergehen. Rüden wir aber vor die Stadt, fo wird er mit 
Freuden die Gelegenheit ergreifen, um die eigene Haut in 
Sicherheit zu bringen.” 

„Und wenn er es nicht thut?” 

„Bah, dann treiben wir ihn hinaus,’ Tachte der junge 
Mann. „Uebrigens werde ich ſchon fehen, wie ich wieder aus 
der Stadt komme, eben fo gut wie ich hereingefommen bin — 
aber fie werden auch nie wagen, etwas gegen mich zu unter: 
nehmen, denn fie. willen, daß ihnen die Vergeltung auf dem 
Fuße folgen würde.‘ 

Rafaela Horte erichroden empor — ihr fcharfes Ohr 
hatte- ſchon draußen eine andere Patrouille marjhiren hören. 
Denn wenn auch die bloßen Füße der Soldaten Fein bejonderes 
Geräuſch machten, jo ſchwatzten die Burfhen doch immer mit 
einander. — Sebt hielten fie — entweder vor dem Haufe oder 
ganz in der Nähe defjelben, und deutlich konnte man verftehen, 


was fie mitfammen flüfterten. 


Rafaela hatte im Nu Felipe's Arm ergriffen und zog ihn 
mit fi zurüd in ein anderes Zimmer, um dort erſt abzuwar— 
ten, ob ihm nicht wirklich eine Gefahr drohe. 

Es dauerte auch nicht lange, fo Elopfte Jemand an den 
Laden, denn daß noch Licht im Zimmer war, ließ fi von 


184 


außen erkennen. Die alte Dame aber, die nichts auf der Welt 
mehr haßte als einen Amarillo, und diefes Gefühl fo ziemlich 
mit allen Damen Calobozos theilte, fühlte fih heute nicht in 
der Stimmung, artig mit ihnen zu fein, und rief jebt, den 
militärifhen Anruf nahahmend, den man auf der Straße faft 
bei jedem Schritte hörte, barich au: „Quien vive?“ 

„Amigos,“ lautete die Antwort, „bitte, Sefiora, öffnen Sie 
einen Moment den Laden, ich habe eine Trage an Sie zu 
rihten — Patrouille.“ 

„Und was habe ich mit der Patrouille zu thun?“ fagte 
die alte Dame, indem fie aber troßdem der Aufforderung Folge 
leiftete. — „Wer ift da?’ 

„Ich bin es,“ jagte jehr artig eine befannte Stimme draußen, 
„nur eine Frage erlauben Sie mir, Señora.“ 

„Dbrift Eolina — in der That — Abends zu nachtſchla— 
fender Zeit — und weldhe Trage?’ 

„Es ift unten am Huarico. heut Abend ein Efel geftohlen 
und noch nicht wieder aufgefunden —“ 

„Und was geht dad mid an?’ 

„Eine Patrouille Hat vor kaum einer DViertelftunde einen 
Ejeltreiber mit einem Efel vor Ihrer Thür halten und an— 
flopfen jehen. ch jelber bin Furz vorher einem verfrüppelten 
Menſchen mit einem Eſel begegnet, und wir wollten nun 
fragen, was der Burſche bei Ihnen gejucht hat?’ 

„Geſucht gar nichts,’ erwiderte die alte Dame, den Laden 
noch immer in der Hand, „als mir nur ein paar Faß Wafler 
gebracht, dann ift er wieder fortgegangen. Wenn ſich übrigens 
die Herren um alles das befümmern wollen, was unter diejer 
gefegneten Regierung gejtohlen ift, jo wundert's mich nicht, 
daß fie nod) in der Nacht danach herumlaufen, denn am Tage 
würden fie nicht fertig werden.‘ 

„Der Efel gehörte unferem Bataillon," ſagte Colina. 

„Ah jo, das ift etwas Anderes,“ lachte die Dame, „des— 
Halb der Eifer, den ich bisher noch nicht an der Garnifon 
bemerft habe Wünſchen Sie ſonſt noch etwas, Herr 
Dbrift 

Der junge Officier biß ſich auf die Lippe. „Sie thun 
mir Unteht, Sefora. Ich hörte nur, als ich eben nad) der 


185 


Plaza zurüdfehrte, daß Ihr Haus genannt wurde, und da 
man bierher jchiden wollte, erbot ich mich felber zu gehen, 
nur damit Sie nicht unnöthig beläftigt würden. St die 
Señorita nit im Zimmer?’ feßte er ſehr artig Hinzu, „mir 
war doc, als ob ich eben da drinnen Stimmen hörte,‘ 

„Iſt die Batrouille auch deshalb mit geladenen Geweh— 
ren hierher gefommen, um da3 zu erfragen?‘ fagte die alte 
Dame, gerade jest niht in der Stimmung, fih mit dem 
Dfficier in ein längeres Geſpräch einzulaflen. 

„Seiten Sie nit graufam, Señora — ich wollte ihr nur 
guten Abend jagen —“ 

„hut mir leid — iſt heut Abend nicht zu ſprechen — 
fie fühlt ſich nicht wohl.‘ 

„Das bedauere ich in der That. Bitte, empfehlen Sie 
mich ihr.‘ 

„Werde es ausrichten,“ erwiderte die Sefiora und ſchloß 
ohne Weiteres den Laden, während der junge Colina ziemlich 
verdrieglih auf dem Hacken herumfuhr und fich feinen Leuten 
wieder anſchloß. Er Hatte in der That, als in ihrem Bivouac 
nad dem Eſel gefragt wurde, nur das Haus der Sefiora 
Vidaurri erwähnen hören und fih dann raſch erboten, die 
Sade zu unterfuhen — jebt war er abgefahren und fonnte 
unverrichteter Dinge wieder zurüdfehren. Und Rafaela Schon 
zu Bette? da3 war eine Unmwahrheit und nicht denkbar, die 
alte Dame wäre dann auch nicht allein vorn im Zimmer ge— 
blieben — oder hatten fie am Ende gar Beſuch, von dem er 
nichts erfahren jollte? Er hätte darauf ſchwören mögen, daß 
er vorhin ein Flüftern in dem innern Raum gehört. — Und 
weshalb da die KHeimlichkeit? — ein Strahl von Eiferfucht 
brannte ihm dur das Herz — wer fonnte das fein? Aber 
ed jtand ihm felber vielleicht ein Mittel zu Gebote, es zu er— 
fahren, und er befchloß auch ohne Weiteres, fich Gewißheit zu 
verschaffen. 

Was kümmerte ihn der Efel! Von denen gab es genug 
im Lande, und wenn fie deren brauchten, fonnten fie zur 
Genüge befommen, — aber fein Auftrag gab ihm dad Recht, 
über die ihm folgenden Soldaten zu verfügen, und einen 
wenigftens befhloß er zum Spioniren zu verwenden. Tadeo 


186 


zugleich jein perfünlicher Diener und zwar derfelbe, den heute 
Nachmittag jener tolföpfige Dfftcier der Blauen beinahe ge- 
fangen genommen hätte, war ein durchtriebener Gefell, und er 
durfte fih in jeder Hinfiht — zu welchem Zweck er ihn auch 
immer benußen wollte — auf ihn verlafjen. 

Dem gab er — aber unter vier Augen — den Auftrag, 
heraus zu befommen, ob heut Abend irgend wer bei Sefñora 
Vidaurri zum Befuh fei — und wer. — Er verfprad ihm 
dafür einen Peſo, und das ftachelte den Eifer des Burſchen 
an, wenn er auch vorher wußte, daß er ihn nie im Leben 
ausgezahlt befüme. Es war die Erwähnung des Geldes, 
das ihn reizte — So lange hatte der arme Teufel nicht ein= 
mal einen Peſo mehr geſehen, und jhon im Geifte malte er 
fi aus, was er fich Alles dafür Faufen könne — wenn er 
ihn wirklich hätte, 

Bier andere Soldaten ließ der Obrift — übereifrig in 
feinem Dienft, an den beiden Straßeneden, die das Haus be- 
grenzten. Der Mond mußte bald aufgehen, und fie Fonnten 
dann, ohne felber bemerkt zu werden, ſehen, ob Jemand das 
Haus verließ — wer es aber auch ſei — ein Dfficier der 
Armee natürlih ausgenommen, deſſen Namen fie fi aber 
merken jollten — wurde arretirt und ihn dann augenblidlich 
davon Meldung gemadt. . 

Das geordnet und fehr mit fi REN ſchritt er jetzt 
mit dem übrigen Theil der Patrouille wieder der Plaza zu 
und meldete nur, daß ihm die Nachbarſchaft dort verdächtig 
vorgekommen wäre und er einige Mann Wache in der Nähe 
gelaſſen habe, die dann ſpäter Bericht erſtatten würden. 
Selbſt dieſe Meldung war aber unnöthig, denn es kümmerte 
ſich überhaupt Niemand darum. 


157 


8. 
Der Lauſcher. 


Señora Bidaurri hatte am innern Laden vorfihtig ge 
horcht, bis fie hörte, dag die Patrouille wieder abzog. Dann 
öffnete fie leife und ſah durch die vorgeſchobenen Gitter Hin- 
aus — aber die Straße war menfchenleer, und nur nad) 
Yinf3 hinab konnte fie noch die Dunkle Gruppe der Soldaten 
erkennen, die aber auch jest um die nächſte Ede bogen und 
aus Sicht verihwanden. 

Diie Straßenbeleuchtung von Calobozo ließ allerdings jehr 
viel zu wünſchen übrig, die Sefiora fühlte ſich aber doch — 
beionder8 da der junge Colina der Führer der Patrouille 
war — vollfommen ficher, denn daß der nichts that, was ihn 
bei ihr Hätte in Mißeredit bringen können, mußte fie ges 
wiß — er ahnte ja noch nicht, daß alle feine Hoffnungen 
vergeblich wären, und brauchte e8. auch nicht eher zu erfahren, 
bis die Gelben überhaupt nichts mehr im Lande zu jagen hatten. 

„Lumpenkerl,“ murmelte die alte Dame zwijchen den 
Lippen dur, als fie den Laden wieder fchloß, „‚glaubt jo 
ein Mulatte, daß er um die Perle von Calobozo freien könnte — 
laß Du nur die Blauen hereinfommen, die werden Dir den 
Meg Ihon zeigen !'' 

An irgend eine Gefahr dachte fie natürkich nicht mehr — 
noch weniger die jungen Leute, und wenige Minuten jpäter 
faßen fie wieder Alle um den runden Tiſch, und Felipe mußte 
jebt erzählen, wie es da draußen ftand, welche Abenteuer er in den 
lebten Monaten erlebt, und wie fie die Amarillos von Plab zu 
Platz getrieben, ja endlich ſelbſt der „Natter“ in Caracas den 
Kopf zertreten hatten. 

Und wie lachte Rafaela — und wie lieb fah fie dabei aus — 
als er ihr einen kurzen Beriht über das heutige Abenteuer 
gab, wo er gerade dieſem Herrn Colina feine Beute wieder ab- 
und das ganze Streifcorps in den Busch Hinein gejagt hatte. 


188 


So eifrig hörten auch die Frauen zu, daß fie gar nicht 
bemerften, wie fich draußen vor dem Tenfterladen eine allerdings 
ſehr gewandte Geſtalt Tangjam und vollfommen geräufchlos 
an dem Cifengitter emporhob, und feine Augen oben über den 
Laden brachte, um den innern Raum zu überfchauen. 

Rafaela jelber aber konnte fich noch immer nicht der Angit 
um den Geliebten entichlagen. So ſicher er fich jelber zu 
- fühlen ſchien, jo bejorgt war fie um ihn, und wenn fie es auch 
wohl für Momente bei jeinen lebendigen Schilderungen vergaß, 
fehrte es doch immer wieder und erfüllte fie mit einem unjag- 
baren Bangen, dem fie auch endlich Worte lieh. 

„Oh Felipe, wie konnteſt Du Did nur jest nad Ca— 
Yobozo wagen? 

„Um Did wieder zu fehen, Herz,‘ lächelte elipe, „und 
was ift e& denn auh? Ein kurzer Bejudh, von dem Niemand 
eine Ahnung hat, und wie ih zum erjten Mal wieder in 
die Nähe Calobozos, in Deine Nähe Fam, Fonnte ich der 
Verſuchung nicht widerftehen. Dabei habe ich aber auch, als 
ih meinen Eſel über die Plaza trieb, Schon wichtige Beobach— 
tungen über die Stellung des Feindes gemadt. Manches 
Andere könnt Ihr mir vielleicht ergänzen, und ehe der Tag 
anbridt, bin ich wieder unterwegg. Dann — aber — 
hoffe — ih auch — mieder ein —“ 

Während er die letzten Worte ſprach, hatte fein Blick zu— 
fällig das Fenſter geftreift und die im Licht der Lampe blitzen— 
den Augen des Horchers dort bemerft — er ſprach noch lang— 
fam weiter, aber er mußte nit mehr was, denn fait 
mechaniſch griff feine Hand den an der Seite ftedenden 
Nevolver, und während er mit der rechten Hand emporfuhr 
und ein Blib, Knall und Pulverraud das Zimmer füllte, die 
Frauen aber mit einem NAuffchret empor und auseinander 
fuhren, hörten fie draußen einen dumpfen Fall — dann war 
Alles ruhig wie das Grab. 

„Heilige Mutter Gottes, was war das?“ rief da die alte 
Dame, die, überhaupt rejolut, fich zuerft gefaßt Hatte, „auf 
was haben Sie gejchofjen ?‘' 

„Ich weiß es nicht,” Tagte Felipe Halb verlegen, „ich kann 


189 


möglider Weile eine Dummheit gemacht haben — es war 
vielleicht nur eine Kae — aber ich fah ein Paar blitzende 
Augen, dort gerade über dem Tenjterladen, und in dem 
Moment fam e3 mir jo vor, als ob ich das jchwarzlodige 
Haar eines Menſchen darüber erkennen Fonnte. Lange Zeit 
zum Ueberlegen blieb mir außerdem nicht.‘ 

Señora PVidaurri griff augenblidlih die Lampe auf und 
trug fie in's andere Zimmer hinüber, und dann erft eine 
Meile horchend, öffnete fie auf?3 Neue den Laden, um hinaus 
zu fehen — aber e8 war nichts zu erkennen. Der Mond fam 
gerade über Die gegenüber liegenden Häufer herauf und erhellte 
die Straße ziemlich deutlich, aber fie lag auch todtenftill, denn 
in den Nahbargebäuden dachte Niemand daran, nachzuſehen, 
wenn irgendwo ein Schuß fiel; Fam es doch fait jede Nacht 
vor, daß ein oder dem andern Soldaten das Gewehr losging 
oder auch auf einen armen Teufel gefchoffen wurde, der, wenn 
angerufen, nicht raſch genug mit der Parole bei der Hand 
war. — Nicht einmal o Patrouillen oder Posten nahmen 
Notiz davon. 

Bon dem han 509 fih auch nur wenig vorn aus 
dem Fenſter heraus, denn in dem warmen Klima find Die 
Häufer alle offen gebaut und Thüren im Innern und nad 
dem Hofe zu werden fait nie geihloffen. Der wenige Raud) 
vertheilte fi deshalb raſch und wenig auffällig, aber die 
rauen bejonders fühlten ſich beunruhigt. Felipe behauptete 
allerdings jebt lachend, es ſei jedenfalls eine Kate gemefen, 
denn welcher Menih könne ein folches Intereſſe daran 
nehmen, hier an's Fenſter zu Flettern und fich dabei doch un: 
bedingt einer Gefahr auszuſetzen. Señora Bidaurri jedoch 
wie Rafaela dachten Beide an den jungen Colina, wenn fie 
au den Namen nicht gegen Felipe nannten. Gie drangen 
auch darauf, daß er jo raſch als irgend möglich die Stadt 
wieder verlaffen folle, denn wenn es doch wirflih ein Menfch 
geweſen, ſei er auch feinen Augenblif mehr ficher. Felipe 
aber lachte darüber, denn jelbit angenommen, daß es ein 
Menih geweſen, konnte ihn doch Niemand erkannt haben. 
Daß man aber auf Jemanden ſchoß, der an einem Yenfter- 
laden in die Höhe fletterte, verftand ſich von ſelbſt, und der 


190 


Burſche Selber, wenn er mit dem bloßen Schred davonge— 
fommen, würde fih hüten, die Sache weiter zu erzählen. 

Er ging auch auf das Kaltblütigfte daran, alle die ge 
wünſchten Notizen von der alten Dame zu erfragen, und diefe 
vermochte ihm in der That jede Auskunft zu geben, da in der 
ganzen Stadt Thon ſeit Monaten nichts Anderes beſprochen 
war, als die Berhältniffe der Negierungstruppen, und welchen 
Widerftand fie den Blauen, wenn dieje einmal einen Angriff 
unternehmen würden, entgegenjtelen fonnten, — — 

Indeſſen hatten es fi in dem einen Eckhaus der Plaza, 
wo man das Dfficierquartier hergerichtet, die dortigen In— 
faflen fo bequem als möglih gemacht, und ihre Anfprüde 
dahin waren in der That befcheiden genug. Das große, einſt 
brillant hergerichtete Haus eines „Rebellen, das General 
Moneca nah der Flucht deſſelben einfah confiscirte, war 
etwa vier Wochen lang von den Soldaten ald Kaſerne benutzt 
worden — wie e3 aber danach darin ausſah, läßt fich eher 
denfen als bejchreiben, und es Eoftete jpäter nicht geringe 
Mühe, wenigftens den Edfalon wieder jo weit zu reinigen, daß. 
er von den Dfficteren bezogen werden konnte; in einem nur 
einigermaßen wohnlichen Zuftande befand er fich aber troßdent 
doh niht. Die Tapeten waren von den Wänden in Feben 
heruntergeriffen, und überall Hafen oder große Bolzen für 
die Hängematten eingetrieben worden, ja an einer Seite hingen 
jogar große Stüde rohes Fleiſch, die man nicht gut in der 
allgemeinen Vorrathskammer laſſen fonnte, weil fie jonjt un 
fehlbar geftohlen worden wären. Kleine, oft fehr elegante Tifche, 
noch von dem früheren Befiber her, ftanden dabei im Zimmer 
herum, und Hier und da faßen einige „Generale — aus 
denen faſt das ganze Dfftcieröcorps bejtand — und madten 
ihr gewöhnliche Montefpie. Um mas fie aber jpielten, 
blieb räthjelhaft, denn Geld befaßen die Wenigften, und wenn 
fie nicht dann und wann einmal noch irgendwo in der aller= 
dings Schon faft reingefegten Nahbarihaft ein Stüd Vieh er— 
beuteten und dann für ein paar Thaler Baargeld an irgend 
einen Käufer Iosfchlagen Fonnten, waren ihre Taſchen ges 
wöhnlich Leer. 

Obriſt Colina — einer der am verwahrlofeiten Ausſehen— 


191 


den in der ganzen verwahrloften Geſellſchaft — hatte an 
feinem Spiel Theil genommen und jchritt mit untergefchlagenen 
Armen an einer freien Stelle des ziemlih eingenommenen 
Raumes auf und ab. Er war zu fehr mit feinen eigenen 
Gedanken befchäftigt, um fich Heut Abend für etwas Anderes 
zu intereffiren, ald das Vidaurriſche Haus. — Hatten fie 
dort wirklich einen Beſuch gehabt, von dem er gerade nichts 
willen jollte? Die Damen waren fonft immer: fo artig gegen 
ihn gewejen, was er natürlich feiner eigenen Liebenswürdigkeit 
zuſchrieb — und heute hatte ihn die alte Dame eigentlich 
ſchroff behandelt. — Und konnte überhaupt jemand Fremdes 
im Zimmer gemwefen fein? — war denn ihm felber je erlaubt 
geweſen, ihre Schwelle nah Dunkelwerden zu überjchreiten ? 
Nie! Wurde das aljo einem Andern geftattet, jo mußte 
der — peinliher Gedanfe — auch der Begünftigte fein — 
aber das mar ja nit möglich. Wie freundlich hatte NRafaela 
jo oft gelächelt, wenn er ihr von feinen Kämpfen, Gefahren 
und Erfolgen in der Schlacht erzählt — welchen lebhaften 
Antheil Hatte fie daran genommen und wie vor Freude ge- 
lat, wenn er zum Schluß kam und fiegreih die Flüchtigen 
vor fih hergejagt. Nein — das Alles mußte ja fchmähliche, 
Ihändlihe Hinterlift gewejen fein, und das traute er der Find- 
lichen, unfhuldigen Rafaela nicht zu. Eben fo wenig trug ſie 
eine andere Neigung im Herzen, ihm hätte es font keinen— 
falls verborgen bleiben können. Er mußte fih getäuſcht 
haben, als er Stimmen zu vernehmen glaubte. Nein — fie 
war auch nit falid — fie mußte, daß er fie liebte, und 
der morgende Tag würde ficherlich Alles aufklären und lichten. 

Draußen auf der Plaza Elapperten die Hufe eines heran- 
galoppirenden Pferdes, — der wachthabende Dfficier trat hin— 
aus und Fam fait augenblidlih mit der Meldung zurüd, dat 
ein Courier eingetroffen fei, der nah dem General gefragt, 
und feinem Menſchen weiter Rede ftehen wollte. — Etwas 
Wichtiges mußte er jedenfalls bringen. 

Die Dfficiere ftanden noch zufammen und beſprachen die 
Möglichkeit eines Angriffs, als Colina Tadeo’3 Geſtalt in 
der Thür bemerkte, der ihm ein Zeichen gab, zu ihm heraus 
zu fommen. 


192 


Die Uebrigen achteten nicht darauf — wo fam der Bote 
her? — 

Vom Süden, behauptete der wachthabende Dfficier, der ihn 
erfannt haben wollte. Er war vor etwa vierzehn Tagen dort hin- 
geſchickt. — In dem Falle waren es auch wahrfcheinlich gute 
Nachrichten, denn von dort her erwartete die nur ſchwache 
Garniſon ſchon mit Schmerzen den General Don Pedro Manuel 
Rojas, der fih mit feinen Truppen ihnen anichliegen und 
dann den Kampf im Norden enticheiden jollte. 

„Bas halt Du, Tadeo?“ frug Colina, als er mit dem 
Diener vor die Thür trat, „habt Ihr Jemanden arretirt?“ 

„Nein — noch nicht,‘ fagte der Burfche, „aber carajo — 
er fol und darf uns nicht entfommen! Wißt Ihr, wer da drin 
in dem Haus bei den Frauen ſitzt?“ 

„Der den Frauen?‘ frug Colina, die Zähne zufammen- 
beißend. 

„Gewiß, ganz gemüthlich bei einer Flaſche Wein am Tiſch 
drinnen; aber wißt Ihr, wer es tft? 

„Nun?“ 

„Derſelbe Burſche von den Blauen, der uns heute gejagt, 
der den Juan vom Pferde geſchoſſen und uns die Kuh und 
den Wein wieder abgejagt hat.“ 

„Unſinn!“ rief Colina emporfahrend, „woher willſt Du 
das wiſſen?“ 

„Woher? — war er mir nicht dicht auf dem Leibe, denn 
ſein Pferd lief wie der Teufel, und nur daß Juan's Pferd 
ſtolperte, brachte den armen Kerl in die Klemme und ich ging 
frei aus.“ 

„Und weshalb haſt Du ihn damals nicht niedergeſchoſſen?“ 


„Mit meiner Lanze? — er trug zwei Revolver. Wenn 
wir Soldaten Waffen bekämen, könnten wir kämpfen, ſo iſt 
es ja aber ein wahres Elend. — In der ganzen Compagnie 


ſind kaum zehn Gewehre, und von denen gehen nicht drei 
los — aber jetzt können wir's dem blauen Schuft wettmachen. 
Der iſt nur zum Spioniren hergekommen, und mit Tagesanbruch 
muß er hängen!“ 

„Und wie haſt Du ihn geſehen?“ 

„Leicht genug. In der Stube war Licht, und ich ſtieg am 


193 


Gitter Hinauf. — Hätte mir auch noch beinahe eine Kugel 
durch den Kopf gejagt, denn er muß mich gefehen haben, und 
id) Konnte mich eben noch duden, als es ſchon knallte. Wie 
der Blitz feuerte er, aber die Kugel ging in’s Blaue.‘ 

„So iſt er gewarnt, rief Colina raſch, „und ſchon jeden: 
falls auf der Flucht.“ 

„Wohin ?’ lachte Tadeo, „die Straße tft beſetzt, und Hinten 
über die hohe Mauer kann er nicht — ich fenne das Haus, 
denn ich habe früher Jahre lang die ‘Pferde beim alten Bidaurri 
beforgt. Soll ih drin die Meldung machen, daß wir das Neft 
gleich ausnehmen?‘ 

Colina ſchwieg — er war unfhlüffig, was er thun follte; 
da er fich aber bei feiner heutigen Expedition nicht im glänzend- 
jten Lichte gezeigt, bot fich hier einestheils Die Gelegenheit, das 
wieder gut zu machen, und dann — wollte er auch) nicht, daß 
ein Anderer Bidaurri’3 Haus betreten und feiner eigenen Rache 
vorgreifen follte. 

„Nein,“ fagte er nach kurzer Pauſe — „ich hatte den Auf: 
trag, in dem Haufe nachzujehen, und nehme nur meine alte 
Patrouille wieder mit. Suche die Leute heraus, Tadeo — in 
fünf Minuten müfjen wir unterweg3 fein,‘ — und raſch ſchritt 
er in die Kaferne zurüd, um feinen dort in der Ede lehnenden 
Degen zu holen. Die Revolver hatte er noch im Gürtel fteden. 
Dort achtete auch Niemand auf ihn, denn das Gerücht hatte 
fi) verbreitet, der Bote fomme von Kamahuan, und dahin fei 
die Nachricht gedrungen, daß Don Pedro Manuel Rojas, einer 
der bedeutendften und einflußreihiten Generale von San 
Vernando am pure, mit feiner ganzen Mannfchaft zu den 
Dlauen übergegangen wäre, oder ſich doch wenigitens für die 
Revolution erklärt Hätte. — Das aber wäre der Todesſtoß 
für die ganzen, ſüdlich von Caracas gelegenen Corps gewejen, 
die, in den verjchiedenen kleinen Städten verzettelt, nirgends 
hinreihend Mannfchaft befaßen, einen Stoß des Feindes — 
noch dazu mit der ganzen Bevölkerung gegen fi — auszu— 
halten. 
Colina hörte wohl, wovon gefprodhen wurde, hatte aber 
den Kopf zu voll von feinem eigenen Unternehmen, und den 
Degen aufgreifend, meldete er nur dem wachthabenden Dfficier, 


dr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 13 


194 


daß er ſeine vorherbegangene Tour noch einmal aufnehmen 
müſſe, da ihm ſein Kundſchafter gemeldet habe, daß er etwas 
Verdächtiges gehört, und marſchirte dann an der Spitze der 
indeſſen durch Tadeo herausbeorderten Patrouille wieder die 
Straße hinunter. 





4. 
Obriſt Colina. 


Sn dem Haufe der Sefiora Vidaurri ſaß indeſſen der 
junge Dfficier der Neconquijtadoren nod) immer jo ruhig und 
unbefümmert an der Seite der Geliebten, als ob er fi 
inmitten jeine® ganzen Heered und nicht in einer feindlichen 
Stadt und von Gefahren umdroht befinde — aber Rafaela 
fonnte ihre Angſt zulett nicht mehr niederfämpfen, und mit 
leifer, aber fejter Stimme drängte fie zum Aufbrud. 

„Du mußt fort, Felipe,’ fagte fie, feinen Arm ergreifend, 
„denn noch ift es möglid. Die Amarillos ſchieben ihre Boften 
nie weiter vor, als höchſtens zwei Duadras von der Plaza — 
wir wohnen hier in der vierten, alfo Du braudjt nicht mehr 
zu fürdten, in diefer Zeit der Naht einen Poſten anzutreffen. 
Ich werde nit eher ruhig, bis ich Dich nicht wieder in 
Sicherheit weiß.” 

„Aber ich begreife Dih gar nicht, Rafaela,“ Tächelte der 
junge Mann; „daß Du wirklichen Muth befitejt, haft Du 
mehr als einmal gezeigt, und woher jebt dieje kindiſche Furcht 
für meine Sicherheit ?' 

„Ich weiß nicht, wie mir iſt,“ fagte die Jungfrau ſcheu, 
„eine unerflärliche Angst vor einer ganz unbeitimmten Gefahr 
ſchnürt mir die Seele und dad Herz zufammen — ift es eine 
Ahnung nahenden Unheils? Wenn Du mich aber lieb haft, 
fo geh’ jett. Bald kehrſt Du ja Hoffentlih unter günftigeren 
Verhältniffen zu uns zurüd, und dann — mit ber Be: 
endigung dieſes unfeligen Krieges fol uns nichts mehr trennen.‘ 


195 


Velipe ſchüttelte den Kopf, aber er Hatte auch vor der 
Hand Alles erreicht, was ihn hierher geführt, die Geliebte ge- 
fehen, erfahren was er wollte, und um Rafaela zu berudigen, 
ſtand er auf, hing feine Cobija wieder über und nahm jeinen 
Hut. Er fannte auch den Weg gut genug, den er zu nehmen 
hatte — nur bis zur nädften Ede brauchte er der Haupt: 
jtraße zu folgen, dann bog er rechtö ab in eine Seitengafje 
und Fam zwifchen die Kleinen Badehütten hinein, Hinter denen 
gleich der mit Buſchwerk bewadhjene Hügel in die Llanos 
hinablief. Bon dort aus Hatte er nicht allein nicht mehr 
zu fürdten, fondern eine Verfolgung wäre fogar unmöglich 
geweſen.“ 

„Und wann glauben Sie, Don Felipe,“ ſagte die Señora 
jetzt, als der junge Mann Abſchied von der Geliebten ge— 
nommen und ihr nun die Hand reichte, „daß Ihre Leute 
Calobozo beſetzen werden? Wenn Sie nur dreihundert gut be— 
waffnete Soldaten haben, ſo iſt hier an Widerſtand gar nicht 
zu denken, Sie können mit Muſik einrücken.“ 

„Ich hoffe bald — recht bald,“ rief Felipe, „denn von 
Ortiz, Villa de Cura und Rahna haben wir eine tüchtige 
Schaar zuſammengezogen, und als ich unſer Lager verließ, 
ſagte mir Alvaredo, daß er mir auf dem Fuße folgen werde; 
aber einige Tage können doch noch immer vergehen, denn er 
führt Geſchütz mit ſich und kann mit dem nicht ſo raſch vor— 
wärts rücken!“ 

„Und wollt Ihr die Stadt erſtürmen? Oh, das wird viel 
Blut koſten!“ 

„Wer weiß, ob auch nur ein Tropfen dabei vergoſſen 
wird,“ lachte Felipe, ‚habe keine Sorge, Rafaela. In wenigen 
Tagen —“ 

„Ein kurzes, aber entſchiedenes Klopfen am Hausthor 
unterbrad ihn, und er fühlte, wie Rafaela Frampfhaft feinen 
Arm fFeithielt. 

„er ift da?’ rief Señora Vidaurri, die fih am fchnelliten 
faßte, mit lauter Stimme, und während Rafaela den Ge: 
liebten zurüd in das andere Zimmer drängte, trat die alte 
Dame wieder zu dem vergitterten Yenfterladen. 

„Im Namen des Präfidenten, öffnen Sie die Thür,‘ 

13* 


196 


lang aber jebt dort ziemlich entſchloſſen Colina’s Stimme, 
und er Elopfte zugleih auch derb an den Laden jelber 
an. Er date gar nicht daran, weitere Rückſichten zu nehmen. 
Che aber nur die Señora öffnen fonnte, war Rafaela an 
ihrer Seite, und in den Augen des ſchönen Mädchens, die 
in Erregung blitten, Tag ein Zug feſter Entſchloſſenheit, der 
merfwürdig gegen ihre frühere Schwäche und Angſt abſtach. 
Wir finden das ja fo häufig im Leben, daß uns eine Gefahr 
nur dann furchtbar und bewältigend erfcheint, jo Tange fte 
droht, und aber volljtändig gerüftet findet, fo wie fie über 
uns hereinbridht. 

„Laß mich mit ihm reden, Mutter,’ bat da3 junge Mädchen, 
aber mit vor Aufregung fait heiferer Stimme, 

‚ber, Rafaela —“ 

„Laß mid — id bitte Dich!“ und die Mutter bei Seite 
ſchiebend, öffnete fie ohne Weitere den Laden, vor dem fie die 
beiden Reihen Soldaten erfannte, die das Haus vollfommen 
befett hielten. Dicht vor dem Fenſter ſtand Colina und hatte 
ich jchon eine ziemlich barjche Anrede ausgedacht gehabt, als 
er plöblich Rafaela felber erfannte und dabei für den Moment 
aus der Rolle fiel. 

„Señorita,“ fagte er erjtaunt, „Sie entjchuldigen, daß wir 
Sie beläjtigen, aber‘ — jebte er Hinzu, denn er mochte wohl 
fühlen, daß er hier mit Artigfeit nicht weit fommen und gewiß 
feinen Zweck nie erreichen würde — „ich muß Sie bitten, un— 
verweilt die Thür zu öffnen. Ich bin auf höheren Befehl hier 
und ſonſt genöthigt, fie einfchlagen zu laſſen.“ 

„Um Gottes willen, was wollen Sie mitten in der Nacht?“ 
jagte das junge Mädchen und ſetzte dann halblaut Hinzu: 
„Ich hatte immer geglaubt, daß Sie und freundlich gefinnt 
wären, Senior.‘ 

„Das war ich auch, Señorita,“ rief, von den weichen 
Tönen merkwürdig berührt, Colina rajh aus, — „Ihnen 
fann ed nicht entgangen jein, aber nur mit Kälte und Spott 
"haben Sie mich behandelt und jetzt“ — febte er finfter Hinzu — 
„halten Sie einen Fremden in Ihrem Haufe verjtedt — 
einen Feind des Vaterlandes — einen Rebellen und Spion. 
Deffnen Sie, denn meine Soldaten haben Befehl einzudringen, 


497 


und ich ſtehe Ihnen für nichts, wenn Sie nicht gutwillig ge: 
horchen. — Der Burfhe muß hängen !’' 

&0 „Und willen Sie, mer der Fremde iſt?“ flüfterte Rafaela 
leiſe zurüd, 

„Ich weiß es,“ ſagte düſter, aber doch auch mit Halb unter- 
drüdter Stimme der Dfficier — „ein Führer der Blauen — 
einer der jogenannten Reconquiſtadoren.“ 

„Es ift mein Bruder!‘ fagte Rafaela, „jebt verderben 
Sie ihn, wenn Sie den Muth dazu Haben.‘ 

„Ihr Bruder ?’' 

„Ruhig — um Gottes willen,‘ bat das junge Mädchen, 
„daß Ihre Leute es nicht hören.” 

„Ihr Bruder?" Haudte Colina noch einmal, denn die 
Beliebte ſtand gerechtfertigt vor ihm, und er glaubte in dem 
Augenblid mit feiner Patrouille eine furchtbare Dummheit be- 
gangen zu Haben — „ob, um des Himmels willen, Rafaela, 
weshalb haben Sie mir das nicht früher gefagt — nicht als 
ich vorhin hier war! Alles wäre dann gut — Alles, — aber 
jebt wifjen die Leute darum — was fol ih nun thun?“ 

„Marihiren Sie ruhig zurüd — jagen Sie, daß Sie 
Rapport abjtatten müfjen, und fommen Sie dann wieder — 
in zehn Minuten joll er Calobozo verlafjen haben.‘ 

„Das geht nit, Sefiorita — dad würde Verdacht er: 
regen — er hat auf Einen meiner Leute geſchoſſen. Die 
Burſchen wiſſen, daß er noch im Haufe iſt, — Sie müffen 
mich wenigjtens in das Haus laſſen, daß ich ihn ſpreche — 
ic kann dann jagen, daß ich mich felbjt überzeugt habe, «8 
fei fein Feind, — und das geht auch nicht,‘ ſetzte er ver: 
zweifelnd hinzu — Tadeo, mein Burfche, hat ihn erfannt — 
wenn wir dem nicht wenigftens zehn Peſos geben, verräth er 
und — und ich felber Habe in dem Augenblid leider gar fein 
Geld bei mir.” 

„Kommen Sie herein,” fagte Rafaela raſch entſchloſſen, 
„Sie ſollen Alle haben. — Ich gebe ihnen fünfzig Peſos — 
damit befhmwichtigen Sie die Leute, und morgen früh befuchen 
Sie uns dann, daß ih im Stande bin, Ihnen zu danken.“ 

Dem konnte der Obrift Eolina nicht widerftehen. Yünfzig 
Peſos und ein Beſuch bei der Dame feine Herzens, er hätte 


198 


kein „‚gelber Officier“ fein müſſen, um Beides auszuſchlagen 
— denn daß die Soldaten feine zehn Peſos zuſammen be- 
famen, verſtand fih von ſelbſt. Es blieb ihm auch Feine lange 
Zeit zum MUeberlegen. Der Laden wurde wieder geſchloſſen, 
und er konnte kaum feiner Patrouille Befehl geben, fih an 
die gegenüberliegende Straßenreihe zurüd zu ziehen, als au 
ihon der Thormweg geöffnet wurde, und wenige Secunden 
ipäter hörte er, wie der Riegel wieder hinter ihm zufiel, und 
hielt Rafaelens Hand in der feinen. 

„Meine theure Rafaela,“ ſtammelte er dabei, „wenn Sie 
wüßten, wie glücklich ich mich in dieſem Augenblick fühle, wie 
gerne ich Ihnen auch dienen möchte, und wenn ich mich ſelber 
der größten Gefahr dabei ausſetze — aber darf ich dann auch 
hoffen, daß —“ 

„Kommen Sie,“ drängte NRafaela und 308 ihn mit fi 
in die Stube, „kommen Sie, Seior — wir werden Ihnen 
ewig dankbar fein.‘ 

„ber wie fonnte Ihr Bruder e8 wagen, bier in die 
Stadt —“ 

„Wir haben uns jeit langen Jahren nicht gejehen. — 
Nur gezwungen tt er in die Armee der Nebellen eingetreten —“ 

Colina dachte an den heutigen Nachmittag, denn für einen 
gezwungenen Soldaten hatte der junge Herr einen ganz leidlich 
energiihen Angriff gemacht — aber mochte er zum Teufel 
gehen, wenn er jich jelber nur dadurch das reiche und bild» 
ihöne Mädchen gewann. 

Señora Vidaurri Stand im Zimmer, und ihre Glieder 
flogen in Angft, denn Rafaela Hatte gar feine Zeit- gehabt, 
fie mit ‚ihrem Plane vertraut zu mahen, wenn fie fich über: 
Haupt einen ſolchen gebildet — war doch Alles fo raſch — jo 
entießlih ralh gefommen. — Nur Geld hatte Colina ver: 
Yangt, und da3 zeigte ihr eine faſt fichere Ausficht auf Er— 
folg. — Nahm er das Geld, jo Hatte fie ihn gewonnen, und 
Felipe war gerettet. 

Felipe Morro, der Capitain der NReconquiftadoren, war 
indeflen beſchäftigt geweſen, fih in dem Hofraum, bei dem jebt 
ziemlich hellen Mondlicht, nach einem Weg zur Flucht über die 
Mauer umzufehen; aber Tadeo übertried nicht, als er feinem 


E 


199 


Officier fagte, daß der „Blaue“ nicht Hinten hinaus entkom 


men fönne, denn wohl jechzehn Fuß Hohe, glatte Mauern 


Ihlojjen das ganze Grundſtück ein und waren auch wohl in 
einem Lande nöthig, wo ewige Nevolutionen die Bewohner 
gar nicht jo Selten zwangen, ihr Haus zu einer Feſtung zu 
mahen, um fih nur vor Plünderung zu bewahren. Dort 
hinüber fonnte er ohne Leiter nicht, jo gewandt er auch fonft 
jein mochte, und es blieb ihm jebt, wie er glaubte, nichts 
weiter übrig, als fih durchzuſchlagen, denn gefangen follten 
jie ihn nicht nehmen, dazu war er feit entſchloſſen. Es fiel 
ihm wieder ein, was ihm die Wirthin der Poſada erit noch 
heute von dem Schickſal des „armen Mateo‘ erzählt, und das 
wollte er nicht theilen. — Hm — die Sade war do 
ichneller gefommen, wie er vermuthet — jet hätte er die 
Grüße, die er verfproden, an den Dfficier der Gelben aus— 
richten können. — Er war zu leihtfinnig geweſen. 

Rafaela, das ſonſt jo ſchüchterne, ja ſcheue Mädchen, 
handelte indeß für ihn. Noch war ed ja möglih, für eine 
geringfügige Summe jede Gefahr ſowohl von dem Haupt des 
Geliebten, wie ihrem eigenen Haufe abzuwenden, und mit 
zitternden Händen eilte jie an ihr kleines Pult, um das 
Geld dort in Gold und Silber heraus zu nehmen. 

Die Mutter ftand an der Thür und wagte faum zu 
grüßen, begriff aber, als fie das Klimpern des Geldes hörte, 
raſch, um was e3 fich hier handle, und jchöpfte neuen Muth. — 
Senior Colina nahm auch mit freundlihem Lächeln die fünfzig 


Peſos und verfiherte: die Damen jollten augenblidlih von 


der Gegenwart der Soldaten befreit und ihr „So naher Der: 
wandter“ — mit der Bedingung jedoch, daß er ohne Weiteres 
die Stadt verlaffe und nicht wieder hierher zurückkehre — aus 
jeiner peinlichen Lage erlöft werden; — aber eine Bedingung 
hatte er noch, er wollte Rafaelens Bruder vorher perjönlid 
kennen lernen und ihm die Hand drüdfen. Es war der Sohn 
eines Haufes, das er jo hoch achtete und verehrte — meiter 
nichts — dann verſprach er, mit feiner Patrouille nad) der 
Plaza zurüdzufehren, und ihr gefährlicher Beſuch fand nach— 
ber, ſobald er nur eben die Plaza felber vermied, fein Hinder— 


niß weiter, um hinaus in das freie Land zu fommen, 


200 


Rafaela zögerte einen Moment, aber wenn fie e8 weigerte, 
erregte Ste jedenfalls auf’ Neue Verdacht, und das mußte fie 
vermeiden. Außerdem konnte fie ja jeden Fremden als ihren 
Bruder vorjtellen, wa wußte Colina davon, und raſch gefaßt 
fagte fie, jo daß es ihre Mutter hören konnte und fi nicht 
etwa verrieth: 

„Gut Señor, ih hole meinen Bruder; es freut mid 
jelber, daß Sie ihn kennen lernen, aber Sie halten ihn nicht 
auf?“ 

„Nicht eine Minute — ich darf doch ſelber nicht ſo lange 
zögern.“ 

Rafaela hatte das Zimmer ſchon verlaſſen und fand Felipe 
im andern Gemach, ſeinen Revolver in der Hand und wie es 
ſchien ſprungfertig, jedem Gegner und Feind die Stirn zu 
bieten. Mit wenigen geflüſterten Worten unterrichtete ſie ihn 
aber von der Liſt, die ſie gebraucht — und der junge Mann, 
raſch darauf eingehend, ſchob lächelnd die Waffe in den Gurt 
zurück und folgte ihr willig — war es doch nur eine Kriegs— 
liſt mehr, und die Gefahr — er hatte ſie nie gefürchtet oder 
war ihr ausgewichen. 

Colina ſchwelgte indeß in einem Meer von Wonne, ſo 
lieb und gut war Rafaela noch nie gegen ihn geweſen, fo nahe 
hatte er fich noch nie feinem Ziele gefehen. Nurihr Bruder, — 
es war auch nicht denkbar, daß dies junge Weſen ſchon ihr 
Herz verloren haben Fonnte. 

Jetzt kam fie mit dem Fremden zurüd. 

„Señor,“ fagte diefer, indem er mit feſtem Schritt auf 
Colina zuging, „es thut mir leid, daß wir uns unter fo eigen- 
thümlichen Umftänden und gewifjermaßen als Feinde zuerit 
begegnen; aber ich bin Ihnen unendlich dankbar, dag Sie — 

„Hauptmann Morro! rief Colina, der ihn ftarr und ers 
Iohredt angefehen, wie er nur in das Licht der Lampe trat. 
„Caramba, Sefiorita, und das ift Ihr Bruder? Aber diefe 
Ihändlihe Lift follen Sie mir bezahlen. Sie find mein Ge: 
fangener, Eefior, und beim ewigen Gott, ih glaube einen 
guten Fang gethan zu haben. Widerftand Hilft Ihnen nichts, 
dag Haus ift beſetzt,“ jebte er hohnlächelnd Hinzu, als er jah, 
daß Felipe's Hand nach dem Revolver zudte — aber fonnte 


201 


er ihn Hier gebrauchen, wo er dadurd die Frauen in un: 
mittelbare Gefahr, ja in's DVerderben bradite? 

„Senior, fagte er deshalb Falt und ſuchte feine Ruhe zu 
bewahren, „Site irren fi in der Perſon. Ich bin nicht — 

‚Und haben Sie ein fo kurzes Gedächtniß?“ lachte der 
junge Burfche höhniſch auf. — „Erinnern Sie ſich nicht, wie 
Sie vor kaum zwei Monaten mit jenem Rebellen Mlvaredo zu 
meinem Better, dem General Colina, famen, um einen Waffen: 
ſtillſtand abzuſchließen? Ich war damals der Secretär und 
habe mir Ihre Perſon gar wohl gemerkt. Señora, haben Sie 
die Güte und öffnen Sie dad Haus, denn ih möchte Sie 
wenigſtens vor der Hand vor Gemaltthätigkeiten bewahren, 
wenn Sie e8 aud nicht um mich verdient haben.’’ 

Rafaela hatte zu Marmor erbleichend neben ihm gejtanden. 
Das Furchtbare war gefchehen, die lebte Hoffnung ver: 
nichtet, und wenn auch der Geliebte noch die Flucht verſuchte, 
jo trafen ihn doch fiher die Kugeln der Soldaten. 

Telipe überlegte no, ob er dad Deffnen der Thür er: 
warten und fi dann durch Revolverſchüſſe freie Bahn kämpfen 
follte, da griff das ſchwache, kaum dem Kindesalter ent- 
wachſene Mädchen in Angjt und Verzweiflung zu einem faft 
rafenden Entſchluß. Nicht an fih noch ihre Mutter dachte 
fie, nur an die Gefahr des Mannes, an dem fie mit aller 
Gluth einer eriten Liebe hing, und den Revolver von Colina’3 
Seite reißend, ehe diefer nur an die Möglichkeit eines ſolchen 
Angriffs glauben fonnte, rief fie, einen Schritt zurüdipringend 
und die Waffe voll auf die Bruſt des Feindes rihtend: 

„Beim ewigen Gott und der heiligen Mutter des 
Heilandes — ein Schwur, der mich verderben fol, wenn ich 
ihn brede! Ein Wort — ein Laut des Berraths, und Euer 
Blut, Senior, färbt diefen Boden zuerſt.“ 

„Señorita,“ rief Colina wirklich erihhredt, „Sie willen 
nicht mit einer ſolchen Waffe umzugehen.‘ 

„Ob ich es nicht weiß," rief aber das Mädchen, doch vor: 
fihtig ihre Stimme dämpfend, zurüd, „mein Finger liegt am 
Drüder, —' wahren Sie fi!" 

„Rafaela,' bat Felipe, „dent an Deine Mutter !'' 

„Ich denfe an fie,“ nicte das junge Mädchen, ohne ihre 


202 


drohende Stellung zu verändern. Gin ganz anderer Geift 
Ihien über fie gefommen, und mit blitenden Augen fuhr fie 
fort: „Aber nicht an fie allein, Felipe, — ich denfe auch an 
Did. In der Begleitung diefes Herrn bift Du fiher. Nimm 
Deinen Revolver unter die Cobija und Halte ihn auf feine 
Bruft gerichtet. Er wird Deinen Arm nehmen und mit Dir 
das Haus verlafien, um Di die Straße hinab zu begleiten, 
bis Du Dich in Sicherheit weißt. Ruft er aber draußen 
feine Leute an, fo ſchießt Du ihm die erjte Kugel durch die 
Bruft, und Gott helfe Dir dann weiter. Dein Fuß ift raſch, 
Dein Arm Stark, und ehe die Soldaten, ungeſchickt wie fie find, 
mit ihren Waffen fertig werden, halt Du einen weiten Vor— 
ſprung.“ 

„Und was wird dann aus Euch?“ 

„Wir ſind ſicher — der Herr da darf uns nicht ver— 
rathen, denn er hat Geld von mir genommen, um einen 
Officier der feindlichen Armee entwiſchen zu laſſen,“ ſagte 
Rafaela mit einem höhniſchen Blick auf den Obriſt. 

Colina zuckte zuſammen, aber eben ſo raſch hob ſich die 
kaum etwas geſenkte und gegen ihn gekehrte Waffe. 

„Gut denn, Senior, ſagte da Felipe, der im Moment 
feinen leiten Muth wiedergefunden hatte, „Sie jehen, Sie 
find unfer ©efangener, nicht ich der Shrige. Einem Men: 
ſchen aber, den Sie zur Verzweiflung getrieben haben, dürfen 
Site wohl zutrauen, daß er auch wie ein Verzweifelter handelt. 
Der geringite Berrath von Ihrer Seite, und Sie fallen gewiß. 
Ob Ihnen der Staat das Lohnt, Ihr Leben auf ſolche Weije 
zu opfern, müſſen Sie nachher felber beurtheilen können.“ 

Colina hatte allerdings etwas Wehnliches bei fich überlegt, 
und die Antwort, die er fich felber gab, war verneinend aus— 
gefallen. Felipe ließ ihm auch Feine weitere Zeit zu langem 
Ueberlegen. | 

„Geben Sie mir Ihren Arm, Señor,“ fuhr er fort, in: 
dem er ihm den linken Arm bot, während er mit der Rechten 
den Revolver am Drüder in der Hand hielt. „Rafaela, willit 
Du und das Thor öffnen?’ 

„Bon Herzen gern, und Gott ſchütze Dich, Felipe!‘ ’ 

„Ich komme bald wieder, Herz, nidteihr diefer zu, „und 


203 


dann ſollſt Du Calobozo im Schmuck von blauen Fahnen 
ſehen.“ 

„Und mein Revolver?“ ſagte Colina, der völlig gebrochen 
am Arme ſeines Gegners dahinſchritt. 

„Soll, wenn Sie zurückkommen, vor der Hausthür liegen,“ 
ſagte Rafaela kalt. „Als tapferer Soldat dürfen Sie nicht ohne 
Waffen nach der Plaza zurückkehren.“ 

Mit dieſen Worten öffnete ſie das Thor und zeigte ſich 
ſelber darin, während die Soldaten an der andern Seite der 
Straße, von denen ſich ſchon ein Theil, um auszuruhen, auf 
das Pflaſter gelagert, in die Höhe ſprangen und ihre Gewehre 
oder Waffen aufgriffen. Ihr Obriſt ſchritt aber mit einem an— 
dern Manne die Straße hinab, ohne ihnen etwas zu ſagen — 
die Dame blieb in der Thür ſtehen und ſah ihnen nach; es 
mußte doch Alles in Ordnung fein, und nur Tadeo ſchüttelte 
den Kopf und konnte das Ganze nicht begreifen. 

Rafaela indeſſen, in der langen Kriegszeit mit Waffen 
genau vertraut, nahm die Batronen aus dem Piſton, und nur 
erſt als fie den Dfficier allein zurüdfommen ſah, legte fie den 
jebt entladenen Revolver, wie fie e3 verjprochen, hinaus, ſchloß 
dann die Thür, ſchob beide Niegel wieder vor, ging mit feſtem 
Schritt zu ihrer Mutter zurüd und brach dort ohnmächtig in 
deren Armen zuſammen. 

In der Gefahr hatte fie fih aufrecht erhalten, im erjten 
Momente der Ruhe verließen fie ihre Kräfte, und fie war 
wieder ein ſchwaches, hülflojes Weib. 


- 


>, 
Schluß. 


Mit welchen Gefühlen Colina, Wuth und Rache im Herzen, 
init feiner Patrouille nah der Plaza zurüdeilte, it kaum zu 
sagen; aber ihm zum Glück fchien indeſſen auch dort etwas 


204 


Auperordentliches vorgegangen zu fein, denn eben als ihn Tadeo 
nad dem Officier der „Blauen“ fragen wollte, und wie es 
fam, daß fie ihn nicht eingefangen, mwirbelten dort drüben die 
Trommeln und jehmetterten die Trompeten, das Zeichen zum 
Sammeln, jo daß fi die Batrouille augenblidlih in Sturm: 
Ihritt feßen mußte und jedes Geſpräch natürlich zur Unmög— 
lichkeit wurde, 

Dort fanden fie aber in der That die ganze Armee in Auf: 
ruhr, denn nicht allein, daß das erfte Gerüdht: Don Pedro 
Manuel Nojas’ Vebergang zu der Revolution, von General 
Moneca beftätigt worden, nein, Boten nad) Boten waren ein= 
getroffen, die das Anrüden der Reconquiftadoren meldeten. Von 
einer faum eine engliihe Meile füblich von Calobozo liegenden 
Milfion hatten fie vor faum einer Stunde Befit ergriffen, ja 
jogar drüben am andern Ufer des Huärico lagerten fie, fo daß. 
man deutlich, jelbjt von der Stadt aus, ihre zahlreichen Feuer 
in den Büſchen erkennen konnte. 

Bon General Moneca war nun allerdings der Befehl ge— 
geben worden, die ganze Militärmadt Calobozos auf der 
Plaza zu verfammeln, aber was damit gefchehen jollte, jchienen 
die Herren Generale, die zu einer Berathung zufammengerufen 
waren, jelber noch nicht zu willen, denn wenn fie ſich dort ver— 
theidigen wollten, wäre es jedenfalls nöthig gemwejen, die vier 
dahin einmündenden Straßen zu verbarrifadiren. — Geſchah 
das aber, woher follten fie Lebensmittel befommen? Die 
jüngeren DOfficiere befprachen das lebhaft mit einander und hatten 
dazu wohl zwei volle Stunden Zeit, denn bis etwa ein Uhr 
Morgens fam feine weitere Drdre, und nun endlich der Befehl,. 
fi wieder, aber an Ort und Stelle, zu lagern, was die meiften. 
Soldaten ſchon außerdem gethan Hatten und feit jchliefen. 

Erſt gegen Morgen fam wieder Leben in die Sache. Noch: 
ehe der Tag dämmerte (und die Sonne geht in jenen Breiten, 
mit einer Furzen Dämmerung vorher, faft regelmäßig um ſechs 
Uhr auf), ſprengten einzelne Reiter die Plaza entlang der Rich: 
tung des Slufjes zu. — Die Generale mußten doch wohl einen: 
Entſchluß gefaßt haben, aber die Soldaten befamen nur Befehl, 
außeinander zu gehen und ſich ihr Frühſtück zu bereiten, ihre 
Waffen aber zufammen zu ftelen, um bei dem erften Eignal: 


209 


wieder bereit zu fein. Das Signal wurde aber nicht gegeben. 
Die Sonne ging auf, ftieg höher und brannte auf die Plaza 
nieder, und noch immer fam nicht einmal der Befehl zum 
Sammeln. 

Da plöblich wurden die Pferde des General Moneca, wie 
des ganzen Generalftabes vorgeführt; die Trompeten ertönten, 
die Generale fprengten die Straße hinab, und die Armee mußte 
in Reih und Glied treten und ftand da vier volle Stunden lang. 
Aber von Mund zu Mund ging plötzlich das geflüfterte Wort: 
Die Generale find zu den Blauen hinübergeritten, fie find über— 
gegangen wie Pedro Manuel Rojas — es giebt feinen Kampf — 
gebt fünnen wir wieder nah Haufe zurüdfehren, und die 
Schinderei hat ein Ende, 

Die Leute hatten ſich nicht geirrt, wenigitens in der erjten 
Annahme, Moneca war allerdingg mit feiner ganzen 
Armee, ohne diefe aber auch nur mit einem Wort um ihre 
Meinung zu befragen, zu der Nevolutionspartei übergegangen, 
und charakteriftiih nur, wie das endlih den Soldaten befannt 
‚gemacht wurde. Es kennzeichnet wenigitens die Art und Weife, 
wie der republifanifhe Soldat um feine politifche 
Meinung und Gefinnung gefragt wird. 

Etwa um elf Uhr Morgens kam nämlich einer der Generale 
plößlich auf die Plaza geritten und gab den Leuten einfach den 
Befehl, „die gelben Bänder von den Hüten zu 
nehmen,” und damit war denn auch in der That jede nur 
nöthige Transformation gejchehen, denn der gelehrtefte Anthro= 
polog wäre von dem Augenblick an nicht im Stande geweſen, 
zu jagen, ob fie der Regierungspartei oder der Revolution ans 
gehörten, jo vermildert jahen beide Truppentheile aus. 

Bemerkenswerth war auch die Stimmung, mit der diejer 
Befehl von den Truppen aufgenommen wurde: ein lautes 
ftürmifches Hurrah! brach nämlich von Aller Tippen. Im Nu 
Hatten te ſich ſämmtlicher Abzeichen, zu denen fie ja doch nur 
gewaltfam gepreßt worden, entledigt, und jedes Band der Drd- 
nung ſchien von dem Augenblid an gelöft. 

Nahmittags um drei Uhr rüdte General Alvaredo, eben: 
fall3 der Mifhlingsrace angehörend, aber mit einem Elugen, 
intelligenten Gefiht, und nur von einigen Officieren begleitet, 


206 


in die Stadt ein, um als Oberbefehlähaber der vereinigten 
Armee den Zuftand der Truppen zu befihtigen und feine weiterer 
Drdres zu geben. 

Ihn begleitete Hauptmann Morro, und der Subel in 
Vidaurri's Haufe läßt fich denken. Vergebens war aber feine 
Nachfrage nah dem Obriſt Colina in der Stadt. 

Der Obrift Hatte um ein Uhr die Stadt verlafjen und be— 
fand fih Schon lange, eine blaue Eocarde auf feinem Hute, aufı 
dem Wege nad) Caracas. 

Die fünfzig Peſos befam aber Rafaela nicht zurüd: er 
verachtete die Familie Bidaurri zu tief, um noch weiter den ge— 
ringiten Verkehr mit ihr zu halten. 


Im Grabe. 


R 
Beim Spiel. 


Es war im Jahr 1849 im Monat September, und lautes 
fröhliches Leben erfüllte ganz Valparaiſo, denn die Feitlich- 
feiten begannen, die alljährlich in der Nepublif zur eier ihrer 
Befreiung vom fpanifhen Joch abgehalten werden. Das 
herrlichſte Wetter begünftigte dabei die Auszüge in's Freie, und 
Alles ftürmte im Sonntagsftaat den Höhen zu, auf welchen 
der Leuchtthurm ftand und die offene Plattform einen weiten 
Raum, wie einen prachtvollen Blid über daS Meer gemährte. 

Es bot einen wahren Genuß, das bunte Leben zu beobachten, 
das fih da oben entwidelte. Zuerſt die Eleinen Cavalcaden 
von Herren und Damen, die auf ihren munteren Thieren, die 
Herren alle mit dem farbigen ſüdamerikaniſchen Poncho um 
die Schultern, die Damen in gef hmadvollem Reitcoftüm, unter 
Lachen und Plaudern vorüberfprengten. Dann aber das meit 
interefjantere Leben des chileniſchen Volkes, das ſich in voller 
Mafje an diefem Hauptfeft des ganzen Staates betheiligt — 
und e8 hat Urfache dazu. Allen übrigen ſüdamerikaniſchen 
Republiken nübte die Befreiung vom ſpaniſchen Joch wenig 
oder gar nichts, denn anftatt daß früher die fpanifchen Vice— 
fönige fie tyrannifirten und das Geld aus ihnen herauspreßten, 
thun es jeßt ihre eigenen Generale, die fi) zu Präfidenten 
machen. Sa früher herrfchte wenigſtens, wenn auch eine des— 


208 


potifche Gewalt, doch Frieden und Ordnung im Lande, während 
jest, mit faum weniger Gemwaltherrichaft der zeitweiligen Präfi- 
denten, ewige Bürgerfriege Aderbau und Gewerbe danieder 
halten und die unglüdlichen Bewohner fih unter einander zer: 
fleiſchen. 

Nur Chile Hat davon eine rühmliche Ausnahme gemacht 
und unter vernünftiger Leitung den Segen einer freien Ver— 
faſſung geerntet, und deshalb findet auch diejes Felt in dieſem 
Lande feine volle Berechtigung, während man es in allen übrigen 
eigentlich als Ironie betrachten müßte. 

Der Chilene, weit gutmüthiger als fein blutgieriger Nach— 
bar, der Argentiner, giebt fih dem Feſte auch mit ganzem 
Herzen bin, und jede Arbeit ruht, jeder im Jahr jorglam 
gefparte Gentavo wird vorgeludht, um dieſe wenigen Tage 
dann auch voll und ganz zu genießen. 

Alle dieſe füdlichen Stämme lieben aufregende Vergnügungen, 
die nicht zu viel Zeit in Anfprud nehmen, dann aber auch mit 
allen Fafern des Herzens erfaßt und ausgebeutet werden. 
Das Hazardipiel nimmt deshalb auch einen hervorragenden 
Plab bei allen ihren Vergnügungen ein, und nicht einmal die 
Merikaner, die geborene leidenjchaftliche Spieler find, können 
fie darin übertreffen. | 

Ebenſo ſchwärmen die Ehilenen für Pferderennen, die aber 
auch raſch abgemacht fein müſſen. Die Dijtanz ift eine aufer- 
ordentlich kurze — oft nur ein: oder zweihundert Schritt, Alles 
hängt deshalb von der eriten Anjtrengung des Thieres ab, 
daß e8 den Preis erringe. Die Guafjos oder Landbewohner 
Ehiles haben meift ihre Thiere — eine nicht ſehr große, aber 
fräftige und lebendige Race — ſchon darauf dreifirt, und 
hier oben, wo fih Freunde und Bekannte zufammenfanden, 
wurde ftetS ein folches Feines Nennen impropifirt, um dag 
fih dann raſch Neugierige fammelten. 

Da drüben flattert die blau, roth und weiße hilenifche Flagge 
mit den beiden aufrechtftehenden Guanafos im Wappenſchild 
— weißgefleidete Bürgerfoldaten marſchiren, von einer guten 
Militärmuſik geführt und von einer zahlreichen Schaar Neu— 
gieriger geleitet, den Berg herauf, und Hier, in Erwartung 
der Säfte, find ſchon genügend Buden und Zelte aufgejchlagen, 


209 


die alle möglichen Erfrifchungen bieten. Wein und Bier, Aguar- 
diente und Limonade werden ausgeſchenkt, Dulces oder Süßig- 
feiten mit Früchten und verfchiedenen Eßwaaren ftehen überall 
zum Berfauf aus. Hier und da lagerten auch beſonders Familien 
in bunten Gruppen an den wohl Fahlen, aber doch grünen 
Hängen, theild ihre Aufmerkſamkeit dem Militär und den 
Reitertrupps, theil® auch dem Meere zumendend, das ſich hier 
nah Süden, Welten und Norden hin frei vor dem Blick aus- 
breitete. 

Zwiſchen diefen herum, in die dichteſten Gruppen, ja in 
die Zelte und Buden hinein, als ob ihre Thiere forgfältig 
gepolfterte Hufe und nicht eifenhartes Horn trügen, fprengten 
die Guaſſos, Hier mit einem gefundenen Freund lachend und 
erzählend, dort von einem Andern dag Glas nehınend und 
galant auf das Wohl der nächſten Damen trinfend. Die 
Pferde jelber aber, von Fein auf an den Umgang mit Menfchen 
gewöhnt, ſchoben die Fugen Köpfe, oft wie fpielend, in den 
dichteften Menfchenknäuel, aus dem ſich ihr Herr einen Be— 
fannten herausholen wollte, hinein, und hüteten fich ftet3, 
Jemanden zu treten. 

Ueberall frohes Leben und Treiben, und doch auch wieder 
Menſchen dazwilchen, die fih um gar nichts kümmerten, als 
was fie jelber betraf, und weder die See mit ihren blitenden 
Segeln, noch Die drängenden Maflen, noch die funfelnden Augen 
der Ihönen Mädchen von Valparaijo, von denen die Stadt eine 
nicht geringe Anzahl aufzumeilen hat, beachteten. Das waren — 
die Spieler, und wo fih eine ſolche Gruppe niedergelafjen 
hatte, bildete ſich raſch ein dichter Kreis um fie her, der theils 
neugierig zufchaute, theils fich auch dabei betheiligte. 

Die Spielbank jelber war fo einfach als möglich. Einer 
der Guaſſos, dem es einfiel, hier ein wenig Bank zu legen, 
warf feinen Poncho ab und auf die Erde und fich oben drauf, 
holte dann ein Spiel fogenannter ſpaniſcher Karten oder auch 
Würfel aus der Taſche und erbot fih dadurd, einen fremden 
Sat, der aber doch meift in beſcheidenen Grenzen blieb, zu 
halten. Einen Gegner fand er bald, drei oder vier Andere 
‚folgten, und die Banf war fertig. . 

Manchmal kommt dann auch ein uftiger Guafjo, dem die 


Fr. Gerftäter, Erzählungen ac. 14 


210 


letzten Gläſer Wein die letzten Sorgen und trüben Gedanken 
veriheudht haben, mitten hineingejprengt in diefe Gruppen, 
und während jein Pferd, das vorfichtig zwiſchen die Spieler, 
die fich theil® mit um den Poncho lagern, theil® darum her: 
jtehen, Hineintritt und die Vorderhufe auf denfelben jtellt, 
wirft er einen Peſo oder eine Viertel-Goldunze auf eine Karte 
hinab und jchaut dabei, den linken Ellbogen auf feinen Sattel, 
die rechte Hand auf fein Knie geſtützt, pfiffig ſchmunzelnd dem 
Bankhalter auf die Finger. 

Dicht am Rande des fteilen Hanges, rechts vom Leuchtthurm, 
von dem man fajt direct hinab in die Tiefe jchauen und da 
unten die Brandung bemerken fonnte, wie jie in ſchäumenden 
Spritwellen gegen das Ufer prallte, hatte fich ſolch ein kleiner 
Kreis gelagert. Eine Menge von Neugierigen drängte fih um 
ihn und ſchaute dem Spiel zu. 

Gerade jtand wieder ein ziemlich hoher Sat, als ein Reiter, 
ein etwas finjter ausfehender Gefell mit einem ftarfen ſchwarzen 
Bart und einer langen Narbe über die ganze rechte Bade 
bi8 unter den Bart hinein, fein Pferd ohne Weiteres in die 
Menge ſchob. Diejes aber, das fait gar feinen Raum fand, 
jtieß einem jungen bleihen Burſchen, Einem von den Zufchauern, 
das feuchte Maul in den Naden und erfchredte ihn dadurch 
jo, daß er mit dem Arm um fich ſchlug, dad Thier aber dabei 
dermaßen gegen die Nafe traf, daß es aufbäumte und dadurch 
allgemeine Verwirrung anrichtete. Die Nächſtſtehenden ſprangen 
ſogar auf den über die Erde gebreiteten Poncho, auf dem die 
Karten und das Geld lagen — wodurd fie beides natürlich 
untereinander ſchoben. Der junge bleihe Menfch aber, der in 
die gewöhnliche Tracht der unteren Klafjen gekleidet ging und 
einen furzen gejtreiften Poncho von ordinärem Wollentoff trug, 
ſchien noch immer gereizt, fiel dem Pferd in die Zügel und 
drängte e3 mit einer Kraft zurüd, die man ihm feinem Aus— 
jehen nad kaum zugetraut hätte, bis ihm der Reiter mit jeiner 
Revenca, einer Art Peitſche, die aber nur aus einem Streifen 
jtarfen Leders bejteht, einen folchen Schlag über den Kopf 
verjebte, daß er zurüdtaumelte, in die Kniee brach und fi) 
den Kopf mit beiden Händen hielt. Das Pferd war dann 
rajch wieder beruhigt und nur durch den heftigen Stoß gegen 


DIE 


die Nafe jcheu geworden. Die Spieler hatten die kleine Zwifchen- 
fcene jelber faum beachtet, denn das zerjtreute Geld und die 
verfhobenen Karten nahmen ihre ganze Aufmerkfamkeit in Ans 
jprud. Nur ein junger Burfche jprang daraus hervor, auf 
den Geichlagenen zu, und ſich liebevoll über ihn beugend, nahm 
er feinen Kopf in den Arm und jagte: 

„Haben fie Dir weh gethan, armer Pablo, haben fie Dich 
geſchlagen? — aber was hatteft Du auch mit dem Pferde!” 

„Der böfe Argentiner iſt's geweſen, der Teufel!” klagte 
der junge Burſche — „derſelbe, der den Ricardo im vorigen 
Herbite erftochen hat, und Ricardo war immer gut mit mir, 
Wie ich ihn auf dem Pferde ſah, padte mich die Wuth! Dh, 
mein Kopf... wie er brennt, wie er brennt!” 

„Armer Pablo!‘ 

„Hombre — Juan!“ rief da plöbli eine Stimme an 
feiner Seite — „wie habe ih Dich gejucht, Amigo, auf dem 
ganzen Plan — wen haft Du da? Komm einmal einen 
Augenbli her zu mir — ich habe etwas mit Dir zu ſprechen.“ 

Suan, der junge Mann, der an des Gefchlagenen Seite 
ftand, hob raſch den Kopf und ſah denſelben Reiter, der den 
jungen Burfchen eben mißhandelt, neben fich halten. 

„Und weshalb habt Ihr meinen Bruder jo gefchlagen, 
Don Manuel?” fagte er finjter, „wißt Ihr doch, daß er 
ſchwachſinnig und nicht verantwortlich für das ift, was er thut.“ 

„Garamba, Juan!“ rief der Reiter doch etwas bejtürzt 
aus, „ich wußte nicht, daß ed Dein Bruder ſei — ich Hatte 
ihn in dem Augenblik nit einmal erfannt — er fiel nur 
wie toll meinem Pferde in die Zügel! Komm her, Pablo, 
rei’ mir die Hand und laß uns wieder gute Freunde fein! 
SH hab's nicht gern und nur aus Verſehen gethan — ſei 
mir nicht böſe!“ 

Pablo warf ihm einen Blick vol Haß und Abſcheu zu, 
folgte der Einladung nit, ſondern 309g fih nur mehr 
noch und ſcheu vor ihm zurüd. 

„Seht!“ ſagte er dabei mit vor Wuth fait erfticter 
Stimme. „Ihr feid der Teufel, von dem uns die Padres 
erzählen — Ihr wohnt in der Hölle und habt Euch nur nad) 
Chile hereingeftohlen — fort! Ihr brennt — id ſehe die 

14* 


212 


Gluth in Euern Augen, und Blut klebt an Euern Händen — 
Ricardo's, meines Freundes, Blut!‘ 


„Was er unge für albernes, verworrenes Zeug ſchwatzt!“ 
jagte Manuel mit einem eben nicht freundlichen Blick auf den 
unglüdlihen Knaben, ‚aber man darf ihm nichts übel nehmen, 
denn er weiß ja nicht, was er jagt.‘ 


„Weiß ichs nicht?" ... knurrte der junge Burfche ſcheu 
und heimlich in fich hinein, und fein Bli hing in faum zurüd- 
gehaltener Wuth an dem Manne. Diejer aber beachtete ihn 
ion gar nicht mehr, fondern fih an den Bruder wendend, 
jagte er mit halblauter Stimme: 


„Komm mit mir, Juan, ich habe Dir einen Vorſchlag zu 
machen — oder fpielft Du jest und bilt im Glüd? Dann 
fönnen wir und nachher treffen.‘ 

„Ich ſpielen?“ jagte Juan finfter; „was ich verdiene, 
brauche ich nothmwendig zum Leben — ich Fannn nicht Spielen.‘ 

„Und wenn ih Dir nun in einer Stunde zehn Peſos zu 
verdienen gäbe, Kamerad, wie dann?“ 


„zehn Peſos in Einer Stunde?‘ 

„Folge mir ein Stüd abſeits,“ flüfterte ihm der Neiter 
gu, „es find hier zu viel Dhren, die nicht zu hören brauchen, 
was wir mit einander ſprechen. Sag’ mir nur, ob Du Luft 
haft, das Geld zu verdienen — es ift aud nichts Böſes dabet, 
and Du brauchſt mich nicht fo mißtrauiſch anzuſehen...“ 

Den Blick vorfihtig umherwerfend, wandte er langjam 
jein Pferd und ritt einer der Stellen zu, wo nur Einzelne 
der Spaziergänger herüber und hinüber gingen. Dort hielt 
er, und als er fih ummwandte, um zu fehen, ob Juan ihm 
folge, jah er diejen allerdings nahfommen, feit an ihn ange: 
klammert aber auch feinen blödfinnigen Bruder, der ihn an- 
fcheinend mit ängſtlichen Worten zurüd zu halten fuchte. 

Don Nanuel murmelte einen Fluch zwiſchen den Lippen, 
und feine Brauen zogen fih zufammen, aber er wußte, daß 
mit dem geiſtesſchwachen Burſchen nichts anzufangen ſei, und 
mußte ihn deshalb gewähren laſſen. Er bemerkte aber auch 
dabei, daß Juan mit dem Kopfe fehüttelte und nicht auf Pablo 
hörte, und das war vor der Hand Alles, was er verlangte, 


213 


Jetzt waren fie herangefommen, und Pablo hielt noch 
immer den Bruder hinten am Poncho feit. 

„Und was wollt Ihr von mir, Don Manuel?’ fagte der 
junge Mann, als er herantrat, „iſt es ein Geheimniß?“ 

„Ein Geheimniß? ja!’ Yautete die Antwort, „und do 
nichts Unrechtes, aber dabei mit leichter Mühe viel Geld zu 
verdienen, das wir jebt bei den Yeitlichfeiten gut gebrauchen 
fönnen. Ich bin wenigitens vollfommen fahl, und die [eßte 
Unze habe ic) vorhin im „Monte verloren.’ 

‚ber was foll es fein? 

Don Manuel warf einen unzufriedenen Blick auf den 
geiftesihwahen Burſchen, der fih noch immer feft an den 
Bruder anjchmiegte. 

„Können wir nicht einen Augenblid allein mit einander 
reden ?’' 

„Wir find allein,’ jagte Juan traurig. „Ahr wißt, 
daß mein armer unglüdlicher Bruder faum den Sinn der 
einfachiten Dinge begreift, die man zu ihm ſpricht.“ 

„Manchmal redet er aber ganz vernünftig,’ meinte der 
Reiter. 

„Weiß aber auch ſchon im nächſten Moment nicht mehr, 
wovon die Rede war, Wenn Ihr mir aber etwas zu jagen 
habt, jo jprecht, denn Pablo geht jetzt nicht mehr von meiner 
Seite, Ihr müßt dem armen Jungen vorhin jehr wehe gethan 
haben.’ 

Manuel big die Lippen zufammen, ermwiderte aber Fein 
Wort darauf, Ihwang fih aus dem Sattel, und den Zügel 
feines Thieres nehmend, während er an Juan’3 Seite lang: 
fam dahinfchritt, jagte er: 

„Wißt Ihr, Juan, daß in der legten Nacht der Frumme 
Pedro gejtorben iſt?“ 

„Der fo furchtbar verwachſene Pedro?“ jagte Juan raſch. 

. Manuel nidte und fuhr dann fort: „Heute Morgen in 
aller Frühe war der englifche Doctor bei mir, der ihm auch 
immer die Arzeneien verfchrieben Hat, und machte mir einen 
Vorſchlag, der leicht ausführbar, ganz ungefährlid und gut 
Iohnend iſt. Ich könnte auch vielleicht das Geld allein ver: 
dienen, aber — es ift mir lieber, ich habe einen Compañero 


214 


dabei, auf den ich mich verlaſſen kann — und da date ih 
an Dich!“ 

‚Und was ſoll's nun?“ frug Juan, der noch immer nicht 
begriff, wohinaus Manuel wollte. 

„Heute Naht wird Pedro, wie Du weißt, um zwölf Uhr 
begraben. Er ift ein armer Teufel und befommt, wie die 
Mebrigen feines leihen, feinen Plab in der allgemeinen 
Kuhle. Da hat mir denn der Doctor einen ganz hübſchen 
Preis geboten, wenn ich ihm die Leiche des verfrüppelten 
Menſchen noch vor Tag in fein Haus ſchaffe.“ 

‚Ave Maria!’ rief Juan ſcheu aus. 

„Ich gebe Dir fünfzehn Dollar für die Eine Stunde, in 
der Du mir hilfſt,“ bevedete ihn eifrig Don Manuel; „einen 
großen Sad nehme ich mit — id) weiß mit derlei Geſchäften 
Thon umzugehen — Du haft nicht? weiter zu thun, als Die 
Leiche mit aus der etwas tiefen Grube zu Heben und mir 
damit über die Mauer zu helfen, dann beforge ich das Andere 
ganz allein! — Du mußt jedoh mit dem Schlag ein Uhr 
auf dem Kirchhof fein.‘ 

Juan zögerte. „Das Geld wäre leicht genug verdient,’ 
jagte er dabei, „aber der Himmel behüte mich, Hand an die 
Todten zu legen! Ich würde fortwährend in Angit fein, daß 
eine jolhe Todtenhand nad mir griffe und mich feithielte. 
Nein, Lieber einen Monat für das Geld hart und ſchwer ar- 
beiten, als ſolch' eine Stunde!‘ 

„Ich gebe Dir zwanzig Peſos Fuertes, Compañero,“ 
drängte Manuel. „Wenn wir Zwei zuſammen ſind, brauchen 
wir uns doch wahrlich vor den Todten nicht zu fürchten. 
Allein — das geſteh' ich Dir — habe ich ſo etwas nie gerne 
gethan.“ 

„Aber Ihr habt's doch ſchon gethan?“ frug Juan 
ängſtlich. 

„Und welche Sünde wär's, einen Cadaver da hinaus zu 
ſchaffen, an dem ein Arzt lernen will?“ höhnte Manuel. „Ob 
er da unten fault, oder oben der Wiſſenſchaft nützt — und 
außerdem giebt Dir jeder Prieſter für einen Peſo volle Ab— 
ſolution!“ 

Juan ſchüttelte mit dem Kopfe. „Nein,“ ſagte er, inner— 


219 


ti zufammenfhaudernd, „mein, nicht um fünfzehn Goldungen, 
jo nothwendig ich fie brauchen Fönnte, möchte ich Hand an Die 
Todten legen. Der furchtbare Gedanfe würde mir Tag und 
Naht folgen und mich verrüdt maden, e 

„Thorheit!“ lachte Manuel; ‚ein einziges Glas alten 
feurigen Weines jagt Dir alle die albernen Gedanken wieder 
aus dem Hirn. Du haft in Deinem Leben no nicht fo raſch 
und leicht zwanzig Peſos verdient.‘ 

„Ich will fie nicht,‘ beharrte Juan, „te würden mir auf 
der Seele brennen.’ 

Manuel ſchwieg in jchlecht verhehltem Ingrimm. 

„Gut,“ fagte er endlih, „wenn Du das Geld nicht ver- 
dienen willft, jo kann ih Dich nicht zwingen, aber,“ ſetzte 
er drohend hinzu, „wenn Du mit einem Menjchen darüber 
ſprichſt —“ 

„Ich werde Euch nicht verrathen, Manuel, fagte Juan 
ſcheu, „Ihr kennt mich — es iſt auch vielleicht nicht einmal 
eine Sünde, aber mir zittern die Glieder, wenn ih nur an 
etwas Derartiges denke.’ 

„Als Du mir damald mit dem Pferde halfſt,“ Tachte 
Manuel, „wart Du nicht jo ängſtlich.“ 

„Ich Habe es auch jchwer genug bereut!‘ jeufzte der junge 
Burſche, „und damals einen heiligen Eid gefhmworen, nie 
wieder anders als mit ehrlicher Arbeit mein Brod zu verdienen. 
Das kann man dann auch mit ruhigem Gewiſſen eſſen.“ 

„Du bift ein Thor, Yuan,” lachte Manuel bitter, „und 
was für ein fröhliches Feit könnteſt Du diesmal feiern! 
Aber wenn Du’s nicht beſſer haben willit, bueno! Jeder 
ilt feines eigenen Glüdes Schmied.” — Und nadläffig wieder 
die Zügel feines Thieres zufammenfafjend, trat er mit dem 
linken Zuß in den großen, aus Holz ausgeſchnittenen Steigbügel, 
Ihwang ſich wie eine Feder in den Sattel und jprengte dann 
ohne weiteren Gruß den Plan entlang. 

Yuan war, als ihn Don Manuel verließ, feinen düjteren 
Gedanken und Erinnerungen nachhängend, ftehen geblieben 
und ſchaute ftill und ftarr vor fi auf den Boden nieder. 
Seinen unglüdliden Bruder Pablo Hatte er faft ganz vergeflen 
und fühlte nicht einmal, daß diefer fih noch immer wie frampf- 


216 


haft an feinem Poncho anflammerte Endlich ſagte Pablo 
mit leifer, [hüchterner Stimme: 
„Juan — Bruder Juan!’ 


Der Bruder wandte fih langjam nah ihm um, rief aber | 


Ihon im nächſten Moment aus: 


„Pablo — armer Pablo, wie hat Dich der böſe Geſell 


zugerichtet! Ave Maria, wie iſt der Schlag angeſchwollen! 
Thut es Dir recht weh?“ 

Ueber Pablo's nur mit dünnen Haaren beſetzten Kopf zog 
ſich allerdings ein breiter, rother und hochangeſchwollener Strie— 
men. Pablo aber ſchüttelte unwillig mit dem Kopfe. 

„Das ift gut fo," fagte er, „ich vergefje immer Alles fo 
raſch — das erinnert mich aber, daß ich dem Teufel etwas 
ſchulde. — Doch Du, Juan, Du willit doch nicht mit dem 
Menihen gehen ?’' 

Yuan ſah ihn erit einen Moment eritaunt an, dann aber 
mochte ihm einfallen, daß der Bruder ja wohl Alles gehört 
haben müfje, was Manuel von ihm verlangte, denn geachtet 
hatte Keiner von ihnen auf ihn — mußte ja doch Jedermann 
in Balparaifo, daß der unglüdlihe junge Menfch blödfinnig ſei 
und mandmal das tollfte Zeug durcheinander ſchwatze. Es 
ſchien allerdings, als ob er zumeilen vollfommen lihte Momente 
habe, aber die flogen vorüber wie der Blitz einer Stern 
Ihnuppe und ließen den Geift dann wieder dunkel und todt. 

„Rein, Pablo, forge Dich nicht,‘ ſagte auch Juan ruhig, 
‚td gehe nicht mit Don Manuel und will überhaupt nicht8 
mehr mit ihm zu thun haben.‘ 

Ueber des Blödfinnigen Antlitz zudte etwas wie ein 
Lächeln. 

„Das ift recht,” fagte er, „es iſt ein Mörder. Sede 
Naht kommt der todte Ricardo an mein Bett und mahnt mid, 
daß ich ihn rächen Toll.’ 

„Du träumft dann, Pablo,’ fagte Juan gutmüthig, „die 
Gerichte Haben Don Manuel ja damals von der That voll- 
kommen freigeſprochen.“ 

„Weil ſie mir nicht glaubten,“ rief Pablo heftig aus, 
„und der eine Advocat mir lauter ſo verwirrte Fragen vor— 
legte, daß es mir im Hirn zuckte und ſtach, und ich zuletzt 


— 


— 


kein Wort mehr ſagen konnte. Aber ich ſtand dabei, als er 
dem Ricarado ſein langes Meſſer von hinten in den Rücken 
ſtach, und jetzt hat dieſer im Grabe feine Ruhe mehr und — — 
läßt mich auch nicht mehr ſchlafen. Muß ich denn da nicht 
zuletzt verrückt werden?“ 

„Armer Pablo!“ ſagte Juan theilnehmend, „aber laß ab 
von den böſen Gedanken und komm mit mir da drüben in 
das Zelt, um ein Glas Wein zu trinken. So viel Geld hab' 
ih noch.“ 

„Nein,“ entgegnete Pablo, „heute nicht — heute keinen Wein, 
denn der macht mich betäubt, und das darf heute nicht ſein! 
Der krumme Pedro iſt geſtorben, den ſie auch immer, ſo lange 
er lebte, verjpotteten — gerade wie mich — und mit dem 
will ich heute Nacht auf den Kirchhof gehen und — kann 
mir dann gleich den Platz betrachten, wo ich nächſtens aud) 
hinfomme!...‘ | 

„Pablo, ſprich nicht jo thörichte Worte,’ bat fein Bruder, 
„komm, trink ein Glas Wein mit mir, und dann gehen wir 
nah Hauje, und wenn Du dem armen Krüppel das lebte 
Geleit geben willft, jo leg’ Dich jetzt ein wenig fchlafen und 
ih wede Dih um zehn oder elf Uhr. Iſt Dir das recht? 

Pablo beſann ſich eine Weile und fah jtill dabei vor fi 
nieder. Endlich — und es ſchien fait, als ob er feine vorige 
Weigerung ſchon ganz vergefjen hätte — fagte er: 

„Wollten wir nicht dort hinüber gehen und ein Glas Wein 
trinken, Juan? Komm, ich bin durftig und mein Kopf brennt 
mir wie Feuer — aber das ift gut, das ift gut, Juan! Ich 
muß künftig ruhig ſchlafen können, oder Ricarado peinigt mid 
noch zu Tode!’ — Und ohne eine Antwort abzuwarten, jhritt 
er, dem Bruder voran, dem Weinzelte zu. 





2. 
Auf dem Kirchhofe. 


Es war Mitternacht, zu welcher Zeit in Chile ſämmtliche 
Leihenzüge von Haufe fortgehen, um die Todten beizuſetzen. 
Jedes Schiff jelbit, das im Hafen von Balparaifo eine Leiche 
an Bord Hat, ſtößt mit acht Glaſen Nachts ab, nah Land zu, 
und die Matrofen tragen dann den gejhiedenen Kameraden 
den ziemlich fteilen Berg hinauf zu feiner lebten Ruheſtätte. 

Vom Hafen aud fam heute Feind jener Boote, die fonft, 
befonder3 in dunfeln Nächten, ſchon weit draußen an den zahl- 
reichen Laternen Fenntli find. Dagegen bewegte fih von 
unten herauf aus der Stadt ein langer Zug, von zahlreichen 
Papierlaternen begleitet und mit Muſik voraus, der langſam 
die Schnedenbahn am Todtenhügel hinan flieg. Unmittelbar 
an diefe Proceifion, die den koſtbaren Sarfophag eines Vor— 
nehmen geleitete, hatte fich ein von vier Männern getragener, 
ſchwarz angeitrihener, aber offener Sarg dicht angeſchloſſen, 
dem nur, tief gebeugt, eine einzelne Geftalt folgte. 

Diefer Todte gehörte jedenfalls der ärmiten Klaſſe an, 
denn nicht einmal der Sarg war fein Eigenthum, fondern 
gehörte der Stadt. In ſolchen Särgen wird da3 Proletariat 
der Republik auf den Kirchhof gebracht, dort im wahren Sinne 
des Wortes in feinen Arbeitskleidern ausgeichüttet in Die 
große gemeinfchaftlihe Kuhle, und der Sarg geht dann wieder 
in dad Depot bis zum nächſten Abend zurüd. Die Träger 
eines ſolchen fließen fich aber jedesmal, wenn ihnen die Ge: 
Yegenheit dazu geboten wird, einem größeren Zug an, um für 
ihren todten Kameraden auch von der Feierlichfeit Nutzen zu 
ziehen. Er ift dann eben fo gut wie jein Vormann mit Muftk 
hinauf geleitet worden. 

Erſt auf dem Kirchhofe jelber, von dejien Rand aus man 
einen weiten Blick über die darunter liegende Stadt und das 
ganze Beden des Hafens hat, trennten fich die beiden Ab— 


—W 
28 


219 


&heilungen. Die erftere zog der Stelle zu, wo prachtvolle, in 
Italien gearbeitete Marmorftatuen den Nuheort der Ge- 
ihiedenen bezeichnen; die andere wandte fih ſchräg an dieſen 
vorüber einer abgelegenen Stelle zu, unfern von der ein 
thurmähnlier Bau ftand, der auch in etwas einem fehr 
Sreiten, runden und weiß angeftrihenen Schornftein gli). 

Dort lag die Kuhle — ein vierediger Schacht, etwa zehn 
oder elf Fuß tief und ungefähr fünf Schritt im Quadrat, an 
deſſen oberem Rand die Träger den Sarg des Armen nieder- 
ſetzten. 

Kaum achtzig Schritt davon entfernt tönte noch der Choral, 
und der Geiſtliche, der ſehr gut dafür bezahlt wurde, hielt 
eine ſalbungsvolle Lobrede auf den Todten. Indeſſen machten 
die Träger des Armen-Sarges weniger Umſtände mit ihrer 
Laſt an der Kuhle. Die Bahre mit dem Sarge hatten ſie 
ſchon auf den Boden geſtellt, an der einen Seite hoben ſie 


denſelben empor, rollten die Leiche heraus, zogen ſie an den 


Füßen noch etwas mehr nach vorn, und während Zwei dieſelbe 
unter die Arme faßten, ſtieg ein Anderer auf die in der 
Kuhle lehnende Leiter — der Vierte war ſchon nach unten ge— 


klettert — und nun ließen die Oberen den Körper, mit den 


Füßen zuerſt, nach unten gleiten. Der auf der Leiter faßte 
ihn dabei an der Jacke — der Todte hatte ſelbſt noch ſeine 
Schuhe an — der unten Stehende ſuchte ihn, als er nun die 
Füße erfaſſen konnte, zu ſtützen. Aber er war noch zu gelenk 
und weich, die Kniee bogen ein, und als die Oberen los 
ließen, wurde das Gewicht zu ſchwer, und die Leiche ſtürzte 
vornüber in die Kuhle hinab. 

Das aber war nichts Außergewöhnliches — es kam eben 
jeden Abend vor; der todte, noch weiche Körper wurde in die 
Reihe gezogen, in welcher die zuletzt Begrabenen lagen, dann 
ſtiegen die Leute wieder hinauf, nahmen mit dem dort ſteckenden 
Spaten etwas Sand und Erde von dem zu dieſem Zweck an— 
geworfenen Haufen und ſchloſſen ſich dann dem andern Grab— 
geleite an, wo eben wieder die Muſik zum Schluß der Feier 
begann. 

Der einzige Leidtragende, der dem Sarge des Armen gefolgt, 
war, ohne daß ſich die „Arbeiter“ auch nur mit einem Blick 


220 


um ihn befümmert hätten, am Rande der Kuhle zurüdgeblieber, 
und während er dort ineinander gefauert jaß, liefen ihm die 
großen, hellen Thränen an den bleichen Wangen nieder. 

So faß er wohl eine halbe Stunde da und rührte und 
regte fi nicht. Der große Leichenzug hatte lange den Kirch— 
hof verlaffen und war wieder in die Stadt hinab geitiegen. 
Der Plab lag jtill, öde und dunkel; der im Weiten finfende 
Mond verbreitete nur noch ein mattes, ungemwifjes Licht über 
den unheimlichen Ort, und leife und flüfternd raufchte der Wind 
durch die wenigen da oben ftehenden Bäume. 

Da riefen die Wächter da unten in der Stadt die erite 
Stunde des neuen Tages, und Scheu ſchrak der Trauernde empor, 
Es war Pablo, der arme Blödfinnige, der feinem Kameraden 
allein das Geleite gegeben, jett aber faum mehr an den Ge: 
ſchiedenen dachte. Raſch warf er fi die wirren Haare aus 
der Stirn, laufchte einen Moment dem ſchrillen Ruf, der von 
unten herauf tönte, und jprang dann auf die Füße. Er mußte 
einen beftimmten Plan verfolgen, denn ohne fich weiter zu bes 
finnen, eilte er der Stelle zu, an welcher noch immer der wieder 
in den Sandhaufen gejtogene Spaten ftaf, riß diejen heraus 
und warf rajch einen Theil des Sandes in die Grube hinab 
und dicht neben die zulebt eingelegte Teiche. Ohne zu zögern, 
flieg er dann raſch hinab und ging an die Arbeit. 

Da unten war e& allerdings volllommen dunfel, denn der 
Mond berührte fhon mit dem untern Rand feiner Scheibe 
den Horizont; aber doch fand Pablo leicht die Stelle, wohin 
fie den armen Pedro gelegt, und ſchmiegte fich dicht an dieſen 
an, mit in die Reihe. Das nahm ihm auch nicht lange Zeit, 
und während er jebt einen Zipfel feines Poncho über jein 
eigene® Gefiht zog, Frabte er mit den Händen den vorher 
eingeworfenen Sand über fih hin, jo daß er zum größten 
Theil leicht davon bededt wurde. Mehr Umſtände madte 
man überhaupt nicht mit den in diefer Grube Beigejebten, da 
ja doch in mancher Nacht ſechs bis fieben hineingelegt wurden 
und in vier, fünf Tagen immer eine „Schicht voll war. 
Nah Beendigung der oberjten wurde fie dann zugejchüttet 
und eine bejtimmte Anzahl von Jahren nicht berührt; nachher 
grub man fie wieder aus, warf die Gebeine in das neben= 


ar 


stehende ſchornſteinähnliche Gemäuer und begann die Kuhle 
aufs Neue zu füllen. 

Jetzt hatte Pablo feine fchauerliche Arbeit beendet und 
Tag ftille, aber lebend in dem Aufenthalte der Todten. Er 
horchte auch eine Weile nach oben, aber nicht? regte ſich, und 
mit leifer, faum hörbarer Stimme flüfterte er: 

„Pedro! — armer Pedro, ſchläfſt Du? — Hu! wie 
talt Du bift, in Deiner dünnen Jade. Aber lag nur gut 
fein — nachher de’ ich Dich beſſer zu, und nicht mehr ver- 
Höhnen können fie Dich jebt in der Welt, und corcovadito 
Hinter Dir drein rufen, wie e8 die böfen Leute jo oft gethan! 
Und nicht einmal in Deinem traurigen Grabe wollen fie Dir 
die Ruhe laſſen — aber forge Did nicht, mein armer 
Pedro — Dein Pablo ift bei Dir und läßt Dir nichts ge 
ſchehen! Der Bube kommt, aber er denkt nicht, daß ihm — 
wenn er hier hereinfteigt, der NRüdweg —“ 

Er brach kurz ab, denn fein ſcharfes Dhr hatte Stimmen 
da oben gehört, und wie felber ein Todter, lag er von dem 
Moment an und rührte fich nicht mehr. 

„Ave Maria, Manuel,” lang da oben eine Stimme, 
„ich wollte, ich wäre nicht mitgegangen. Da drinnen 1jt’8 ſtock— 
Dunkel, und wie meine alte Großmutter erzählt, jo ftehen 
um diefe Zeit in der Nacht die letztbegrabenen Todten da 
unten auf und tanzen auf den Leichen der Uebrigen herum, 
Hinunter fteige ih nicht mit, und wenn Du mir taufend 
Peſos böteſt!“ 

„Carajo!“ brummte die andere Stimme. „Deine Groß— 
mutter iſt eine — alte Frau und hat lauter tolle Ideen im 
Kopfe. Was todt iſt, iſt todt und kann ſich nicht mehr 
rühren, viel weniger tanzen, und ich gebe Dir mein Wort, 
daß wir da unten keine tanzluſtige, ſondern eine ſehr ſtille 
Geſellſchaft zuſammen finden.“ 

„Ich ſteige wahrhaftig nicht mit hinab.“ 

„Das brauchſt Du ja auch gar nicht, Hombre, ſei doch 
vernünftig — nur den Strick ſollſt Du am einen Ende halten 
und — wenn ich dann wieder bei Dir oben bin, — mir ziehen 
Helfen. Du ſcheuſt Dich doch nicht, Die Leiche mit zu tragen?“ 

„Wenn wir fie erft Hier oben haben, nein!" 


228 


„Bueno — und weiter wird ja nichts von Dir verlangt. 
Hombre, Du haft in Deinem Leben no nicht jo raid eine 
Unze verdient!‘ 

„Ich wollte, es wäre erjt vorbei. Wenn und nur Nie- 
mand hier fieht, ſonſt können wir mit eifernen Knieebändern 
ſechs Monate die Straße kehren.“ 

„Unfinn — wer fol uns denn bier jehen? Der Todten— 
gräber liegt im erften Echlafe und denkt nicht daran, noch Hier 
auf dem Kirchhofe jpazieren zu gehen — und aus der Stadt 
fommt jet doch wahrhaftig Niemand mehr herauf. Da, hier 
nimm da8 Ende vom Seil, laß e8 Dir aber nit aus der. 
Hand rutjchen, oder wir werden um jo viel länger aufgehalten. 
Sn einer halben Stunde fann Alles vorbei fein. Wir brau— 
hen den Cadaver ja nur unten in die Hütte zu Schaffen und 
in die Kifte zu legen, und morgen am Tage fährft Du fie 
ruhig in des Doctord Haus. So — de ift das Seil — 
ihling es Dir um das Handgelent — paß aber do ein 
bischen auf, ob Du nichts hörft, und wenn, jo giebjt Du mir 
gleich das Zeichen.‘ 

„Ich ſage Dir, Manuel, mir zittern die Glieder, al3 ob 
ich die calentura hätte.‘ 

„Du biſt ein Hafenfuf. Der Wein wird Dir nachher 
deito beſſer ſchmecken. Haft Du das Geil feſt?“ 

je Per | 


„Ia. 

Manuel ſprach Fein Wort weiter — oben war es gerade 
noch hell genug, um die Stelle zu erfennen, an welcher die 
Leiter lehnte, raſch hatte er fie erfaßt, und fi darauf 
Ihwingend, ftieg er ohne Zögern in die Kuhle hinab. Trotz 
des wilden Muthes, den der Argentiner ſonſt jo oft gezeigt, 
überfam ihn aber dabei doch ein recht häßliches und unheim— 
lihes Gefühl. Er fürchtete fih nicht und Fannte feine Arbeit 
genau, denn er war nicht das erſte Mal dabei. Aber nicht 
allein der ungebildete rauhe Sohn der Pampas trägt jein 
Stüf Aberglauben in der Bruft, nein, Keiner von und, und 
ftände er auf der höchſten Etufe der Wiſſenſchaft, fann ein 
eigenes fatale Gefühl abjhütteln, wenn er in dunkler Nat 
einen Kirchhof beſucht — mie viel mehr denn hier, an dieſer 
grauenvollen Stätte, wo der Fuß auf nidts als die faum 


223 


mit einer dünnen Sandſchicht überftreuten Leihen trat, und 
ein Geruch von der faulen Mafje emporjtieg, der ihm fait 
den Athen verſetzte. — Aber Manuel, in allen Tagen des 
Lebens gejtählt, biß feft die Zähne zufammen, murmelte einen 
halblauten Fluch zwiſchen den Lippen und ftieg dann vorſich— 
tig auf den weichen Boden nieder. 

Er wußte auch Hier unten genau Beſcheid, denn er war 
ſchon an demfelben Abend da geweſen, um fi) die Tage der 
letzten Schicht genau zu merken. Ebenſo hatte er auf der 
Lauer gelegen, als der Todtenzug den Berg Heraufitieg, und 
dann recht gut gefehen, daß nur eine Armenleihe — Pedro 
— hinaufgefhafft wurde. Er verlor auch feinen Moment 
mit Umberfuden, griff das Geil auf, da an der teilen 
Wand niederhing, und ftieg dann direet auf die Stelle zu, 
wo Pedro Tiegen mußte — der Lebte in der Reihe. Dort 
trat er zum Kopfende, machte raſch und mit geübter Hand 
eine Schlinge in das Seil, und bog fich jest hinunter, um 
nach dem Oberkörper zu fühlen — hielt aber erichroden inne, 
denn es war ihm plötzlich, als ob er einen eigenen Laut, ber 
faft wie das Zuſammenknirſchen von Zähnen Hang, höre. 

Erſchreckt richtete er fi empor und horchte — das Herz 
ihlug ihm Hörbar in der Bruft — aber es war nichts — 
Alles todtenftill, und entſchloſſen griff er die Schlinge wieder 
auf, um das Unternommene nun aud) fo raſch als möglich 
durchzuführen. 

„Haft Du ihn?” flüfterte fein Begleiter von oben nieder. 

„Ja,“ fagte Manuel zurüd — „paß nur da oben gut 
auf — mir war es eben, als ob id) etwas hörte.‘ 

Sein Begleiter Horchte erfhredt empor, und Manuel bog 
fich nieder und berührte, nachdem er ſich zuerjt mit dem Fuß 
von der Lage des Lebtbegrabenen überzeugt, den Kopf des ver: 
meintlihen Todten. h 

Pablo hatte ſchon lange, weil er ſonſt nicht ordentlich 
athmen konnte, den Zipfel des über den Kopf gezogenen 
Rondo zurücdgeworfen, denn da unten war «8 ja doch zu 
dunkel, um etwas Beftimmtes erfennen zu können. Sebt 
fühlte er, wie ihm der Verhaßte mit der Hand über das Ge⸗ 
ficht ſtrich, und konnte nun nicht mehr zurückhalten. Wie ein 


224 


wildes Thier ſchnappte er zu und padte mit den Zähnen die 
ihn berührende Hand, aber die Wirfung war furdtbar. 

„Jeſus!“ ſchrie Manuel, weniger aus Schmerz als Ent: 
jeben, und ftürzte zurüd, als ob er vom Schlage getroffen 
wäre — zugleich glitt aber auch das oben gehaltene Seil in 
die Kuhle hinab, denn fein furhtiamer Gehülfe oben wartete 
wahrlih feinen zweiten Angftruf ab. Wie vom Böfen ge 
hebt, fprang er der Mauer zu, ſchwang fich hinüber und war 
bald im Dunfel der Nacht ſpurlos verſchwunden. 

Mit wahrer Federkraft Schnellte in demfelben Moment der 
unglüdlihe Irre von feinem eflen Lager empor. 

„Bit Du da, Manuel?’ zifchte er dabei zwilchen den 
Zähnen, und feine Augen quollen fait aus den Höhlen, um 
da8 Dpfer zu erkennen, „bilt Du gefommen? Ja wohl, 
Ricardo, Hat Dich hergeſchickt — heh! da fteht er jchon wieder 
oben auf dem Rande und droht herunter. _ Fürchte Dich nicht, 
Ricardo, jebt it er mein!’ — Und mit Bligesfchnelle rig 
er ein ziemlich langes und haarſcharfes Mefjer aus feinem 
Gürtel und rannte e8 dem noch immer Bemwußtlofen wieder 
und wieder in die Seite. Schon der erfte Stoß war tödtlich 
geweſen, aber der Wahnfinnige konnte fih, mit jeinem Opfer 
vor fih, nicht mehr zähmen,. und erſt als ihm der Arm er— 
lahmte, hörte er auf. 

Und war der Burſche wirklich wahnfinnig? In diefem 
Augenbli wenigitens handelte er nicht jo. Vor allen Dingen 
wiſchte er fein langes Mefjer an dem Poncho des Ermordeten 
jauber ab, dann zog er eine Fleine Laterne und. Streichhölzchen 
aus der Tafche, entzündete das Licht in der eriteren, ftellte 
fie auf den Boden und zog nun den Körper des Ermordeten 
unmittelbar neben Pedro's Leiche in die Reihe. Sand genug 
hatte er ſchon vorher hinuntergemworfen, jett bededte er Manuel's 
Körper in der Art, wie e8 fonft mit regelmäßig Begrabenen 
geichieht, nur Dichter als fonft, um die Form nicht Deutlich 
zu zeigen. Als das gejchehen, unterfuchte er den Boden, um 
die friichen Blutſpuren zu vertilgen und ebenfalls dicht zu 
überftreuen, und erft als er fih in jeder Hinficht gefichert 
glaubte, griff er das Geil und den Spaten auf und jtieg 
damit wieder die Leiter hinauf. 


225 


Allerdings Horte er oben noch eine Weile, ob Alles 
fl und ficher fe, aber fein Laut unterbrah mehr die Stille 
der Nacht, und nur von unten aus der Stadt herauf tönte 
wieder der Ruf der Nachtwächter, welche die zweite Stunde 
fündeten. 

Pablo Fannte feine Furcht. Am Rande der Kuhle Fauerte 
er nieder und barg für wenige Minuten fein Antlitz in den 
Händen. | Ä 

„Wie mir der Kopf brennt! flüfterte er dabei, „aber — 
hahahaha,“ lachte er plötzlich laut auf — „jetzt hab’ ich 
Nude — Ricardo iſt fort und läßt mih nun ruhig jchlafen! 
Er flüftert mir nicht mehr die ganze Nacht zu, daß ich ihn 
rächen folle, oder er dürfe nicht im Grabe bleiben — da 
unten, ftil, mäuschenftill, liegt der Teufel in Reih' und Glied 
mit den Anderen, und wenn wieder der Jahrestag Fonımt, 


dann wird nicht mehr Alles blutroth um mich Her, und die _ 


Heinen Teufel dürfen mir nicht mehr in die Ohren heulen! 
Drer Unglückliche jchüttelte fich jchaudernd in der Erinne— 
rung jener furchtbaren Gedanken, mit denen ihn jein wirrer 
Geiſt gepeinigt; aber allmälig wurde er ruhiger, verlöjchte 
die Laterne, Die er noch immer in der Hand hielt, und dachte 
dann an den Heimmeg. 

Bor allen Dingen warf er noch einen Haufen Sand auf 
die leßtbegrabenen, oder vielmehr nur beigelegten Leichen, jtedte 
den Spaten wieder feit, griff das Seil auf, barg die Laterne, 
und glitt dann einem niedern Theil der Mauer zu, von wo 
ab er die Straße erreichte, die zwiſchen dem proteſtantiſchen 
und katholiſchen Kirchhof hindurch hinab in die Stadt lief, 
warf unterwegs das zufammengerollte Seil in eine der Fleinen 
Einfriedigungen, und fehrte in feine eigene Hütte zurüd, 
als ob er nur einen gewöhnlichen Abendipaziergang gemacht 
ätte. 

i Yuan hörte ihn nicht einmal kommen. Er war jelber 
müde gewejen, und wunderte fih nur am nächſten Morgen, 
daß der arme Pablo, der fonft fehon immer vor Tag aufitand 
und unruhig Herumlief, heute fo janft und feſt noch Ichlief. 
Pablo ftand auch erft ſpät auf, ging den Morgen aber nicht 
aus und beichäftigte fih nur damit, feine Kleider jorgjam zu 
Fr. Gerftäfer, Erzählungen ıc. 15 


226 


reinigen, was er ebenfalls ſonſt jehr vernadhläffigtee Er fang 
und lachte aber bei der Arbeit und ſummte fortwährend ein 
kleines Lied vor fih Hin, von dem Juan nur dann und wann 
den Refrain verjtehen konnte: „Der Teufel ift todt, und vor— 
bei iſt die Noth.“ — 

Heute wurden die Feſtlichkeiten auf dem Leuchtthurmhügel 
aber böſe geſtört; der Wind heulte über die hohen Küſten— 
hügel; auf den Kirchhof kam Niemand als der Todtengräber, 
der ſich aber natürlich nicht um die Kuhle bekümmerte, da er 
mit dieſer gar keine Arbeit hatte. Die Leute, die um Mitter— 
nacht ihre Todten hierher brachten, übernahmen auch die Ver— 
pflichtung, von dem dort lagernden Sand darauf zu werfen. 
Nur wenn ſie gefüllt war, lag es ihm ob, ſie zuzuwerfen 
und eine andere zu öffnen. 

In dieſer Nacht kamen auch wieder drei Leichen dort hin— 
ein, aber das Wetter war zu ſchlecht, als daß die Begleiter 
ſich lange dabei aufgehalten hätten; die Leute zogen ſchnell 
wieder ab und unterſuchten wahrlich nicht, wer ſonſt noch 
dort begraben lag. Der Argentiner war vergeſſen. Die 
kleine Stube, die er in der Stadt bewohnt hatte, blieb aller— 
dings bis zum erſten des nächſten Monats verſchloſſen. Dann 
kam der Wirth, um ſeinen Miethzins zu holen, wartete noch 
ein paar Tage und ließ dann die Thür öffnen, um das 
Wenige, was er darin fand, als Pfand zu behalten, bis der 
Eigenthümer zurückkäme und es wieder einlöſe. Kam er 
nicht — was galt damals das Leben eines Peon in den 
Republiken — was gilt es noch? — 

Der Argentiner blieb verſchollen, und nur Juan faßte 
ſpäter aus den verworrenen Reden ſeines unglücklichen Bruders 
einen erſt unbeſtimmten, aber dann immer mehr Wahr- 
jheinlichfeit geminnenden Berdadht über den wahren That= 
beftand. „Mein ermordeter Freund iſt gerächt!“ jagte Pablo 
zuweilen, und von jener Nacht an war er ein ganz anderer 
Menſch geworden — in feinen Sinnen allerdings noch geftört, 
aber jebt immer heiter und oft ſogar ausgelaſſen. Er 
Ihlief au die Nächte und wurde nicht mehr von unheimlichen 
Träumen geplagt, und nur auf den Kirchhof, der ſonſt fein 


PT: 


Lieblingsaufenthalt geweſen, ſtieg er nicht mehr hinauf, ſondern 
mied den Plab geflifjentlich. 

Schicht nah Schicht von Leichen war feitdem in die 
Kuhle gelegt, und diefe endlich gefüllt und zugejchüttet worden. 
Der Argentiner blieb verfchollen. Es frug aud wohl Keiner 
nad ihm — wen kümmerte eö, ob er todt oder fortgegangen 
war? — 





15* 


Das Hospital von Quito. 


1. 
In Quito. 


Duito, jene wunderlihe, in die Gordilleren von Ecuador 
hineingebaute Hauptitadt des ganzen Reiches, war erjt vor 
furzer Zeit wieder einmal von einem heftigen Erdbeben heim- 
gefuht worden, das einen nicht unbeträchtlihen Theil der 
Häufer und Kirchen durcheinander ſchüttelte, aber glüdlicher 
Weiſe nur wenige Menfchenleben forderte. 

Die Gebäude welche man am nothmwendigiten brauchte, 
wurden denn aud in Jahr und Tag wieder ausgeräumt, auf- 
gerichtet und auf's Neue bewohnt, in manchen Straßen lag 
aber der Schutt noch zehn und zwölf Fuß hoch, was aber Die 
quitonifche Polizei nicht befonderd ſtörte. Wen es genirte, 
der mochte es aus dem Weg räumen, fie hatte nichts Dagegen 
und überließ e3 außerdem den Schleußenöffnungen, Die 
wöchentlich einmal ftattfanden und dann die Bergmafler des 
oberhalb der Stadt gelegenen Kraters Pichincha wie Kleine. 
Katarafte durch die Straßen jandten, das Geröll nad) und 
nah mit fortzuwaſchen und fo die Stadt wieder ohne be- 
fondere Kojten zu reinigen. 

Aber der Frühling war angebrochen — ein Frühling 
Duitos, welde Stadt ja ſchon Humboldt — freilich wohl 
nur nad unferen jebigen Begriffen eines Frühlings in 
Deutfchland, die Stadt des ewigen Frühlings nennt. Aber 


229 


auch ſelbſt in Quito verleugnet diefe launiſche Jahreszeit 
ihren Charakter nicht — recht Faltes, unfreundliches Wetter 
tritt da zu Zeiten ein und hatte auch die ganze Woche vorher 
“einen Falten Regen auf die Erde niedergepeitiht. Der Wind 
heulte über die I500 Fuß Hoch über dem Meeresſpiegel ge— 
legene Hochebene und hielt die Bewohner in ihren dicht ver— 
Ihlofjenen Häufern, bis fi) der Wind wieder drehte und die 
gerade über Kopf itehende Sonne Hell und warm das ſchöne 
Land mit feiner prachtvollen Scenerie von ſchneebedeckten 
Bergen beſchien. 

Merfwürdig ift der Unterjchied in Duito zwiſchen der 
reicheren und ärmeren Klaſſe und kann jelbit in London nicht 
ftärfer in die Augen fallen, wo oft wahre Höhlen an Paläſte 
angebaut liegen. Der gebildete und wohlhabende Duitoner 
hat fein Haus abgeſchloſſen in fich jelbft wie eine Fleine Burg, 
unnahbar, wenn es ihm nicht beliebt zu öffnen, oft mitten in 
der Stadt Fiegend, und verkehrt, einmal erit „zu Haufe‘, gar 
nicht mit der Außenwelt. Die Tenfter feiner Wohnzimmer 
liegen fämmtlih nah innen und dem Garten zu — er will 
gar nicht jehen, was auf der Straße vorgeht, und non Dart 
eben jo wenig gejehen oder beobachtet werden. In dem innern 
Raum liegt aber fein Kleines Paradies, und jeder europäijche 
Luxus iſt da zu finden. 

Und daneben? Kellergewölbe in Schmub und Unrath, von 
eflem Ungeziefer wimmelnd — Indianer, Sambos und Neger 
bunt durcheinander gemifcht, der nöthigſte Hausrath fehlend 
und jelbit die Heimath diefer unglüdlihen Menſchen nur ein 
feuchtes, dumpfes Gewölbe, das die Sonne nicht herein: und 
den Dampf und Geftanf nicht hinausläßt. 
| Aber der eigentliche Duitoner kennt diefe Pläbe entweder 
gar nicht, oder beachtet fie wenigftens nidt. Er ſchickt zu 
feinem Schufter oder Schneider, der in einer folchen Höhle 
ganz gemüthlich als Nepublifaner Yebt, feinen Peon oder 
Diener, und würde nie daran denken, fie jelber zu betreten. 
Er lebt in einer volfommen abgeichlofjenen Welt, und zwar 
mitten in der Armuth und dem Elend, das ihn umgiebt, in 
einem feinen Paradies, und fieht auf das ihn umgebende 
Volk mit der nämlichen founerainen Beratung herab, mit 


230 


der in Franfreih ein Marquis das Volk betrachtet, bis es 
ihm mit einem Eimer Petroleum und einem Schwefelhölzchen 
einen Beſuch abitattet. | 

Thatſache ift, daß nirgends in Europa, ſelbſt nit in 
Rußland, wo doch noch vor Furzer Zeit Sclaven gehalten 
wurden, der Unterfchied zwiſchen Ariftofratie und Proletariat 
fo ſcharf hervortritt wie in den ſüdamerikaniſchen Republiken. 
Der Beon oder Diener hat allerdings der Conſtitution nad 
die nämlihen Nechte als fein Herr, aber — e8 iſt nun ein 
mal nicht möglich, die ideale dee de8 Kommunismus durch— 
zuführen, und mie ſelbſt im den DVereinigten Staaten von 
Nordamerika ſchon meiße Lakaien in Livrée Hinten auf den 
Carroſſen ihrer Herren ftehen, jo tft faft mehr noch in Süd: 
amerifa der Unterſchied zwiſchen der dienenden und der herr— 
ihenden Klafje ausgeprägt, und da die Letzteren eben jo gut 
dag Recht Haben, zur Wahlırne zu treten, als die Eriteren, 
ſo — giebt man ihnen eben zur Wahlzeit ein paar Dollars, 
um fie nad) der Seite ftimmen zu laffen, wo man fie eben 
braudt. Ein eigenes Urtheil haben fie ja doch nicht und 
laſſen fih eben dahin fchieben, wo man fie verwenden will. 

' Fremde bejuchten damals Duito nur fehr felten und 
hielten fich noch weniger dort auf, denn der lange Weg nad 
der nächften Hafenitadt Guajaquil, wohin fie doch wenigſtens 
ſechs bis acht Tage im Sattel bleiben mußten, fehredte fie ab, 
und außerdem war Quito auch feine fo große Gejhäftzitadt, 
um eine Reife hierher unumgänglich nöthig zu machen. Was 
dort erzeugt und nicht gleih an Dit und Stelle verkauft 
wurde, ſchafften die Maulthiercaravanen doch entweder nach 
Guajaquil oder Bodegas, und man brauchte deshalb den be— 
ſchwerlichen und mit fehr vielen Gntbehrungen verknüpften 
Ritt nicht zu maden. 

Nur einige Franzoſen hatten fich dort oben eingentjtet, ein 
Frifeur, der den Damen die neueften und erftaunlichiten 
Friſuren brachte, der frühere Kammerdiener des franzöftichen 
Sefandten, der hier eine Ccuadorianerin geheirathet hatte, 
dann ein franzöſiſcher Schneider, ein englifcher Arzt und ein 
deutfcher Uhrmader. in paar Spanier aus dem alten 
Lande hielten ſich allerdings dort auch noch auf, aber diefe 


23a 


verihwanden in der Überhaupt ſpaniſchen Bevölkerung und — 
ließen fih auch nicht merken, daß fie fid für eine bevorzugte 
Race hielten, während die Franzoſen dagegen das überall zur 
Schau trugen und jelbit der Friſeur fich mit feinem früheren 
Heren, dem Vicomte d'Iſſy, manchmal vermechielte, 

Bon Ouajaquil herauf war ein junger Engländer, ein 
Arzt, gefommen, der einestheils zu wiſſenſchaftlichen Zwecken 
reifte, anderntheil® aber auch aus perfönlicher Neigung die 
Welt ſehen und ihre Schönheit bewundern wollte Don 
. Quito hatte er Dabei zu viel gehört, um dort, doch einmal in 
der Nähe, vorbeiziehen zu können. 

Reich genug mit Mitteln verjehen, um fi nichts ver: 
jagen zu müflen, miethete er ih in Bodegas, wohin er zu 
Waller ging, drei Maulthiere und einen Führer; das flache 
Land war in diefer Jahreszeit noch nicht überſchwemmt, und 
nad einem höchſt interefjanten Ritt an der etwa zwei Drittel 
Höhe des Chimborazo Hin und zwiſchen den übrigen mächtigen 
Gebirgszügen und SKratern dur, erreichte er endlich die 
Hauptitadt des Landes, wohin er eine warme Empfehlung an 
eine ecuadorianiihe Familie hatte. 

Sefior Lopez de Montera — die ganze romanische Kace 
hat eine wahrhaft Eindliche Freude an langen, groß Elingenden 
Namen — war allerdings bürgerlihen Standes, aber Einer 
der reichiten Leute in Quito, mit zwei oder drei jehr ſchönen 
Häufern in der Stadt und zwei großen Haciendad im etwas 
tiefer gelegenen Lande. Er lebte aber mit feiner ganzen 
Familie in Quito — nur fein ältefter Sohn bewirthichaftete 
die Güter, zwei andere, jüngere Söhne befanden fih in dem 
nicht jehr entfernten Lotacungo auf der Hochſchule, und zwei 
Töchter, wirklih ſchöne Mädchen, dad eine von etwa vierzehn, 
das andere von fiebzehn Jahren, Tebten im Haufe. | 

nes, die ältefte Tochter, hatte in der That etwas Impoſantes 
in ihrer ganzen Erjdheinung, und John Wrisbane, wie der 
junge Reiſende hieß, fühlte ich bald jo wohl in dem Haufe, 
daß er den Gedanken und Entſchluß, der ihn Hier in diefe 
Scheinbar abgelegenen Berge geführt, wirklih ſegnete. Drei 
Moden vergingen ihm hier wie faſt eben jo viel Tage, und 
wie das kalte, rauhe Wetter endlich nahließ und die Tage 





232 


warm, ja fait heiß wurden, Alles aber im herrlichſten 
Blüthenſchmuck prangte, da ftiegen ſchon dunkle Gedanken in 
ihm auf, ob er überhaupt feine Reife fortjegen wolle und 
niht am Ende beſſer thäte, hier in. dem reizenden Quito zu 
bleiben und fich feinen eigenen Hausitand zu gründen. 

Ines hatte es ihm angethan, und die unendliche Freundlich— 
feit, oder vielmehr Höflichkeit, mit welcher ihn Lopez de Montera 
jelber behandelte, machte ihn jeines Glückes nur noch um fo 
ſicherer. Er kannte freilih den Charakter diefer ſüdamerika— 
niſchen Sefiores noch nicht genügend, daß man nämlid auf 
freundlihe Worte und jelbit feſte Berfprehungen bei ihnen 
nicht zu viel Werth legen darf. Der deutihe Ehrenmann 
fühlt ſich — fobald er wirklich einmal etwas feit veriprocdhen 
hat, auch eben fo feft durch Pflicht und Gewiſſen daran ge 
bunden; der Südamerifaner aber betrachtet ein ſolches Ver— 
iprehen als eine nicht gut zu umgehende Höflichkeit, die dem 
Augenblid genügt, von dem Andern aber, wenn er nicht die— 
jelbe Höflichkeit außer Acht laſſen will, nie wieder erwähnt 
werden darf. 

So auch die faft ftete Redensart bei einem Beſuch: „Das 
ganze Haus jteht zu Ihrer Dispofttion”, die ich aber 
Niemandem rather möchte wörtli zu nehmen, wenn er nicht 
bald das Gegentheil finden wollte. 

Da übrigend Quito in damaliger Zeit nicht ein einziges 
Hotel beſaß, fondern nur eine elende Poſada, die wohl 
Maulthiertreibern ein Unterfommen bieten mochte — Io war 
es überall Sitte, daß jeder Fremde, der einen Empfehlungs= 
brief an irgend eine Familie brachte, auch dort ohne Weiteres 
einquartiert wurde. Wrisbane hatte denn auch dort ſchon die 
ganze Zeit in einem allerliebften, nah dem Garten zu ge 
legenen Stübchen gehauft und fchwelgte fürmlih in dem 
täglichen und ungeftörten Umgang mit dem jungen Mädchen, 
das jeinem Herzen, wie er fi nicht verhehlen Fonnte und 
mochte, auch mit jeder Stunde näher trat. Was er einmal 
ſpäter an Diefer abgelegenen Stelle, wenn er fie wirklich zu 
feiner Heimath machte, treiben wollte, jorgte ihn noch nicht 
und fand fi ſpäter. Er felber bejaß genügend Vermögen, 
um bier in dem außerordentlich billigen Leben eine Zeit lang 


29 


cD 


aushalten zu können, und fpäter, mit dem Land jelber erſt 
mehr vertraut, fand fih dann auch eine lohnende Beihäftigung 
für ihn — oder er fehrte eben, mit feiner Frau, nach der 
Heimath zurüd. 

Heute früh hatte er Briefe nah Haufe gejchrieben, die 
der nächfte, von dem amerikanischen Geſandten abgeſchickte 
Correo mit nah Ouajaquil nehmen follte, und ftieg dann 
hinunier in das Frühftüdszimmer, wo er aber die Damen, 
die jonjt um diefe Zeit Schon ſtets aus der Mefje zurüd- 
gekehrt waren, heute nicht fand. Nur Don Julio, wie Seftor 
Lopez in jeinem Haufe ſowohl, ald auch von feinen näheren 
Freunden genannt wurde, jaß unten im großen Saal am 
offenen Fenfter und hielt die Zeitung vor fi, las aber nicht, 
denn da es im Lande felber augenblicklich Feine, wenigſtens ſchon 
ausgebrochene, Revolution gab, jo palfirte auch nichts Be— 
fonderes. Er trommelte nur mit den Fingern der Yinfen 
Hand auf dem Tenfterbreit und pfiff dazu leife, wenn aud) 
nicht ganz im Tact, ein Fleined quitonijches Lied. 

„Buenos dias, Senor!“ grüßte Wrisbane feinen freund: 
lichen Wirth, der mit der größten Liebenswürdigfeit den 
Gruß ermiderte. „Aber,“ jebte er dann etwas enttäufcht 
Hinzu, während er fih rings in dem weiten Gemach umjah, 
„wo find denn heute Morgen die Señoritas?“ 

„Die Damen,’ erwiderte achjelzudend Don Julio, „werden 
Sie heute Morgen noch eine halbe Stunde entihuldigen 
müflen, Don Juan, denn es ijt heute San Lazarusmefje, wo 
für die armen Ausfäbigen hier in Quito gebetet wird, und 
das dauert gewöhnlich etwas länger.‘ 

„Haben Sie denn jo viel hier?’ frug Wrisbane überraſcht; 
„ich glaubte, in dieſer gefunden Luft könnte eine derartige 
Krankheit gar nicht auffommen, und wunderte mich ſchon, daß 
nur ein Hospital dafür beſtände.“ 

„Wir haben doch in unferem Hospital," ſagte Don Julio, 
„etwa achtzig bis Hundert ſolcher Unglüdlichen, die ‚freilich 
aus dem ganzen Staat hierherfommen. Im Lande leben aber 
troßdem noch Einzelne zeritreut, die ihre Krankheit nicht ges 
meldet haben und fih vor dem eingefperrten Leben ſcheuen.“ 








234 


„Und werden die Kranken volllommen abgejondert ge- 
halten 2‘ 

„Si gewiß — ftreng; fie dürfen mit feinem Menſchen in 
Berührung kommen, und felbit ihre Wärter und Auffeher 
find von der Welt abgeichlofien. Wer einmal den innern 
Raum jenes Hospitals betritt, darf ihn nicht wieder ver- 
laſſen.“ 

„Und ſind die Leute dort wenigſtens gut verpflegt und 
eingerichtet?“ 

Don Julio zuckte mit den Achſeln. — „Quien sabe,“ ſagte 
er — „wer weiß es? — Sie ſollen jede Pflege und Be— 
quemlichkeit haben, wie es heißt, aber eine Reviſion von Ge— 
richts wegen iſt natürlich nicht ſtatthaft, denn der Beamte 
würde dann ſelber genöthigt ſein dort zu bleiben. Uebrigens 
ſcheint es den Leuten gut zu gehen, wovon wir uns auch 
ſelber — wenn Sie Freude daran finden — überzeugen 
können.“ 

„Aber wie? wenn wir den Raum nicht betreten dürfen.“ 

„Heute, am Feſt des heiligen Lazarus,“ ergänzte Don 
Julio, „iſt es in Quito Sitte, den armen unglücklichen Kranken 
einen Beſuch, wenigſtens außen an ihrer Mauer, abzuſtatten. 
Sie laſſen dann von oben Körbe nieder, und man wirft ihnen 
kleine Geſchenke, wie Lebensmittel und Getränke, dort hinein, 
die ſie nachher nach oben ziehen.“ 

„In der That? Und iſt dieſe furchtbare Krankheit wirklich 
vollkommen unheilbar?“ 

„Vollkommen — bis jetzt hat die Medicin wenigſtens 
noch kein Mittel gefunden, dieſen hartnäckigen Ausſchlag zu 
eilen.“ 

„Aber ſo raſch ſteckt er doch gar nicht an!“ 

„Darüber ſind die Anſichten getheilt. — Einige behaupten, 
nur bei ab und längerer Berührung, zum Beiſpiel bei 
einem längeren Handgeben, jo dag fid die Hand erwärmt, 
Andere aber find, mit unferer Regierung, der Meinung, daß 
ihon der Athemzug im Stande wäre, die Krankheit in das 
Blut zu führen, und deshalb auch dieſes jtrenge Verbot, die 
Schwelle jenes Hospitals zu betreten. i 

„So weiß man gar nicht aus dem Innern deſſelben?“ 


235 


„Nur Gerüchte, die im Volke umlaufen und allerdings 
wohl ein wenig phantaſtiſch gefärbt fein mögen. Nach diefen 
wäre das Leben diefer anjcheinend unglücklichen und für immer 
abgeſchloſſenen Menfchen ein Höchft intereſſantes und lebendiges, 
ja ſogar pifantes; man erfährt nur eben nie etwas Genaues 
darüber, und Einzelne, die verfucht Haben, dort einzudringen, 
find dort behalten worden. So erzählt man fih au, daß 
fih ein Ddeutfcher Jude dort im Innern befände, ja fogar 
Einer Ihrer Landsleute fol Inſaſſe jener furhtbaren Mauern 
fein.“ 

„Ich habe auch etwas Derartiges gehört,‘ ſagte Wrisbane, 
mit dem Kopfe nidend — „wäre aber eiwas daran, fo würde 
der engliihe Conſul die Sache jhon in die Hand genommen 
Haben. ———— 

Don Julio zudte mit den Achſeln. „Erſtlich ift es un- 
gewiß,‘ jagte er, „ob er überhaupt etwas davon weiß, dann 
aber würde er auch nicht das Geringſte gegen die Geſetze des 
Staates ausrichten können, denen fih die eigenen Bürger 
fügen und unterwerfen müllen. Ein Fremder genießt hier 
den nämliden Schuß, den wir haben, übernimmt aber auch 
die nämlihen Verpflichtungen den Gefegen gegenüber und darf 
Keine Borrechte beanipruchen. — Aber da kommen die Damen,” 
und fich der in den Garten führenden Glasthür zumendend, 
ſah Wrisbane, wie die Drei Damen, Donna Sabella, Die 
Mutter, mit ihren beiden Töchtern Ines und der jüngeren 
Candelaria, die aber gewöhnlich im Haufe nur noch Chiquita, 
die Kleine, genannt wurde, in Begleitung eine® Herrn aus 
der Kirche kamen. 

Don Pablo, wie der junge Ecuadorianer im Haufe bei 
feinem Bornamen genannt wurde, — er hieß Arquiza — 
wohnte in Guajaquil und war in Gefchäftsangelegenheiten, wie 
er fagte, nad) Quito gefommen. Dieſe Fonnten indeflen nicht 
fo dringender Art fein, denn er hatte fehr viel Zeit und 
verbrachte diefe — zur nicht befondern Freude Wrisbane's — 
faſt ausihlieglih in Sefior Lopez’ gaftlihem Haufe, mit dem 
feine eigene Familie ſchon jedenfalls länger befreundet fein 
mußte. Die Damen behandelten ihn wenigitens in dieſer 
Art, ſchickten ihn Wege, ließen ſich von ihm begleiten und be- 





4 





236 


trachteten ihn als eine Art von Factotum, während er ſich 
dem Allen mit einer gewiſſen Gutmüthigkeit, aber auch Nach— 
läſſigkeit fügte. 

Es war ein ächter ecuadorianiſcher Ariſtokrat, elegant in 
ſeinem Aeußern, mit ſtets ſauberer Wäſche, aber nicht immer 
ſo ängſtlich gewaſchenen, wenn auch ſehr weißen Händen — 
vornehm in ſeinem Weſen, mit einem gewiſſen Sichgehenlaſſen. 
Er ſprach etwas Franzöſiſch — ſpielte die Guitarre und 
ſchlecht, aber ſehr häufig Clavier, und ſang ein paar 
ecuadorianiſche Lieder dazu. Außerdem ritt er vortrefflich 
und hielt einige ſehr gute Pferde, womit er dann Allem ent— 
ſprach, was man nur von einem ecuadorianiſchen Caballero 
verlangen konnte — und auch wirklich verlangte. 

Don Pablo war noch ein etwas „grüner Burſche“, wie 
man in den Vereinigten Staaten ſagen würde — ein wenig unreif. 


Er hatte erſt, obgleich ſchon einundzwanzig Jahre alt, nur einen 


dünnen Flaum an der Oberlippe, an dem er jedoch mit Vor— 
liebe zupfte; aber er wußte dennod mit Sefioritas umzugehen 
und wurde au, wie es fchien, von dieſen gern gejehen. Sohn 
Wrisbane hatte ihn dabei in vielleicht nicht ganz unbegründeten. 
Verdacht, daß er der Señorita Ines mehr Aufmerkſamkeit 
erweije, als ihm felber angenehm war — aber etwas Ernft- 
liches brauchte er trotzdem ſchwerlich zu befürchten; der Burſche 
fonnte ja kaum majorenn fein und wurde auch im Haufe noch 
mehr wie ein Knabe als ein erwachferer Mann behandelt. 
Vebrigend fand er ihn überall in feinem Wege, noch dazu, 
da er die Damen aud) ftet3 in die Mefje begleitete, und John 
Wrisbane beſchloß deshalb, die nächſte, nur irgend pafjende 
Gelegenheit zu benußen, um Ines in aller Form feine 
Neigung — die fie aber Schon lange errathen haben mußte, 
zu erflären und bei ihren Eltern um fie anzuhalten. Dann 
gewann er ein Recht auf ihre Gefelfchaft und wollte ſich 
den faden Gefellen nachher fon fern genug halten — darauf 
durfte er fich verlafien. 

Die Damen famen, wie gefagt, gerade aus der Meile, 
und da in Quito das fait in ganz Südamerika geltende 
Geſetz, fi in der Kirche vollkommen ſchwarz zu Heiden, nicht 
jo ſehr Scharf und genau wie in Chile und Peru genommen 


237 
wird, fo trugen fie allerdings dunkle Roben, aber doch von 
fchwerer Seide, Dabei wußten fie, wenn auch nicht auffällig, 
doch in ſehr geſchickter Art manchen kleinen Shmud und Tand 
anzubringen, der, wenn er auch nicht zum Gebet gehört, doc 
immer gern gefehen wird, und dem lieben Gott deshalb auch 
nicht mißfallen konnte. 

„Arme Menſchen,“ fagte Donna Iſabella, die Mutter, die 
aber noch in der vollen Blüthe ihrer Jahre jtand und kaum 
fo ausſah, als ob fie eine erwachſene Tochter haben könne — 
ald fie in’® Zimmer trat, „poveros leperos — daß ihnen 
der Herr gnädig fein möge!" Und mit einem frommten 
Seufzer legte fie ihre Mantille ab und ordnete ſich vor dem 
großen Spiegel die üppigen ſchwarzen Haare. 

„Ah, Don Juan," redete Ines Freundli den jungen 
Engländer an, der ebenfall® nur mit jeinem Vornamen in 
der Familie genannt wurde, „ſchon ausgeihlafen? Ach, Lieber 
Gott, fagte fie dann fjeufzend, aber doch mit einem »ver- 
ftedten Lächeln, das ihr allerliebit ftand — „ſo ein unglüd- 
feliger Ketzer weiß ja gar nichts von der Wohlthat des Gebet3 
und kennt fie nicht. Wir werden noch große Mühe und 
Arbeit mit Ihnen haben, Sefior, bi wir Sie auf den 
richtigen Pfad und von Ihren Irrwegen abbringen. Nicht 
einmal heute find Sie in der Mefje gewejen, wo das Wohl 
fo vieler unglücklichen Menjchen an unferem Gebete hängt!‘ 

‚Und Haben Sie Schon je Einen diefer Kranken damit 
eurirt, Señorita?“ Tächelte John Wrisbane, defjen Blicke 
mit Entzüden an dem wirklich wunderbar fehönen Mädchen 
hingen. 

„Oh der Sünder!” rief aber die Mutter, die Hände zus 
ſammenſchlagend aus; „nicht ihre Körper wollen wir retten, 
fondern ihre Seelen, damit diefe, wenn fie aus der befledten 
Hülle jteigen, zu Gottes Reich eingehen und für ihre namen- 
lofen Leiden auf Erden getröftet werden.’ 

Sohn Wrisbane wußte ſchon aus Erfahrung, daß dies 
ein noli me tangere-Capitel war, dem er ſich vorfichtig fern 
Halten mußte, wenn nicht die ganze Familie „wie ein Mann‘ 
gegen ihn aufitehen follte Ueber Religion durfte er, als 
Proteſtant, nicht mit den Inſaſſen des Haufes — einſchließlich 





238 


ded unangenehmen Don Pablo, jprehen — ja, jelbft die 
Dienerfchaft hatte Schon einmal da gegen ihn Partei genommen, 
und er Hütete fich feit der Zeit wohl, in eine ähnliche Falle 
zu gehen. So raſch und gejchidt als möglich brachte er des— 
- halb das Geſpräch in eine andere Bahn, und nur die Frage: 
ob viele Sefioritad in der Meſſe geweſen wären und fehöne 
Toiletten gehabt hätten, genügte dazu vollfommen. Das 
war ein Gapitel, das fich nie erſchöpfte, weder in den Cordilleren 
Amerikas, noch auf dem europäiſchen Continent, und alles 
Andere war bald darüber vergelien. 

Der Zweck ihres heutigen Kirchenbeſuchs und Sonder: 
gebets — denn in die Mefje gingen fie jeden Morgen, den 
Gott werden ließ — kam aber doch wieder nad) einiger Zeit 
zu Tage. Die armen „Ausſätzigen,“ mit Lazarus als Vorahn, 
waren heute, an dem Feſt ihres Heiligen, die Hauptperjonen, 
und ſchon jest wurden Anftalten getroffen, um glei nad 
Tiſch einen Borrath an LXebensmitteln ſowohl wie anderen Ge— 
ſchenken mit hinaus zum Hospital zu nehmen und dort an die 
Unglüdlichen zu vertheilen. Es war das auch ein Feſttag 
für Quito, und die Damen befonder3 erfcheinen auf der Pro- 
menade in gefuchter Toilette und fegen einen gewiſſen Stolz 
darein, ſich Hier, wo die Gaben auch öffentlih verabreicht 
werden mußten, nicht knauſerig zu zeigen. 

Die Zeit bis dahin verging auch raſch. Nach dem Früh— 
ftüd — den unvermeidlihen Pablo dabei — braden fie auf 
und ſchritten langſam und vorfichtig durch die entjeblih uns . 
jauberen Straßen der Stadt, den fteilen Hang hinan, der 
nad dem obern Kamm derjelben führte, und fahen bald die 
‚ziemlich hohe gelbe Mauer vor fi, die das Hospital oder 
beſſer Gefängniß der Unglüdlichen umſchloß. 


239 


2 


+ 


Vor dem Hospital. 


Schon unterwegd bemerkte die Fleine Geſellſchaft, wie ge: 
pubte Menſchen von allen Seiten jener Höhe zuftrömten, denn 
wer auch ſelber gerade Feine Gaben brachte, wollte doch 
wenigſtens die vielen Leute fehen, die fich alljährlich hier ein- 
fanden, oder auch vielleiht einen ſcheuen Bli auf die un- 
glüdlihen Menſchen werfen, die, von der Geſellſchaft getrennt, 
wenn auch faft mitten in einer volfreichen Stadt, ihr Leben 
da einfam und verlaffen vertrauern mußten und fih nur heute, 
am Tage ihres früheren Leidensgefährten und jebigen Schub: 
patrond, an der Mauer zeigen durften. 

Und doch kommt bei Bielen ſelbſt hier eine gewilje Scheu 
hervor. Konnten fie nicht Doch vielleicht, fogar in fo großer 
Entfernung, von der furchtbaren und unheilbaren Krankheit 
angejtedt werden, um dann, aus ihrer Familie gerifjen, für 
immer jenen unheimlihen Räumen verfallen zu fein? Es lag 
aber auch wieder ein eigener Reiz in diefer, wenn auch nur 
eingebildeten Gefahr, und die jungen Damen drängten fid) 
troß allen furdtfamen Bliden, die fie nach der düftern Mauer 
warfen, doch immer näher Hinan, um das Grauen, daß fie 

fühlten, vol und ungeſchwächt in ſich aufzunehmen. 
\ Gleich unterhalb der Mauer lief ein breiter, gut gehaltener 
Meg hin, den man aber nicht gut Fuhrweg nennen fonnte, 
da e& damals noch, feinen einzigen Wagen oder fein Fuhrwerk 
in ganz Duito gab. Später führte der ruſſiſche Gefandte 
ſehr zum Staunen der Bevölkerung eine Kutſche nad Quito, 
die aber au, in Stüden genommen, auf den Rüden von 
Maulthieren vom Hafen Guajaquil heraufgefhafft werden 
mußte und in der Stadt felber nur einige Straßen befahren 
konnte, im Lande felber aber gar nicht zu verwenden war, da 
dieſes nur von tief in den weihen Boden getretenen Maul: 
thierpfaden durchkreuzt wurde, Sp tief zeigten fich diefe hier 








240 


und da, daß der Reiter feine Füße in die Höhe ziehen mußte, 
um mit diefen nicht rechts und links den Boden zu ftreifen. 
Mit einer Kutfche ließ fich deshalb in ſolchen Wegen nichts 
ausrichten, während ihr Fortſchaffen auf den ſchmalen Berg: 
pfaden außerdem zur Unmöglichkeit wurde, 

Die Oabenaustheilung hatte übrigens, als Don Julio 
mit feiner Familie und Begleitung wie den die Geſchenke 
tragenden Peons den Plat erreichte, ſchon begonnen, und dem 
jungen Engländer bot fi in der Scene, der er jebt bei- 
wohnte, ein höchſt interefjanter Anblick. 

Oben über die Mauer fchauten die mit der Lepra be: 
hafteten Kranken da und dort nur mit dem Kopfe — an 
manchen Stellen auch mit dem Dberförper heraus, und die 
Stärkfiten oder am wenigſten Behafteten ließen dabei an vielen 
Stellen vermitteljt eines Geiles Körbe nieder, in welche die 
unten Stehenden ihre Gefchente bargen oder meiſt hinein- 
warfen, um nur nicht zu berühren, was von dort her: 
ausfam. 

Bei vielen der Behafteten ließ fi auch weder am Geſicht 
noch an den Händen das Geringſte bemerken, da diefe furchtbare 
Krankheit keineswegs gleich den ganzen Körper erfaßt, ſondern 
nur erjt einen Theil, und von diefem dann langjam, aber 
fiher weiter frißt. Einzelne freilich trugen ihr Seficht ver: 
hüllt, daß nur die Augen aus dem umgehangenen Tuch her: 
ausblitten, und Diele warfen nur manchmal einen rajchen 
Blick nad der unten verfammelten Menge und tauchten dann 
ſchnell und fcheu wieder zurüd in ihr Elend. 

Mertwürdig war e3 dabei, wie fi) bejonders die ärmere 
Bolfsklaffe — hier faft durchgängig Indianer, in Lumpen 


gehült und mit Schmuß bededt, — daran betheiligte, den 


armen Ausgefchiedenen ihr kleines, und wenn auch nod jo 
beſcheidenes Scherflein zu jpenden. Wenn es auch nur eine 
Kupfermünze war, ein Stück Brod oder eine Stange dulces 
(Süßigkeiten, die in Quito viel verfertigt werden) — aber 
etwas brachte Jeder. Selbſt die Kinder drängten fich herzu, 
um ihre Gaben in den Korb zu werfen, und zogen fich danır 
Scheu vor der gefürchteten Nähe wieder zurüd. 

Die Leprafranken da drinnen fchienen aber troßdem guter 





— Eine Famitiengerfihte 


* von 
ö ——— — Balleſtrem % 
R @ bliothek — unſere Franen. N von om 
Se — I 18 Band.) 
Dininhurformat Höcsft eleg. ausgeſtattet. Brad. eirea 4. art, 
SU NM Goldſchnitt circa 5 Mark, * 
Die Verfafferin der obigen Famifiengefchicte, dung Ale 
i reichen literariſchen Arbeiten, beſonders durch den unlängſt erſchienenen 


Roman Lady Meluſine“, der ſo großes Aufſehen erregte, hinlänglich 
en befannt, ‚bietet eine eben ſo — als ME 


dn — Inhalt zu —— die man einer ——— 


ein er Tochter ruhig anvertrauen = # 


don es 
Marie ad 


Suotioten — Dale Mae — F 





234 63° 
nr, ja 


Yo ber 
nt * 465 


„Alima! Alima!“ rief die zornig aufkreiſchende Stimme 
der jungen, wie es ſchien, etwas ſehr gereizten Dame hinter 
ihr her, aber Alima, wenn ſie den Ruf hörte, achtete nicht 
darauf, und ſich vergeſſend, trat Willemina mit zorngeröthetem 
Geſicht in die Thür, ala ob fie der Dienerin: folgen wolle, 
ſchrak aber ſcheu zurüd, als fie Everhard erfannte, und ſchob 
die Thür raſch wieder in’d Schloß. 


Ban der Roeſt war ebenfalls Zeuge der Meinen Zwiſchen⸗ 
ſcene geweſen, und wenn er auch kein Wort dazu ſagte, 
ſchüttelte er doch leiſe vor ſich hin mit dem Kopfe. Er mochte 
aber Derartiges wohl ſchon gewohnt ſein, es fam wahrſchein— 
lich häufiger im Hauſe vor, als ihm ſelber lieb ſein konnte, 
und nur ſein Blick flog forſchend nach Everhard hinüber. — 
Vielleicht wollte er ſehen, welchen Eindruck es auf dieſen 
mache. Everhard aber leerte ruhig fein Glas, und es wies 
der auf den Tiſch jtellend, jagte er: „Famoſer Genevre, ich 
wollte, ich fönnte einen Poſten davon bekommen!“ 

„Dielleiht hab’ ih genug, um Ihnen noch etwas ab- 
zulaſſen,“ jagte van der Roeſt, „aber da, Everhard, ift der 
neuefte Amjterdamfhe Courant gerade angefommen. Ber: 
treiben  Gie ſich die Zeit einen Augenblick, ich bin gleich 
zurück,“ und ſeinen Blechkaſten mit den Papieren aufnehmend, 
ſchritt er damit in ſeine Stube hinüber. 

Everhard nahm die neue Zeitung, faltete ſie auseinander 
und durchflog ſie mit den Augen; aber er ſah die Buchſtaben 

mal, viel weniger denn daß er ihren Sinn verſtand 
oder ſich nur dafür interaffirt hätte. Durch das hintere 
Portal glitt eine lichte Geſtalt, es wee⸗EStrig, die hinein zu 
ihrer jungen Herrin wollte Everhard vertrat ihr den Weg, 

„Was iſt da vorgefallen, Stria?“ 

„Wo, Tuwan?“ ſagte das Mädchen und warf einen 
ſcheuen Blick nach der Thür hinüber. 

„Da drinnen mit der Nonna. Was hatte Alima?“ 

Stria zögerte einen Moment mit der Antwort, aber ihre 
nicht unſchönen Züge zuckten erbittert zuſammen, und ſie ſagte 
finſter: 

„Es wird alle Tage ſchlimmer, und wenn das ſo fort 

Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ıc. 30 


466 


geht, Taufe ich ebenfalls davon. Mit der Nonna ift es nicht 
mehr zum Aushalten.“ 

‚Und was hat fie gethan?‘ 

‚Was fie gethban hat? Alima aus Bosheit mit einer 
Nadel jo tief in den Arm geftochen, daß das arıne Ding jekt 
nit vor Schmerzen weiß, wo auß oder ein. Wenn fie es 
mir jo macht,“ und ihr Auge blikte dabei in unheimlichem 
Teuer — „ſo —“ 

„Aber wo iſt Alima ?’' 

„In ihrer Kammer; doch ſowie fte fich erholt hat und den 
Arm wieder rühren kann, um ihre paar Sachen zu paden, 
will fie fort. Und wenn fie fie in’3 Gefängniß fteden, fo 
ilt fie Doch noch immer beſſer daran, als hier bei dem — 
Teufel.‘ 

„Wie Tann man fie in's Gefängniß fteden? fie hat nichts 
verbrochen.“ 

„Bah!“ ſagte Stria verächtlich, „fragen die Weißen 
danach? Wenn ein eingeborener Diener ſeiner Herrſchaft 
davonläuft, weil ihn dieſe arg mißhandelt oder zur Ver— 
zweiflung getrieben haben mag, ſo wird er in den Kerker ge— 


ſteckt, oder — wenn es ein Mann iſt, zu Strafarbeiten an 
der Straße verwendet. Wer fragt denn nach Gercechtigkeit 
für unfern Stamm — es ift ja nur ein „Schwarzer“ 


jagen fie.‘ 

„Kann ih Mina einmal ſprechen?“ jagte Everhard 
plöblih, der eine ganze Weile mit zufammengebifjenen Lippen 
til und nachdenkend vor fich nieder gejehen. 

„Alima? jebt? nein,‘ jagte Stria ſcheu. „Die Nonna 


fommt den Augenblid aus ihrer Stube heraus — auch 
Mynheer — es wird in wenigen Minuten gegefjen, und wenn 
Sie dann bei Alima wären? — fie hat's ſchon fo gerade 


Ihleht genug!‘ 

„Und wann fann ich fie ſprechen, Stria?“ fuhr Everharb 
bewegt fort, „id muß ihr etwas jagen — ich meine es gut 
mit ihr, ih gebe Dir mein Wort, aber — id muß felber 
mit ihr reden, und wenn es aud nur wenige Minuten 
wären.‘ 

Stria ſah ihm feft in’ Auge Was wollte der weiße 


467 


Tuwan von dem Mädchen der Berge? — Aber er war immer 
gut gegen die Dienftleute im Haufe gemwejen, und fein eigener 
Burfche, der feinen Bendi fuhr, und den fie ſchon lange 
danach in der Küche gefragt, wenn er mandhmal den ganzen 
Abend bei ihnen ſaß, fonnte ihn nicht genug loben. Er follte 
gar nit wie ein anderer Weißer fein, fondern feine 
malayiichen Diener genau jo behandeln, als ob er fie eben- 
falls für Menſchen bielte. 

„Gut,“ fagte das junge Mädchen nah einer Pauſe, 
„ſchlechter kann e8 dem armen Ding nirgends gehen, und fie 
hat's nicht verdient. Wenn Sie heut Abend mwegfahren, 
biegen Sie in die nächſte Gaſſe links ein, und dann an der 
Ede wieder links — Sidin“ (jebte fie halb erröthend Hinzu, 
Everhard’3 Burſchen meinend) „kennt ſchon den Weg, der 
hinten an den Garten führt. Ich will dann mit Alima am 
hintern Thor fein, dort fommt Niemand hin.‘ 

Sie wandte fih raſch ab, denn rechts klinkte ein Thür— 
ihloß, und wie ein Wieſel glitt fie der Thür des Fräuleins 
zu, die fie öffnete und Hinter der fie verſchwand. 

Ban der Roeſt fam zurüd und ging noch einmal zum: 
Genèvre — es mochten eine ganze Menge von Dingen fein, 
die ihm durch den Kopf fuhren, und der Genenre fühlt in 
Indien jo gut da3 Blut, wie bier bei uns, oder — bringt 
uns wenigitens in eine andere Stimmung. 

Sebt ließen aber au die Damen nicht länger auf fi 
warten, und Willemina bejonders begrüßte Everhard mit ihrem 
freundlichiten Lächeln. 

„Sie find jo lange ausgeblieben,“ jagte fie, indem fie 
ihm die Hand entgegenftredte, „wir hatten jchon gefürchtet, 
Sie würden fi) in dem langweiligen Buitenzorg ganz nieder— 
gelafjen haben.‘‘ 

„And finden Sie Buitenzorg fo langweilig, mein Fräulein?“ 
fagte Everhard lächelnd — „ih muß Ihnen geftehen, ich habe 
mir mit Freund Beefer in der That Wohnungen angefehen 
und ging mit dem Plane um, dort einen längeren Aufenthalt 
zu nehmen !'' | 

„Beeker?“ ſagte Willemina, ihn rajch anjehend, „was 

30* 


468 


ift da3 für ein Beefer? — Der Herr, der eine Schwarze 
geheirathet hat?“ 

„Er hat eine Eingeborene zur Frau —“ 

„Und das iſt Ihr Freund?” 

„And weshalb nicht? er wird allgemein als ein Ehren- 
mann anerkannt.‘ 

„Es ift möglich, ermwiderte Willemina kalt, mit den 
Achſeln zudend, „aber ein Umgang wäre mit ihm und feiner 
Yamilie Doch nicht denkbar. So viel ich weiß, verkehrt feine 
anftändige holländiſche Familie mit ihm — wenigſtens nicht 
mit feiner Frau oder — Maid. Ich weiß nicht einmal, ob 
fie wirklich mit einander verheirathet ſind.“ 

„Willemina!“ fagte verweilend der Vater. Everhard aber 
erwiderte: „Die DVerfiherung kann ich Ihnen geben, mein 
liebe8 Fräulein, und noch dazu in einer Khriftlichen Kirche, 
alſo allen Anforderungen genügend, und ich habe faum je 
eine reizendere, liebenswürdigere Eleine Frau gejehen, als Me— 
vroum Beeker iſt.“ 

„Mevrouw,“ lächelte Willemina und warf die kleine Unter— 
lippe vor — „aber ich glaube, das Eſſen ſteht auf dem Tiſche, 
Papa!“ 

Das Geſpräch war ihr keinenfalls angenehm und ſie ſchien 
böſe auf Everhard geworden. Wie ungeſchickt, ja ungezogen 
von ihm, eine „Schwarze“ in ihrer Gegenwart Mevrouw 
zu nennen und ſie ſogar mit anderen weißen Frauen zu 
vergleichen. Ueberhaupt kam ihr der junge Mann ſchon ſeit 
einiger Zeit ſo kalt und zurückhaltend vor, und ſie beſchloß, 
ihn ein wenig fühlen zu laſſen, daß ſie — eine van der Roeſt 
ſei und von ihm Aufmerkſamkeiten erwarte, wenn er es nicht 
mit ihr verderben wollte. Sie war bis jetzt zu nachſichtig 
mit ihm geweſen, aber — er ſollte ſchon wieder zahm werden. 

Sie ging allein voran zum Tiſch, Everhard bot Mevrouw 
den Arm, und da auch jeßt gerade der noch im Haufe mohnende 
Gapitain eines holländiihen Schiffes, das für van Roeſt fuhr, 
dazu Fam, fo fette ſich die Kleine Geſellſchaft ohne Weiteres 
zum Eſſen nieder. 

Hier führte aber der Capitain fait einzig das Wort — 
er war erft heute Morgen eingelaufen und hatte über Fracht 


469 


und Ladung ſowohl, wie über die jetzigen japanifchen Ber: 
hältnifje, woher er gerade kam, jo viel zu erzählen, daß van 
der Roeft jelber an gar feinem andern Gefpräd Theil nahm — 
war er doch auch bejonderd bei dem Allen intereffirt. — 
Leider konnte der Gapitain gar feine Auskunft über das, dem 
Gerücht nah von Piraten überfallene Hinefiihe Schiff geben, 
da der Zeit nah ſchon lange mußte eingetroffen fein. Er 
hatte unterwegd wohl verfchiedene Fahrzeuge gejehen, aber 
feind angejprohen, und wußte deshalb von gar nidis. Nur 
erjt hier im Hafen war ihm erzählt worden, daß Capitain 
Boer, wie der Führer jener Barke hieß, „Unglück“ gehabt 
haben jollte, 

Everhard ſaß wie gewöhnlich bei Tifche zwiſchen Mevrouw 
und Willemina; dieſe ſchien fich aber jo beſonders für die 
Erzählungen des Seemannes zu intereffiren, daß fie fein Auge 
von ihm verwandte und auf Everhard’S zeitweilige Anreden 
nur immer kurze, oft fogar zerjtreute Antworten gab, bis ſich 
der junge Mann zulebt nur allein mit Mevroumw bejchäftigte. 
Aber auch er war zerfireut — feine Gedanken meilten wo 
anders, und oft drehte er faft unmwillfürlih den Kopf nad 
den Nebengebäuden hinüber, wo die Dienerfhaft ihre Wohnung 
hatte, als ob er von dort her Jemanden erwarte — was aber 
natürlich Niemand bemerfte. 

Endlich wurde die Tafel aufgehoben, der Kaffee gebradit, 
und die Herren ſetzten fich noch eine Zeit lang auf die Beranda, 
um den wunderbar ſchönen Abend bei einer Cigarre zu ge 
nießen, während fich die Damen eine Fleine Weile mit ihrer 
Toilette bejchäftigten, um dann etwas fpäter zu irgend einem 
„Receptions-Abend“ in einer andern Vorſtadt zu fahren. 

Jetzt rollten endlih die Wagen vor — der Gapitain 
hatte den feinigen ebenfalls beftellt, um noch einmal zu einem 
der ship chandlers, wo fi) gewöhnlich die verjchiedenen 
Capitaine trafen, in die Stadt zu fahren — Everhard's Bendi 
hielt ſchon vor dem Haufe. 

„Bahren Sie mit zu Roſſelaers, Everhard?“ frug ihn 
der alte Herr, al3 die Damen eben in höchfter Toilette durch 
den Saal raufchten. 

„Nein, Mynheer,“ antwortete der junge Mann ausmeichend, 


470 


‚ich fühle mich Heut Abend doch zu abgeipannt und will erit 
einmal nad Haufe. Es it übrigens möglih, daß ich fpäter 
nachkomme.“ 

„Schön — dann auf Wiederſehen!“ 

Everhard half den Damen noch in das zweiſpännige, 
ſehr elegante Fuhrwerk, und ging dann langſam zu ſeinem 
eigenen Cabriolet. 

„Sidin, Du weißt ja hier in der Nachbarſchaft Beſcheid, 
wie?“ 

„Gewiß, Tuwan — wo?“ 

„Biege in der erſten Gaſſe links ein und fahre mich 
hinter den Garten von van der Roeſt. Haſt Du mich ver— 
ſtanden?“ 

„Saya, Tuwan!“ ſagte Sidin, indem er ſeinen Herrn 

aber doch erſtaunt anſah. Was wollte der hinter dem 
Garten, wo er eben vorn heraus fuhr; denn wenn es nichts 
Heimliches war, hätte er das ja viel bequemer haben können. 
Aber derartige malayifhe Diener find nicht gewohnt, nad 
einem Grunde zu fragen, geht fie auch nichts an, und als fein 
Herr endlich eingejtiegen war — dieſer zögerte nämlich, bis 
van der Roeſts und der Gapitain etwa einen Vorſprung von 
zweihundert Schritt hatten — rafjelte das leichte Fuhrwerk raſch 
jeiner etwas außergewöhnlichen Beitimmung entgegen. 
Es war indeſſen ſchon völlig dunkel geworden, nur im 
Diten ftieg eben die Mondesſcheibe empor und verbreitete noch 
ein mattes, ungemwifjes Licht, als der Kleine Bendi an der 
Hinterforte hielt und Sidin fragend den Kopf zurüdwandte, 
was „Tuwan“ jebt bejchließen würde. 

Everhard war aus dem Wagen geiprungen und jchritt der 
Pforte zu, die eigentlich ſtets verſchloſſen gehalten wurde, jebt 
aber offen ftand. Wie er jedoh den innern Raum betrat, 
jah er unfern davon zwei weibliche Geftalten ftehen, und ala 
er auf fie zueilte, redete ihn ſchon Stria an: 

„Wir haben Wort gehalten; Alima wollte erjt nicht, aber 
mit mir ift fie zuleßt Doch gegangen. Es ift ein braves 
Mädchen, Tuman — jagen Sie ihr nihts Böſes — Ste iſt 
aunglüdlih genug.‘ 

„Und wenn ich ihr nun etwas recht Gutes fage, Stria?“ 


Ari 


„Allah wolle es geben!" feufzte die Maid; „aber was 
fann es jein, was die Herrihaft nicht wiſſen dürfte?’ 


„Die Herrſchaft fol es auch erfahren, Stria,“ fagte Ever: 
hard freundlich, „denn e8 wird nicht lange mehr ein Geheimniß 
bleiben; aber laß mich jebt mit Alima reden! Draußen hält 
Sidin — ſage ihm, daß er warten folle, bis ich wieder zu- 
rückkäme.“ 

Das war nun ein ſehr unnützer Auftrag, denn Everhard 
wie Stria wußten recht gut, daß Sidin dort nicht fortfuhr, 
und wenn er bis Sonnenaufgang hätte halten ſollen. Stria 
warf dem jungen Weißen auch erſt einen mißtrauiſchen Blick 
zu; einmal aber hatte ſie ihn gern, weil er immer ſo gut mit 
ihnen Allen war, und dann — mochte es auch ſein, daß ſie 
ſich mit Sidin über Manches ausſprechen wollte. Sie glitt 
wenigſtens nach kurzem Ueberlegen der Thür zu, und Ever— 
hard trat ſelber mit klopfendem Herzen der Maid entgegen, 
die mit geſenktem Haupt und am ganzen Körper zitternd vor 
ihm ſtand. — Was hatte ihr der weiße „Herr“ zu ſagen, 
das mit ihrem künftigen Schickſal in Verbindung ſtand? denn 
ſo hatte es ihr Stria erzählt, oder ſie wäre gewiß nicht im 
Dunkeln hier herausgekommen. — Aber hier im Hauſe konnte 
ſie es auch nicht länger aushalten — die „Wolandas“ mochten 
ſie in ein Gefängniß werfen, wenn ſie ihren Befehlen unge— 
horſam wurde. Lieber dort — lieber in Ketten, als der Tyrannei 
und den Mißhandlungen einer ſolchen Herrin ausgeſetzt. Aber 
der Weiße meinte es ja auch gut mit ihr. Hatte er ihr nicht 
das Bild ihrer Heimath geſchenkt? Er war anders wie die 
Uebrigen — nicht ſo ſtolz und hochmüthig, nicht ſo rauh und 
grauſam wie ſie — er meinte es gewiß gut mit ihr, und doch 
fürchtete ſie ſich vor ihm, denn welchen Segen hatten bis da— 
hin die Weißen ihrem Lande gebracht? 

„Alima,“ ſagte da Everhard, der auf ſie zuſchritt und ihre 
Hand ergriff, die ſie ihm willenlos und in peinlicher Er— 
wartung des Kommenden überließ. „Es iſt das erſte Mal, 
Mädchen, daß ich im Stande bin, ein Wort mit Dir unge— 
ſtört und allein zu ſprechen. Laß mich eine Frage an Dich 
richten, und beantworte ſie mir ſo treu und wahr, als ob Du 


472 


zu Deinem Bruder oder Deinem Vater ſprächeſt. Glaube 
mir, Alima, ich meine es eben ſo gut mit Dir.“ 

Er hielt einen Augenblick inne, aber Alima erwiderte keine 
Silbe, nur ihre Hand fühlte er in der ſeinen zittern, und das 
als ein Zugeſtändniß nehmend, fuhr er leiſe fort: 

„Ich habe heute gejehen, wie häßlich Du von Willemina 
behandelt bijt. Sit das ſchon öfter vorgefallen 2‘ 

„Sie ift nie gut mit mir,‘ flüfterte die Maid nach furzer 
Pauſe, „und ich thue Alles, was ich kann.“ 

„And haft Du Dich nie gegen Mevroum beflagt?’' 

„Einmal ja, aber da — iſt es noch viel Schlimmer ge: 
worden.‘ 

„Und Du willft fort von hier?‘ 

„Ich kann hier nicht länger bleiben — lieber todt — 
jtöhnte dad arme Mädchen. 

„Aber wohin willft Du?’ 

Alima jeufzte tief auf. „Ich weiß es nicht — Allah wird 
mir helfen, oder — der Tod. Ich mollte, ih wäre todt!“ 

Das junge Mädchen ftand vor ihm, de Mondes Licht 
lag voll auf ihren lieben, aber von Schmerz dDurchbebten Zügen — 
eine dDunfelfarbige Madonna mit dem Weh im Herzen. Ever: 
hard fah ihr ſtill und finnend in's Auge, endlich jagte er leiſe: 

„Alima, Du weißt gewiß, daß ich viel im Haufe von 
Mynheer van der Roeſt verkehrt NE Du haft vielleicht von 
Anderen gehört, daß ich jelbit jogar daran gedaht, Wille: 
mina's Hand von ihren Eltern zu erbitten, und es ift möglich, 
daß fie nicht Nein gejagt haben würden.‘ 

„Ich weiß es,“ flüfterte Alima leife. „Sie willen es Alle.‘ 

„In der That?‘ nidte Everhard — „nun dann will ich 
Dir jebt die Berficherung geben, daß ich damals die Juvrouw 
van der Roeſt noch nicht fo Fannte, wie ich fie jetzt kenne — 
id) würde nie im Leben eine glüdliche Ehe mit ihr führen. — 
SH werde von jebt an nur noch Einmal van der Roeſt's 
Haus betreten — und felbft das eine Mal nur, wenn Du 
zu dem, was ih Dich fragen will, Ja ſagſt.“ 

„Ich?“ ſtammelte Alima erftaunt — fie konnte fi nicht 
denken, wie fie irgend welchen Einfluß auf die Befanntfchaft 
eines weißen „Herrn“ auszuüben vermöge. 


473 


„Ja Du,‘ wiederholte aber Everhard, „und nur Du allein, 
Höre mir zu — id bin des einzelnen Lebens Herzlich fatt 
und feſt entjchloffen, mir eine Frau zu nehmen — ich werde 
von hier fortziehen —“ 

„Und darf ih da mit?” rief Alima raſch und bewegt, 
„oh, wenn Sie eine Frau haben, die mich nicht peinigt und 
ihlägt — ich will arbeiten — arbeiten-von früh bis in die 
finfende Naht hinein. Früher Fonnte ih es ja nicht — in 
meiner Eltern Haufe durfte ich feine ſchwere Arbeit thun oder 
irgend welche Laſt tragen — mein Bater war der Häuptling 
eines großen Landes, aber’ — ſetzte fie mit kaum hörbarer 
Stimme hinzu — „ſie haben ihn getödtet und — ih kann 
jet arbeiten wie die geringjte Magd.“ 

„Und willft Du mit mir gehen, Alima?“ rief Everhard 
raſch, „gaſt Du Vertrauen zu mir? — aber nit als Magd — 
nein, als meine Frau, als mein liebes braves Weib — al? 
das ih Dich halten will immerdar.“ 

Alima’3 Hand zudte aus der feinen — einen Moment 
jtand fie vor ihm und fah ihm fcheu, aber feſt in's Auge, dann 
plötzlich drehte fie ji ab, floh fo rafch fie ihre Füße trugen 
nach dem Haus zurüd, und alles Rufen und Bitten Everhard’3 
hielt fie nicht in ihrer Flucht auf. 

Stria hatte übrigens die Gefährtin, als fie draußen am 
Gatterthor ftand, nicht aus den Augen verloren; jett aber, 
bei Everhard's Rufen, eilte fie wieder auf diefen zu und jagte 
bitter: 

„Db ich e& nicht vorher gewußt habe — hr fein Euch 
Ale gleich, ihr weißen Männer. Nur an Euch felber denkt Ihr 
und Euren Vortheil, und daß fo ein arme Mädchen, wenn 
ihre Hautfarbe aud dunkel ift, ebenfalls ein Gefühl in der 
Druft trägt, fümmert Euch wenig. Geht, Tuman, Alima wird 
arbeiten wie fie e8 immer gethan, und nicht müde werden, 
aber brav dabei bleiben. Wenn Ihr weiter nihtö mwolltet, fo 
fonntet Ihr den Verſuch jparen.‘ 

„Willſt Du mid) ruhig anhören, Stria?“ 

„Glaubt nit, daß id) Euch dabei helfe,’ fagte das junge 
Mädchen finiter. 

„Ich meine es fo ehrlich mit ihr.‘ 


474 


„Was nennt Ihr ehrlich?“ frug Stria und blickte ihn 
noch immer mißtrauiſch an, „was könnt Ihr damit meinen? 
Geht, ich weiß nur zu gut, wie die Wolandas darüber 
denken.“ 

„Kennſt Du einen Holländer, Stria, der in Buitenzorg 
wohnt und Beeker heißt?“ 

„Gewiß kenne ich ihn — er wohnte früher in Cramat, 
und mein Bruder iſt bis auf den heutigen Tag bei ihm.“ 

„Hat der ehrlich gehandelt?“ 

„Beeker?“ rief Stria — „es giebt keinen braveren Wolanda 
in ganz Sudan!“ 

„Ich will Alima zu meiner Frau machen, wie er es mit 
Einer Eures Stammes gemacht hat.“ 

„Tuwan!“ 

„Ich will es, Stria — ich halte mein Wort — ich ziehe 
ebenfalls nach Buitenzorg und kaufe mir dort ein kleines 
Haus, und wenn Du willſt, Stria, kannſt Du dann zu uns 
kommen. Du ſollſt es bei uns beſſer haben, als hier im 
Hauſe.“ 

„Und das wäre Euer Ernſt?“ 

„Ich frug Alima, ob ſie mein Weib werden wollte, aber 
ſie riß ihre Hand aus der meinen und floh in das Haus 
zurück.“ 

„Weil ſie glaubte, daß Ihr ſie zu Eurer Frau machen 
wolltet, wie es die Weißen hier gewöhnlich mit den armen 
Mädchen machen — bis Ihr ihrer überdrüſſig wäret.“ 

„Und wenn ich ſie nun zu meiner wirklichen Frau machen 
will, wirſt Du mir dabei helfen?“ 

„Aber dann müßte ſie Chriſtin werden.“ 

„Wenn ſie chriſtlich getraut ſein will — ja — aber iſt 
unſere Religion weniger gut als die Eure?“ 

„Ich weiß es nicht,“ ſagte Stria ſcheu, nach kurzer 
Pauſe — „aber Bitja iſt auch Chriſtin geworden, und dabei 
ſo glücklich — ſo glücklich!“ 

„Und willſt Du mit Alima ſprechen?“ 

„Aber die Juvrouw!“ rief Stria plötzlich erſchreckt aus, 
„ſagt denn nicht ſchon alle Welt, daß Ihr ſie heirathen 
wollt? — und Mynheer — und Mevrouw — und die 


475 


Juvrouw; oh, Allah! wenn fie ed erführe, kratzte fie der 
Alima die Augen aus vor allen Leuten!’ 

„Du könnteft Recht haben, Stria,“ fagte Everhard nach— 
denkend; „ich glaube felber, daß fie böfe wird, wenn fie es 
erfährt; aber ich möchte die Nonna troßdem nie heirathen, denn 
ih weiß, daß ich unglüdlich mit ihr leben würde für alle 
‚Zeit. Sie ift jtolz und graufam, fte iſt Hohmüthig und eitel 
und würde mir nie eine gute Hausfrau fein. Ich will Alina 
zur Frau nehmen, und wir werden in Glück und Frieden mit 
einander leben. Willit Du mir helfen?” 

Stria jah ihm lange und feſt in's Auge, dann nahm fie 
die gegen fie ausgeſtreckte Hand und fagte: 

„Sa, Tuwan, ich will! Ich glaube, Ihr meint es gut und 
ehrlih, und Alima wird aud Ja Jagen, denn fie hat die legten 
Tage nur immer von Euch gefprodhen und diefe Nacht noch 
Euren Namen im Traum genannt. Das ift ein ficheres 
‚Zeihen — aber dann —?“ 

„Morgen früh komme ich hier wieder an diefelbe Stelle — 
dann bring mir Antwort — um zehn Uhr bin ich hier, und 
lag Alima, wenn es geht, mit Dir kommen. Willigt fie 
dann ein, meine Frau zu werden, dann habe ich mir alles 
Andere jchon überlegt und in Drdnung gebradt — Hab’ Feine 
Furcht, Stria, ih thue nichts Halb, und Alima fol voll: 
Kommen ficher fein. Willſt Du? 

„Ich will,‘ fagte das junge Mädchen nad) kurzem Zögern 
nochmals — „verlaßt Euch auf mich!" und ihren Sarong 
feft um fich herziehend, eilte fie jetzt mit raſchen Schritten nad 
dem Haufe zurüd, 


%% 
Schluß. 


Der Morgen lag mit al’ feinem Zauber auf dem ſchönen 
Lande. Noch hatte die Sonne keinen Raum gehabt, um vyı 


476 


den bejchatteten Blättern den Thau aufzufangen, und Die 
Brife zog fühl von den öftlichen hohen Bergen herüber, als 
Everhard’S Feines Bendi Schon wieder in die ſchmale Gafje ein: 
bog, die benachbarten Gärten umfuhr und Hinten an der 
Pforte hielt. 

Everhard fprang aus dem Wagen und in den Garten 
hinein, und Stria ließ ihn aud nicht lange warten. Eben 
fam fie mit Alima, die fie aber an der Hand mehr nad fi 
ziehen als führen mußte, den Gang herab, und der junge Mann 
eilte ihnen mit jubelndem Herzen entgegen. | 

„Alima,“ rief er ihr zu, als er die Maid erreichte, die 
zitternd und ſcheu den Dli zu Boden jenfend vor ihm ftand, 
„sat Dir Stria Alles erzählt? Willſt Du mir vertrauen 
und mein braves, rechtliches Weib werden vor Gott und den 
Menſchen? Sieh, Herz,‘ fuhr er leidenfchaftlich fort, als er 
mit der Rechten ihre Hand nahın, feinen linken Arm um 
ihre Schulter legte und fein Auge mit Entzüden an der 
holden, lieblichen Gejtalt der Jungfrau hing — „ich meine 
ed recht von Herzen gut und treu mit Dir. Nicht Fränfen 
wolte ih Dich geftern Abend, oder Did hintergehen, als 
ih Di frug, ob Du mir angehören mwollteft. Du glaubteft 
mir nidt. Heute ift es heller Tag, Du kannſt mir in die 
Augen jehen, und jebt frage ih Di offen und ohne Hinter— 
halt noch einmal: Wilft Du mein Weib fein, wie es jeder 
Weiße bier auf Java und bei uns daheim nimmt — nur 
dad eine, aber in Liebe und Treue für das ganze Leben?“ 

Alima antwortete nicht; das Herz Hopfte ihr faft hörbar 
in der Bruft — ihre ganze Geftalt bebte — fie behielt faum 
Kraft, um fih aufrecht zu halten, denn der Uebergang war 
zu rafch geweſen — der Uebergang von Schmach, Dienftbarkeit 
und Mifhandlung zu einem Stande, den fie ja nie hätte hoffen 
dürfen zu erreihen, Und wie gut war gerade diefer weiße 
Mann mit ihnen Allen geweſen, wie hatte er ſtets nur freund- 
lie Worte für fie gehabt, und wie war er ſtets von Allen 
gelobt worden, wenn fie Abends zufammen vor der Küche 
jagen. Hatte nit Sidin felber oft gejagt, einen befjeren 
Wolanda gäbe es nicht in der Welt, als fein Herr jei, und 
wenn der Java je verliege und ihn mitnehmen möchte, jo 


477 


ginge er mit ihm, wohin er nur wolle, ſelbſt über das große 
Waſſer. — Und deſſen Frau — deſſen wirkliche Frau ſollte 
ſie werden, wie es die glückliche Bitja auf Buitenzorg eben— 
falls geworden war? — und dort ſollte ſie leben? 

„Nun, Alima — was ſagſt Du? — Haſt Du mich ein 
klein wenig lieb?“ frug Everhard mit bittender Stimme 
und zog ſie ſanft an ſich. Da konnte ſie ſich nicht länger 
halten — da quollen ihre Thränen, und mit zitternder Stimme 
frug ſie: 

„Und mich — das arme braune Mädchen, das nichts hat 
als ihr Elend und ihren Schmerz, wollten Sie zu Ihrer 
Frau nehmen? Und was würden die Wolandas — was 
Mevrouw van der Roeſt ſagen?“ 

„Darüber ſorge Dich nicht, mein Kind,“ rief Everhard, 
ſelig ſchon in der halben Zuſtimmung, die in den Worten 
lag. — „Mir liegt daran, mir eine glüdliche Häuslichkeit 
zu gründen — ih will ein Weib Haben, dad mich Lieb hat, 
und das ih dafür auf den Händen tragen werde. Willit 
Du mein Weib fein, Alima?“ 

Alima antwortete ihm nicht, aber fie duldete, daß er ſie 
umſchlang und den erjten jeligen Kuß auf ihre Lippen drüdte. 
So beraufcht war er dabei in diefem bemwältigenden Gefühl feines 
Glüdes, daß er gar nicht hörte, wie Stria in Angft und Schreden 
aufſchrie — er achtete e8 wenigitens nicht — was kümmerte 
ihn die Welt. Nur erft als er eine falte, ruhige Stimme an 
‚ feiner Seite hörte, hob er rajch den Kopf und erfannte — 
eben nicht angenehm überrafht — Willemina, die mit unter: 
geihlagenen Armen vor ihm ftand und die Gruppe höhnisch, 
aber mit vor Zorn bleihen Wangen betrachtete. 

„Das iſt ja ſehr paſſend, Mynheer Kiesheer,“ jagte fte 
mit jcharfer, Schneidender Stimme, „daß Sie Morgens in aller 
Frühe und auf unferem Erbe mit einer von unſeren 
„Maids“ eine Liebſchaft unterhalten. Glauben Sie, daß es 
möglich wäre, ung gründlicher und — gemeiner zu beleidigen ?'' 

Everhard fühlte, dag Alima in feinem Arm ſcheu und er- 
ihredt emporfuhr und fi Ioswinden wollte, aber er ließ fie 
nicht. Sein linker Arm hielt fie noch feſt umſchlungen, und 
zuhig jagte er: 


478 


„Der Schein mag gegen mich ſein, Fräulein van der 
Roeſt, aber eine Beleidigung Ihrer Yamilie ift ed nicht, wenn 
1 Pr DER N: 

„And fort mit Div, an Deine Arbeit, Dirne!“ rief aber 
jebt Willemina, von Jähzorn übermannt, als fie jah, daß 
Alima ihre Stellung — wenn auch unfreiwillig, aber doch 
wie Schuß gegen fie fuchend, behauptete. „Schämſt Du Did 
nicht, leichtſinniges Geſchöpf!“ und ihr Arm ftredte fih aus, 
um die Dienerin fortzureißen. Everhard aber wehrte dem 
Arm und fagte jcharf: 

„Halt, Juvrouw, das bier ift meine Braut — und 
von heute ab nicht mehr in Ihren Dienjten. Wagen Sie «8 
nit, Hand an fie zu legen.‘ 

„Ihre Braut? lachte Willemina gellend auf, „ich glaube 
wahrhaftig, fie wären im Stande eine ſchwarze Dirne zu. 
heirathen. Fort mit Dir, Geſchöpf, in das Haus, oder ich 
rufe die Leute heraus und laſſe Di hinein peitſchen!“ 

„Mein liebes Fräulein,‘ jagte Everhard ruhig, indem er 
jeine eigene Geftalt aber doch jetzt zwiſchen Alima und die 
faft zum MWeußerften gereizte junge Dame bradte, „wahr: 
jheinlid wider Ihren Willen zeigen Sie mir zum erſten Male 
Ihren wirklichen Charakter, und ich Ffann Ihnen nur dankbar 
dafür fein. Ich wiederhole Ihnen aber, daß Alima meine 
Braut ift und in den nächſten Tagen vor dem Altar meine 
Frau wird.’ 

„Sie find wahnſinnig!“ ſchrie Willemina, fich vollfommen 
vergejjend, in allem Zorn und Ingrimm auf — „und das 
der Dank dafür, daß wir Sie in unferem Haufe aufgenommen ? 
Diefe Shmad für meine Eltern, diefer — dieſer Dirne 
wegen." Ihre Augen fprühten dabei Feuer, jelbit ihre Hände 
trallten fich zufammen, und wie eine Tigerin zum Sprung, 
gerüjtet, jtand fie, als ob fie ſich im nächſten Augenblid auf 
Alima werfen wollte. 

„Das ift genug, Juvrouw,“ rief jebt Everhard, ſich Hoc 
emporrichtend, indem er aber doch den Arm abmwehrend vor: 
hielt. „Uebrigens jehe ih, daß ih Alima nicht mehr fhub: 
108 in Ihren Händen zurüdlafen darf, wenn fie nicht Ihrem — 
Ingrimm zum Opfer fallen fol. Es thut mir leid, auf 


479 
dieje Weile von Ihrem Haufe zu ſcheiden — ich hatte es 
mir in friedlicherer Art gedaht — wenn Sie e8 aber nicht 
ander haben wollen, jo mag es auch fo darum fein. Alina 
werde ich für heute in den Schuß einer wadern Familie 
bringen.‘ 

„Sie dürfen feine Dienerin aus einem Haufe entführen, 
Mynheer,“ zifchte das junge Mädchen in kaum bezähmbarem 
Haß, „Sie zwingen mich, die Polizei herbei zu rufen und die 
ſchamloſe Dirne in Ketten legen zu laſſen.“ 

„hun Sie, was Sie können,“ ſagte Everhard Kalt, 
„vor der Hand aber geftatten Sie mir, mic) Ihnen zu empfehlen. 
Komm, Alima, ih führe Did der Freiheit und dem Glück 
entgegen.‘' 

Willemina war wie außer jih. „Pradja! Kerto! Akras 
rief fie mit Freifchender Stimme nad den im Vorderhaus bes 
findlihen Dienern, denn Stria hatte gleich beim erften Er- 
ſcheinen der Herrin die Flucht ergriffen — aber ehe die Leute 
im Stande waren, fie zu hören, oder gar herbei zu eilen, 
hatte Everhard das ihm jetzt ſchon aus Furcht vor der Ge: 
bieterin wie willenlos folgende Mädchen an die Pforte geführt. 
Dicht davor hielt Sidin mit dem Wagen. Everhard hob das 
zitternde Kind hinein, und fort raffelte das Kleine Fuhr: 
wert auf dem glatten Wege, daß eine dichte Staubwolke es 
bald einhüllte und den Bliden der nachftarrenden Juvrouw 
entzog. 


Am nächſten Abend, gerade nah Sonnenuntergang, als 
der Tiſch gededt ftand und Mynheer Beeker ſich eben mit 
jeiner Heinen prächtigen Frau zum Effen niederfegen wollte, 
rollte raſch eine Ertrapoft heran und hielt unmittelbar vor 
jeinem Haufe. 

„Na,“ fagte Beefer, der nichts mehr haßte, als eine Störung 
bei Tische, „ich hoffe doch nicht, Vroumetje, daß wir jebt Be— 
ſuch Eriegen werden? — wäre mir [ehr unangenehm.” 

„Wer fol jetzt kommen?“ fagte Eopffehüttelnd Mevroum. 

„Vervloekt!“ ſagte Beeker, fich Hinter dem rechten Ohr 
fragend, „da klinkt wahrhaftig die Gartenthür. Na, das 


480 


Hat mir gerade heute noch gefehlt. Bitja, geh hinaus und ſag 
den Leuten, ich läge todtiterbenskranf im Bett — oder ein 
toller Hund hätte mich gebiſſen und es wäre gefährlich, jebt 
in’ Haus zu kommen. Du darfit ihnen auch fagen, ich hätte 
die Schwarzen Blattern und ſteckte bi3 nach) dem Mittageflen an.’ 

„Gekheid!“ Tachte die kleine Frau, „wenn jebt Jemand 
fommt ißt er entweder mit, oder er geht wieder weg.“ 

„Sonderbar, Broumetie, " fagte Decker, „daß Du immer 
die Gefcheidtere biſt; Lieber aber wäre es mir, es käme jetzt 
Niemand, denn wenn mir die Stunde verdorben wird, ift mir 
der ganze Tag zum Teufel gegangen.‘ 

„Warachtig, Martjin, rief plößli Mevroum, die, wenn 
auch etwas verdeft, an ein Fenſter getreten war und hinaus: 
gejehen hatte — „das iſt volſtrekt Mynheer van Kiesheer 
mit einer javanijhen Maid, der bereinfommt — nun da3 
fol mid wundern!‘ 

„Mit einer Maid?“ ſagte Beeker erftaunt; aber es blieb 
ihm feine Zeit mehr, denn ſchon im nächſten Augenblid öffnete 
fih die Thür, und Everhard, mit leuchtenden Blicken, die 
Arme dem Freund entgegenftredend, |prang in’® Zimmer und 
tief jubelnd: 

„Hab' ich Dir’3 nicht gejagt, alter Junge, ich fomme mit 
meiner Frau nad Buitenzorg und fiedle mich hier an? — 
Da bin ih. Mevroum, hoe gaat het? immer no friſch 
und munter ?'' 

„Mit Deiner Frau?’ fagte Beeker und ſah erjtaunt über 
Everhard’3 Schulter hin auf Alima, die ſchüchtern und mit 
niedergejchlagenen Augen in der Thür ftand. 

„Alma! rief aber Everhard herzlih, indem er ihr die 
Hand entgegenftredte, „ich habe Dir verjproden, Dich zu 
Freunden zu führen — da bift Du. — Mevrouw! jeien 
Sie gut mit dem armen, [hüchternen Kinde und nehmen Sie 
es bei fih auf, bis ih es heimführen kann als meine liebe 
und mwadere Gattin.‘ | 

„Alima?“ rief Bitja aus, die jtaunend das junge Mädchen 
einen Moment betrachtet hatte — ,Alima, biſt Du e3 wirt 
ih?" — und auf fie zufliegend, ſchloß fie das in Buaddz 
thränen ausbrehende Mädchen in ihre Arme, 


481 


- Und das war jest ein Erzählen, ein Jubel in dem Kleinen 
freundlihen Haufe, und Bitja war befonders felig in dem 
Gedanken, nun eine Freundin, eine Landemännin in ihre Nähe 
zu bekommen, die, von dem nämlihen Stamm entfprungen, 
alle ihre Kleinen Sorgen und Freuden theilen Fonnte, 

Altına aber ſaß zwijchen den guten Menfchen wie in einem 
wahenden Traume, denn aus dem Staube herausgehoben, aus 
einer Dienftbarfeit, die unter die ſen Verhältniffen immer noch 
der alten Sclaverei gli, plögli nit allein mit Güte und 
Liebe überhäuft, nein, auch zugleich ebenbürtig von denen an- 
erkannt zu werden, zu denen fie gewohnt war in Scheu und 
Furcht aufzufehen, drüdte fie mit einer Wucht nieder, gegen 
die fie nicht gleih ankämpfen konnte. 

Bitja aber, die Kleine Frau Beeker, hatte mit dem richtigen 
Tacte bald herausgefunden, was fie bejonders jo befangen 
machte — es war ihr dürftiger Anzug, in welchen fie hier 
neben ihr in dem elegant außgeftatteten Gemache faß, und ohne 
meiter ein Wort zu fagen, griff fie Wlima unter den Arm und 
führte fie mit in ihr Zimmer hinüber. 

„Aber, Bitja — Herzensfind, wie ift es mit dem Eſſen?“ 
rief ihr ihr Gatte nad, „ich fterbe vor Hunger und Ever: 
hard auch.“ 

„Sleih, Martjin, gleid — nur nod wenige Minuten. 
Halt Du den Wein oben?" 

„Dh, der Blib auch,“ rief Beefer, „daran habe ich gar nicht 
gedacht!“ und viel rafjcher, als er fich ſonſt gewöhnlich be- 
wegte, fuhr er aus dem Zimmer. Mevroum hielt aber ebenfalls 
Wort — in ehr kurzer Zeit kehrte fie mit dem jungen Mädchen, 
dem fie einen von ihren Anzügen gegeben, bis Everhard ordent- 
liche Kleider für fie ſchaffen konnte, zurüd, und e8 war in 
der That, als ob dadurch der Bann gebrochen worden wäre, 
der bis dahin auf Alima's Zunge ſowohl, mie auf ihren 
Gliedern gelegen. Sie fühlte fi freier — nicht mehr fo ge 
drüdt, aber erit am Abend konnte fie der Freundin jagen, 
wie glücklich fie fich fühle, wie felig, und nur den Gedanken 
vermochte fie noch nicht zu fallen, daß fie von jekt an frei 
und die Frau eines Tuman werden folle. 

Die nähften Tage hatte nun Everhard allerdings viel zu 

Fr. Gerftäder, Erzählungen ıc. öl 


482 


Thaffen, denn die Verbindung mit einer Cingeborenen wurde 
den Weißen auf Java nicht zu leicht gemadt. Man fah eben 
ſolche Mesalliancen nit gern in der europäilchen Geſellſchaft 
in Indien. Da ihm aber der General-Öouverneur jelber jehr 
wohl wollte, und er auch außerdem mit einigen der oberjten 
Beamten eng befreundet war — eine Hauptfahe in allen 
ſolchen Colonien, um zu erlangen, wad man eben will — 
jo fam er doch, und noch dazu in verhältnigmäßig kurzer 
Zeit, zum Ziel, und eine glüdliche Zeit verlebten von da an 
die beiden Familien in diefem Heinen Paradies. 

Mit van der Roeft traf Everhard allerdings fpäter noch 
einige Male zufammen, betrat aber fein Haus nie wieder und 
hörte auch eigentlich erjt wieder Genaueres über die Familie, 
als Stria, die es ebenfall3 nicht länger dort hatte aushalten 
fönnen, zu ihnen nach Buitenzorg kam. 

Willemina nahm übrigens ein jehr raſches und traurige 
Ende. Sie hatte fih, faum drei Monate fpäter als Everhard 
Alima aus ihrem Erbe entführte, mit dem Compagnon eines 
englifhen Haufe verheirathet. Die Ehe ſchien indeß feine 
glüdliche gewesen zu fein. Das junge Paar wurde wenigstens 
nad ſechs Monaten ſchon wieder gefchieden, und Willemina 
blieb danah auf ihrem „Wittwenfib‘‘. Ihr Charakter war 
aber durch die erduldeten Schiefale nicht milder geworden — 
fie behandelte wenigjtend ihre Dienftboten mit unmenfhlider 
Härte, und eines Morgens fand man fie (wie fi fpäter 
heraugftellte, von Arſenik vergiftet) todt in ihrem Bette. 


Im Petroleum. 


f: 
Eine Oelſtadt. 


Petroleum war in Pennſylvanien gefunden worden, und 
zwar in jo enorm reihhaltigen Quellen, dag, ähnlich wie bei 
der Entdeckung des Goldes in Californien, ein wahrer Taumel — 
ein wirkliches Delfieber die Capitaliften der Vereinigten Staaten 
ergriff, und Taufende in diefe neuen Diftriete, wie in ein 
erjehntes Eldorado, auswanderten. 

Es Hatte das allerdings einen Grund. Wie man auch 
in Californien zufällig und zu allem Anfang gleich die reichiten 
Goldlager entdedte, und nun an eine unerfchöpflihe Maſſe 
des edlen Metalle glaubte, jo war ebenfalls hier, faft bei 
dem erjten Verſuch, ein ſolcher Strom des werthuollen Del 
zu Tag gequollen, daß, aus Mangel an Gefäßen, Taujende 
von Eimern den Berg hinunterftrömten, den untern Fleinen 
Bach füllten und dann auf dem Mighanyfluß ruhig zu Thal 
ſchwammen. 

Dieſe erſte Duelle oder „Well“, wie man dort ſagte, muß 
allerdings fabelhaft reich gewefen fein, und Manche wollten 
jogar, vielleicht nicht mit Unrecht, behaupten, daß man zu= 
fällig bei diefem Verſuche das „Hauptfaß“ der Berge angebohrt 
und den größten Reichthum damit zwedlos verloren habe. 

Diefes Vorkommen des Erdöls in fo ungeheuern Mafjen 
und, wie fich jest herausſtellt, an fo verſchiedenen Drten bleibt 

al? 


484 


überhaupt eine räthjelhafte Erſcheinung. Die meiften Bohr: 
Löcher gehen 600 bis 800 Fuß in den Boden, zum großen » 
Theil — ja bier fait ausſchließlich — durch Sandfteinfeljen, 
ehe fie auf Del treffen. Dort unten fann man es fi aber 
nur in Kleinen dunfeln Seen, eigentlih in einer Art von 
riefigen jteinernen Blaſen denken, wie es tief, tief im Schooß 
der Erde ruht, plößlicd) von der Spibe eine winzigen Bohrers 
angezapft wird und dann, durch die Luft gezogen, in einem 
jprudelnden Strahl nach oben jchiekt. 

Und wo fommt es her? — weldem Material verdankt 
es feine Entſtehung? Man bat die Vermuthung aufgeftellt, 
daß es der Extract ungeheurer Steinfohlenlager jein müſſe, 
aber das Merkfwürdige ift, daß fich dort in der Nähe gar 
feine Steinfohlen finden — alfo woher jonit? 

Daß es eriltirte, wußte man ſchon vor Hunderten vor 
Sahren. Der Kleine Fluß, faum mehr als ein großer Berg— 
bach, wurde von den Indianern jelber „Oelbach“ genannt. 
Diejen Namen ließen ihm aud, in Oilcreek, die Amerikaner, 
legten aber auf die Thatfache, daß fie dort Delfpuren fanden, 
feinen Werth, denn wer fonnte vermuthen, daß e8 im jolcher 
Maſſe vorhanden fei. 

Die Sage ging dabei, daß Schon die Indianer dieſes Stein- 
öl, aber allerdings nur zu medicinifhen Zwecken, verwandt 
hätten. Um es zu gewinnen, warfen fie flache Gruben aus, 
die fih mit Wafler füllten, und zogen es dann von der Ober: 
fläche defjelben mit Hülfe von mwollenen Deden fort. Noch 
jebt fann man hier und da diefe Gruben erkennen, und wie 
alt fie fein müfjen, erhellt deutlich daraus, daß ftarfe Eich» 
bäume aus ihnen aufgewachſen find. 

Der ſpeculative Yankee hat aber gerade die richtige Natur, 
um Alles aufzujpüren, was ihm Nuten dringen kann. Einer 
der Unternehmenditen bohrte, und zwar gleich an der richtigen - 
Stelle, und das Rejultat war nicht allein ein höchſt merf- 
würdiges, jondern brachte jogar für dieſe Zeit eine völlige 
Ummwälzung in der ganzen Geſchäftswelt der Union hervor. 

Es entftand im Nu in New Norf wie in Philadelphia 
eine. Delbörfe — Actiengeſellſchaften bildeten fi zu Hunderten. 
Jedermann wollte fi bei dem gewaltigen, noch gar nicht zu 


485 


berechnenden Gewinne betheilign — man fabelte dabei von 
1000— 2000 Procent, die ſolche Actien ergeben fönnten, und 
ganze Landitreden in jener Gegend wurden jebt zu ordentlich 
mwahnjinnigen Preifen angefauft. Und was ſchaffte man dann 
niht Alles in die Berge! Dampfmafchinen von meniger 
Pferdefraft zu Hunderten — Sägemühlen wurden aller Eden 
und Enden angelegt, um das Bauholz zu liefern, und Mil- 
lionen an Capital famen zufammen, damit die fihwere und 
fojtjpielige Arbeit des Bohrens begonnen werden konnte. 


Eigenthümlicher und auch glüdlicher Weife lag der Schau: 
platz dieſer fich jo plötzlich entwidelnden Thätigfeit aber in 
dem ſo ziemlich unfruchtbarften Terrain der Vereinigten Staaten. 
Es waren nicht jehr hohe und bemaldete, aber trodene Hügel, 
beſonders auf Sanditeinboden, mit Eichen und ſüßen Kaftanten 
beitanden. Cine reizende Scenerie, e3 ift wahr, wenn man 
hier und da einen Weberblid über eins der Thäler gewann, 
voll romantiiher Schönheit — ein Urwald noch mit all’ feinem 
Zauber, aber jo öde und menjchenleer, daß noch viele Hiriche 
und manchmal ein mifanthropifher Bär diefem Boden feine 
Fährten aufdrüdte Wer follte fi auch an diefen dürren 
Hängen anbauen, wo ringd umher jo viel gutes und treffliches 
Land lag, und nur fehr zerftreut fand fi) auf einzelnen, etwas 
befjer gelegenen Hochebenen — jelten im Thal unten — eine 
einzelne Farm. 


Und da unten im Thal hin ſchlängelte ſich der „Oilcreek“ — 
ein Kleines, munteres und klares Bergmwafjer, das nur mand- 
mal bier und da auf feiner Oberfläche einen in Negenbogen: . 
farben jchillernden ſchmalen Streifen trug. Aud) zeigten fi 
dur den Wald eigentlih nur Fußwege, fo wenig Verkehr 
fand ſtatt. 


Da brach das Delfieber aus, und droben die armen ver- 
einzelten armer, die ihren magern Grund und Boden noch 
zu Congreß-Preifen mit 19, Dollar per Ader gekauft und 
möglicher Weile noch nicht einmal bezahlt hatten, weil der 
ſpärliche Ertrag dieſes Bodens ihnen ſelbſt das nicht einbrachte, 
befamen jet plößlich für eine Kleine, noch nicht einmal urbar 
gemadte Ede ihres Beſitzthums den zehn: und zwanzigfachen 


486 


Betrag der ganzen Summe geboten, die fie für ihr Landgut 
ſchuldeten. 

Nicht einzelne Reiſende und Wagen trafen jetzt hier ein, 
nein, ganze Caravanen zogen von Oſten und Süden in die 
Berge. Eine wahre Völkerwanderung ſchwärmte über die 
Hänge, ergoß ſich in die Thäler und hämmerte, hackte, klopfte, 
bohrte, ſägte und ſchleppte den ganzen Tag hindurch, bis tief 
in die ſinkende Nacht hinein. 

Die ganze Welt ſchien wahnſinnig geworden zu ſein und 
die Verpflichtung übernommen zu haben, den Erdboden hier in 
einer gegebenen kurzen Zeit in ein Sieb zu verwandeln, ſo 
wurde Loch neben Loch gebohrt, und die Wenigen, die ſich 
noch einen Theil ihres Verſtandes bewahrt, zogen augenblicklich 
den Rock aud und fprangen ebenfall® mitten in das tolle 
Leben hinein, fobald fie die dunfelgrüne Flüffigkeit zu Tage 
quellen jahen. | 

Und nun zeigte ſich die befondere Cigenthümlichkeit des 
Landes, was den Delreihthum betraf, denn nicht allein unten 
im Thal und an den tiefer gelegenen Stellen wurde mit Er— 
folg gebohrt, nein häufig, ja jogar in den meijten Fällen fand 
fih der größte Schatz auch in den höchſten und trodeniten 
Hügeln vor, und von da an war fein Plat mehr fiher. Jene 
hohen hölzernen Geſtelle, derricks genannt, die anfangs dazu 
dienten, die Bohrer und fpäter die Pumpen zu heben, ftiegen 
aller Orten empor und gaben der ganzen Scenerie einen be: 
fondern, wunderlihen Charafter. 

Aber dabei blieb man nicht ftehen. Sobald man fand, 
daß das Del wirklih in Mafje vorhanden jet, wurden augen- 
bliklih Eifenbahnen dahin in Angriff genommen, Raffinerien 
gebaut und eingerichtet, um den Transport zu vereinfachen, 
und ala es ſelbſt nur ſchwer bemerfitelligt werden konnte, die 
gefüllten Delfäfler aus der Höhe in das Thal und an die 
Bahn zu Schaffen, verfiel man auf den originellen, aber durd= 
aus praktiſchen Gedanken, Blehröhren von den Bergen nieder 
und direct in die Borrath3-Bottihe (Togenannte eiferne tanks) 
zu leiten, von wo aus fie dann bequem auf befonders dafür 
eingerichtete Waggons übergefüllt werden konnten. 

Aber eben jo raſch fait als diefe Schlauchverbindung — 


487 


deren Röhren fich überall an den Bergabhängen kreuzten, und 
die eine bedeutende Rolle in dem Transport des Petroleums 
fpielt — entitanden auch Feine Städte in den Delminen, ja 
wuchſen wie Pilze aus der Erde herauf. Penniylvanien gab 
in der That auch Hierin dem vor ihm entiprungenen San: 
Francisco, was die rafche Entjtehung der Etädte betraf, nichts 
nah, nur daß der Reihthum in Californien doch eine etwas 
feitere Baſis Hatte als hier, da er fih ſchon auf den Aderbau 
ftüßen konnte, während hier Alles nur auf höchſt unzuverläffigen 
und geheimnißvoll aus der Tiefe fteigenden Quellen ruhte. — 

Aber was kümmerte dad das fpeculivende Menfchenvolf! 
Jetzt braudten die Leute Häufer, jeßt war eine Ausſicht 
auf rafchen, unerwarteten Gewinn, und man muß es ſelber 
gejehen haben, wie bei ſolchen Gelegenheiten in Amerika Städte 
entjtehen, um ed nur für möglich zu halten. Der Wald liefert 
Tauſenden von Arbeitern feine Stämme; Bretter und Planken 
fommen in langen Bahnzügen mit Allem außerden an, was 
nur irgend gebraucht werden kann, und in einigen Wochen 
ſchon überrafcht den Befucher, der vielleicht noch vor vierzehn 
Tagen an der nämliden Stelle ein Rudel Hiriche gejehen, 
eine richtige reguläre Stadt mit Marktplatz, Rathhaus, Re— 
ftaurationen, Billard-Zimmern, Bank, Depots, Cafe chantants 
und fogar nicht felten auch mit einem Theater. Es ijt zwar 
Alles aus nicht einmal gehobelten oder angeſtrichenen Brettern 
aufgebaut, aber was thut das? Die Dächer bieten Schuß 
gegen Sonne und Regen, die Thüren können verjchloffen werden. 
Licht kommt ebenfall3 genügend durch die Kleinen Fenſter her: 
ein, und mehr wird eben nicht von einem Haufe verlangt — 
wenigftens nicht unter ſolchen Verhältniſſen. 

So entjtand auch zwifchen zwei flachen Berghängen, die ſich 
aber al3 ſehr reich erwiefen, in einem kleinen freundlichen 
Thal das Städtchen Smithfild — natürlih nah jenem 
Mr. Smith fo genannt, der fich zuerft dort niedergelafjen, 
und fein Menſch frug, welcher Smith das geweſen ſei. Es 
fam ja auch nichts darauf an — der Drt hatte einen Namen, 
und von allen Seiten zogen fi Speculanten herbei, die bald 
jeden Plab an den Hängen und in den Ebenen belegten. Ja 
ſelbſt mitten in der Stadt hoben ſich ſchon die Derridd empor, 


488 


war e8, al3 ob man fi) mitten in einer gewaltigen und raſt⸗ 
los gehenden Mühle befände. 


Links an dem einen Berghang, wenn man vom Thal ab 
nach den Höhen hinaufſah, lag ein kleines Bretterhaus, das 
aber dem Fremden unwillkürlich in die Augen fiel — es zeigte 
nämlich nicht allein eine ziemlich geſchickte Bauart, ſondern 
war ſogar mit baulichen Verzierungen verſehen, was man 
ſonſt in der Oelregion für gänzlich überflüſſig hielt. Es ſchien 
auch in der That mit großer Sorgfalt hergeſtellt zu ſein, 
hatte theergetränkte Ziegel, grüne Jalouſien und Schnitzwerk 
am Giebel, wie man es ſonſt nur an Schweizerhäuſern findet — 
dabei ausnahmsweiſe blanke Fenſterſcheiben, und überhaupt 
etwas wohlthuend Sauberes in ſeinem ganzen Aeußern, das 
es ſehr zu ſeinem Vortheil von den Nachbargebäuden unterſchied. 


Es gehörte einem Kaufmann aus New-York, Namens 
Barker, der eine große Anzahl von Bohrlöchern beſaß und 
BP enorme Duantitäten Del verſchicken ſollte. John 

Barker hatte die Sache aber auch ernſthaft in die Hand ger 
nommen und fich nicht damit begnügt, das Del nur zu einem 
einzelnen Geſchäftszweig zu machen. Sobald er die Gewißheit 
der hier verborgenen Schätze erhielt, gab er ſein Geſchäft in 
New-York völlig auf, machte Alles, mas er beſaß, zu Geld 
und zog mit feiner ganzen Familie mitten in die Delregion. 
Hier, indem er die Arbeiten an verjchiedenen Stellen begann 
und fich nicht auf eine Chance verließ, hatte er auch den Bor: 
theil, daß er alle jeine Arbeiten jelber überwachen konnte, 
und der Erfolg zeigte, bis jebt wenigitens, daß er vollfommen 
recht daran gethan. 

Hier alfo, in dem Kleinen allerliebiten Häuschen, das in 
feiner rauhen Umgebung wie ein Schmudfäfthen ausjah, 
wohnte Mr. Barker, feine Frau und Ellen, feine ältefte Tochter. 
Ebenſo waren noch zwei deutfche Dienftboten, eine Köchin und 
Stubenmäddhen, von New-York gefommen, und da er au 
fortwährend feine regelmäßigen Sendungen von Lebensmitteln 


und Delicateffen aus der Hauptitadt erhielt, jo führte er 


/ 


pufften kleine Dampfmafchinen Yuftig in die blaue Luft hinein, — 
ſtampften Bohrer aller Arten, und ein Drängen und Treiben / 


489 


dort — ſelbſt nicht ohne Gefelichaft befreundeter Familien — 
ein ganz behagliches Leben. 

Die „Geſellſchaft“ mußte fi aber auch wirklich fait nur 
auf befreundete Familien beſchränken, denn daß fich dort eine 
Miſchung von Leuten aus allen Schichten der menjchlichen 
Bevölkerung angefammelt Hatte, läßt fich leicht denken. Nicht 
allein gewöhnliche Arbeiter, die bier außergewöhnlich hohen 
Lohn bezahlt befamen, waren in die fettige Eldorado ein- 
gewandert, Sondern auch zahllofe Techniker, und zwiſchen dieſen 
fait die halbe Kaufmannswelt — freilic aber auch viele Aben— 
teurer und gemifjenlofe Speculanten, und fein Land der Erde 
it an diefen wohl reicher, als Nordamerifa. Daß man es 
dabei — jo mähleriih man auch zu Haufe mit feinem Um- 
gang jein mochte — nicht immer vermeiden Fonnte, auch mit 
anderer Geſellſchaft als der gewöhnlichen zufammen zu treffen, 
it natürlih, und befonders für Ellen hatte das einen bejon- 
dern Reiz. Hier war nichts Gemachtes und Unnatürliches, 
Leder gab fih wie er wirkflih war — mie wenigftens Ellen 
dachte — und ſchon darin kam fie einmal aus dem tödtlichen 
Einerlei des New-Yorker Lebens heraus. 

Uebrigens lag das Eleine zierliche Haus des New-Yorkers 
jo reizend als möglid. Man hatte von dejjen Veranda aus 
einen UWeberbli über die ganze kleine Stadt, bis ſelbſt eine 
Strede in das Thal hinab, und wie ein wunderlicher Teppich 
drängtem ſich die Kleinen Häufer in einander und ragten dann 
die aud Balken zuſammengeſetzten Derrid® der Delbohrer 
überall zwijchen ihnen empor. Ja felbit der Marktplatz oder 
public square war nicht damit verjchont geblieben, weigerte 
fih aber merfwürdiger Weife, Del zu geben, wonach man ihn 
dann in Ruhe ließ — nur die leeren Derricks blieben jtehen. 

Sonft war aber auch fein Plab außer Acht gelaffen worden, 
und jelbjt die presbyterianifche Geiftlichfeit hatte nicht unter- 
laſſen können, unmittelbar an ihrer Kirche, wo noch ein Eleiner 
Pla frei geblieben, einzubohren und eine Feine Majchine 
mit Pumpwerk aufzuftellen. | 

Die Religion, wie alles Andere, ift ja in Amerika zum 
großen Theil auch eine Speculation, und zwar von beiden 
Seiten aus. Die Geiftlichen ftelen Sammlungen für eine 


490 


Kirche an, wozu ſie mit der größten Bereitwilligfeit Beiträge 
von Chriften, Juden und Heiden nehmen, bauen dann, fo weit 
es die zugefchoffenen Mittel geftatten, ein Gotteshaus und — 
vermiethen nachher die Site darin genau fo, wie zu einem 
Theater oder Concert, nach Logen, Sperrfigen und Stehpläßen. 
Das amerikanijche Bublifum ift dabei nicht frömmer als irgend 
ein anderes, aber es trägt ed mehr zur Schau und prahlt 
gern damit. Sämmtlihe Befitende in Smithfield, die zu 
diefer Kirche gehörten, hätten es fich deshalb auch nicht mögen 
nachſagen fallen, daß fie keinen Plab in dem Gotteshaus 
gemiethet und bezahlt hätten, und der ganze Raum war, aus 
diefem Grunde, im wahren Sinne des Wort3 „abonnirt“. 

Da3 verhinderte aber, wie vorerwähnt, nicht, daß der 
Geiftlihe auch unmittelbar daran eine Delpumpe in Gang 
brachte, die noch dazu gute Ausbeute gab. Nur Sonntags 
durfte natürlich nicht Daran gearbeitet werden, erftens der Störung 
und dann des böſen Beifpiel$ wegen, obgleih die übrigen 
Kirchenmitglieder nicht bewogen werden fonnten, ein Gleiches 
zu thun. Der Geiftliche predigte allerdings verfhiedene Male 
gegen die Schändung des Sabbath (jeine Nachbarn pumpten 
ihm Sonntags zu viel Del fort), aber ihre Maſchinen Tießen 
dieſe troßdem nicht raften, und die übrigen Bumpen rafjelten 
ja ebenfall3 den ganzen Sonntag ununterbrochen durd. 


2. 
John Wilkins. 


Auf der Veranda von Mr. Barker's kleinem freundlichen 
Haufe faßen die beiden Damen und überihauten das rege 
geihäftige Bild zu ihren Füßen. So hübſch übrigens die 
Ausfiht war, fo hatte der Pla — wie jeder andere in 
der ganzen Delregion — eine Unannehmlichkeit. Die Scenerie 
ließ nichts zu wünſchen übrig, aber die blaue durdhfichtige 
Luft, Die über den Bergen lag, wurde unten durch aufs 


491 


steigenden Rauch getrübt und jtanf ganz entjihieden nad) 
Betroleum. Es war nit, als ob man fi in der freien 
Natur, fondern in einer Kleinen engen Sammer befände, in 
welcher eine ‘Betroleumlampe die ganze Nacht gequalmt und 
einen erſtickenden Dunft verbreitet hätte. 

Aber fonderbarer Weife fiel died nur den hierher fommenden 
Fremden auf, denn die hiefigen Bewohner hatten fi, ihrer 
eigenen Ausſage nah, ſchon fo daran gewöhnt, daß fie diefe 
Atmoſphäre gar nicht mehr entbehren mochten und fie fogar 
für „äußerſt geſund“ erklärten — nah dem Grundfab wahr: 
foheinlich, daß Alles, was fchlecht fchmedt oder riecht, gefund 
fein fol. Thatfache ift übrigens, daß fehr wenig Krankheits— 
fälle in der Delregion vorkamen und anjtedende Krankheiten 
zum Beiſpiel gar nicht auftraten. Miasmen gingen in dem 
nichtswürdigen Delgeruch vollftändig zu Grunde. 

Den Hang herauf fehlenderte eine lange Geftalt, die von 
Meitem etwas vornehm Ariftofratifches hatte — allerdings 
etwas Seltenes zwiſchen dieſen ſonſt ſehr declarirten 
Republikanern. Ellen kannte den Herrn, denn ſie erröthete 
leicht, und daß er hier herauf zu ihnen wollte, war auch nicht 
zu bezweifeln, denn er trug ein großes Blumenbouquet in der 
Hand. So vollkommen ungenirt er ſich aber auch bewegte, 
und ſo wenig er die ihm Begegnenden beachtete, ſollte er doch 
nicht unangefochten ſeinen Weg fortſetzen, denn Ellen konnte 
deutlich erkennen, daß ein anderer Mann in Arbeitertracht auf 
ihn zuging, ihm den Weg verſtellte und heftig, ja drohend 
auf ihn einredete. 

Ellen hob ſich erſchreckt halb von ihrem Stuhl empor — 
ſchon ſah ſie, wie ſich Leute um die Beiden ſammelten, als ob 
man dort einen Boxerkampf erwartete, und das wäre jeden— 
falls für das Volk eine angenehme Unterbrechung des all 
täglichen Lebens gemejen. — Dann aber au) fchien es wieder, 
als ob fi) Andere dazwischen warfen, der Herr mit dem 
Blumenftrauß fette wenigſtens nah kurzer Unterbrehung 
feinen Weg unbeläftigt fort, ſchlug den Kleinen Pfad ein, der 
herauf zum Haufe führte, und jtand bald grüßend vor den 
Damen, während er Ellen mit einem fehr freundlichen Lächeln 
Sie Blumen überreichte. 


492 


„ob, waß für ein herrlicher Strauß!’ rief Ellen entzüdt 
aus, und fie hatte allerdings Urfache dazu, denn Blumen — 
wenigſtens folche koſtbare Kinder Flora's — waren hier in 
den Minen eine große Seltenheit und fonnten nur allein von 
den benachbarten Städten bezogen werden. 

Es ift da3 überhaupt eine, und gerade nicht zu feinem 
Bortheil ſprechende Eigenthümlichkeit ded Amerikaner, daß 
er wenig auf Blumen hält, und der Landmann zum Beifpiel 
nie daran denkt, fie anzupflanzen. Der deutfhe Bauer, auch 
der franzöfifhe, haben überall in den Staaten ihr kleines 
freundliche Blumengärtchen. Der engliihe Farmer in den 
Eolonien, befonder3 in Auftralien, pflanzt regelmäßig Blumen 
um jein Haus und zieht blühende Ranfen daran hinauf — 
der Amerikaner denkt nit daran — außer er wohnt an 
einer Stelle, wo er Gelegenheit hat fie zu verkaufen, und alfo 
einen Nuben daraus zieht, und dann allerdings wirft er ſich 
mit allem Eifer auf deren Zudt. 

„Sefallen fie Ihnen, Ellen?’ fagte der Beſuch lächelnd, 
indem er ihr den Strauß überreihte — „fie find aber auch 
weit hergefommen und in New-York jelber gezogen worden. 
Hier das Land bietet ja nur ſpärliche Exemplare, undin den 
dürren Sandfteinbergen wächſt faſt gar nichts, was einer 
Blume ähnlich ſähe. — Wie geht es, Mrs. Barker? — Ale 
noch munter und wohl?‘ 

Ellen nahm danfend den Strauß und beugte fich darüber; 
von irgend einem Duft derfelben war aber hier nichts zu ver: 
jpüren. Wenn fie ihn wirklich hatten, eritarb der vollftändig 
im PBetroleumdunft — die Blumen rohen genau jo, als ob 
fie darin gewachſen wären. 

„Halo, Mr. Wilkins!“ fagte Barker, der in diefem Augen: 
bli® mit auf die Veranda trat — er hatte ſchon eine Weile 
in der Thür derjelben — und den kleinen Zwiſchenfall 
da unten ebenfalls mit angeſehen. „Sind Sie noch in 
Smithfield? — Ich glaubte, Sie wollten heute nach New-York 
zurück.“ 

„Doch nicht, verehrter Herr,’ lächelte der junge Mann 
mit einem Geitenblid auf Ellen — ‚möchte ſich jetzt nicht gut 
thun laſſen, ich bin mit meinen Sntereffen viel zu ſehr im 


493 


diefen „diggings“, um fie fo raſch wieder aufzugeben. Im 
Gegentheil, ih habe fogar jebt hier felber einen Platz, auf 
dem Schon zwei Bohrer im Gange find, auch eine Mafje Ge— 
fäße gekauft.‘ 

„Sn der That?! ſagte Mr. Barker raſch. „Und von 
wen, wenn ich fragen darf?" 

„Bon Mr. Lewis, wenn Sie ihn kennen — gleich da 
unten, nicht weit von der, flowing well. Ich hoffe feinen 
ſchlechten Handel gemacht zu haben.‘ 

„Bon dem jungen Lewis aus Philadelphia?‘ rief Mer. 
Barker erftaunt. „Das ift eine der beiten Stellen in dem 
ganzen Diftriet. Und Hat der jein Recht aufgegeben? Alle 
Metter, wenn ich das Beſitzthum eignete, hätte mir Einer 
einen Schönen Preis dafür bieten müfjen, und es trotzdem nicht 
befommen !‘' 

„Halten Sie es für jo gut?‘ 

„Es iſt eine der beiten Stellen in ganz Smithfield, und 
das will viel fagen, außerdem aber auch ſchon jo meit hin— 
unter gebohrt, daß Sie jeden Augenblick auf Del treffen 
können.“ 

„Die Spuren ſind ſchon da, wie ich eben geſehen,“ lachte 
Wilkins, „und es iſt möglich, daß ich heute noch damit über— 
raſcht werde. Vielleicht können wir dann ein Geſchäft mitſam 
machen, denn zum Selbſtbetrieb habe ich wohl nicht die rechte 
Ausdauer und Geduld.“ 

John Wilkins ſah allerdings nicht ſo aus, als ob er zu 
einem Arbeiter paſſe. Er ging ſehr elegant gekleidet, ſein 
Anzug war vom feinſten Stoff, und die Hände beſonders ſahen 
zart und auffallend weiß aus — etwas ſehr Beſonderes und 
Außergewöhnliches in dieſen Regionen. 

„Nun gut, nun gut,“ nickte Mr. Barker vergnügt mit 
dem Kopfe — „was wollen Sie dafür haben, Wilkins? — 
Vielleicht können wir das Geſchäft gleich abmachen, und ich 
übernehme das Riſico.“ 

„Wir dürfen Miß Ellen jetzt nicht mit einer ſo trockenen 
Geſchichte langweilen,“ wich John aus, „und werden uns 
nachher raſch genug darüber verſtändigen. Sie wiſſen, Mr. 
Barker, ich bin kein Geſchäftsmann, und ich brauche Ihnen 


494 


auch nicht zu jagen, daß hier fonft Niemand nur zu feinem 
Bergnügen nah Del bohrt — ich felber fenne wenigſtens 
interejjantere Unterhaltungen. — Und was treiben Sie hier, 
Miß, in diefem jchauerlichen Petroleumqualm? Haben Sie 
das Leben denn noch nit fatt? Ich kann Sie verfidern, 
mir fängt e8 ſchon an den Athem zu verjegen, und ich will 
Gott danken, wenn der Schwindel einmal vorüber iſt!“ 

„Schwindel, Mr. Wilkinz 2, 

Mehr oder weniger doch immer,‘ lachte der junge Mann. 
„Einige werden reich) dabei, ja, aber eine große Anzahl ftedt 
doch nur ihr Capital in ein jehr unfiheres und risfirtes Ge— 
Ihäft, arbeitet fi halb todt und zieht nachher mit vollſtändig 
geleertem Geldbeutel wieder ab.‘ 

„Ich hoffe doch nicht,“ Tachte Mr. Barker — „aber was 
batten Sie vorher da unten mit dem einen Burſchen? Sch 
glaubte ſchon, es würde in einen regelrechten Kampf ausarten.“ 

Sohn Willins warf die Oberlippe verädhtlich empor. Die 
Frage ſchien ihm nicht gelegen zu fommen, aber er fonnte ihr 
niht ausweichen. „Es treibt ſich fo viel Gefindel hier in 
den Bergen herum,’ fagte er, „daß man ſich faum von ihnen 
frei halten kann, und ſchon deshalb ift mir der Aufenthalt hier 
nit bejonder® angenehm. Jeder glaubt dabei, daß er das 
Recht auf den ganzen Boden hat, und fühlt fich beeinträchtigt, 
jobald man in feiner Nähe ein Loch einbohrt.‘ 

„Brodneid,“ ſagte Mr. Barker achfelzudend. 

Ellen fing an zu huſten, und ſelbſt Sohn wandte raſch 
den Kopf zur Seite und rief: 

„Hub! Da fommt der ganze Duft wieder einmal in einem 
Strom den Hang herauf. Das reine Gas, daß man ordent- 
lich eritiden möchte.‘ 

„Wir haben hier allerdings zu viel Gas in der Luft,“ 
jagte Barker ernſt, „und ich bin jelber Schon mit mir darüber 
zu Rathe gegangen, ob es nicht möglich wäre, e& in vielleicht 
nützlicher Art zu verwenden, oder ed doch wenigſtens abzuleiten, 
daß es nicht einmal Unheil anrichtet.‘' 

„Unheil? jagte Wilkins, „und was für ein Unheil 
fönnte daraus entſtehen?“ 

„Ich weiß es nicht, antwortete achjelzudend der alte 


495 


Herr — „aber der Mühe werth wäre es immer, die Sache 
etwas genauer zu prüfen, denn jo wie ich haben Viele ihr ganzes 
Vermögen in diefem Boden ſtecken, und Gas ift dabei ein fo 
unzuverläffiges wie gefährliches Element.‘ 


„Das find nublofe Sorgen,’ rief aber Wilkins, mit dem 
Kopfe ſchüttelnd. „Auf einen Kubikfuß Gas fommen vielleicht 
fünfzig Kubikfuß frifche Kuft, und wenn das brennen fönnte, 
wäre e8 doch ſchon lange an den verfchiedenen Feuern der 
Dampfmafchinen angezündet worden. Nein, Gefahr ijt gewiß 
nicht dabei zu fürdten, außer daß man fi) feine Geruchs— 
werkzeuge auf Jahre hinaus verdorben. — Haben Sie fein 
Glas Sherry bei der Hand, Mr. Barker? Mir ift die Kehle 
von dem Qualm ordentlich ausgetrocknet.“ 

„Da ſteht die Flaſche, John — Sie wiſſen ja — help 
yourself.“ 

„Ihank ye,“ fagte der junge Mann und ſchenkte fich ein 
Glas ein, während fein Blick jedoh nah Ellen hinüber 
ſchweifte. Er trank dann, als er aber abjette, jagte er: 

„Was iſt Ihnen eigentlih, Miß? Sie find jo wortfarg — 
fajt wie verdrießlich.“ 

„Verdrießlich? Und weshalb follte ich verdrießlich ſein?“ 

„Ja, das weiß ich jelber nicht,“ meinte John — „id 
wüßte wenigftens feinen vernünftigen Grund, aber — Sie 
fommen mir fo ftil, jo nachdenflih vor — gar nicht mie 
jonft — wie gewöhnlich.‘ 

„Ich danke Ihnen für die Schmeichelei," fagte Ellen 
lächelnd — „alſo bin ich fonft gedanfenlo3?‘ 

„Rein, das fag’ ich nicht,’ rief John Halb verlegen, denn 
etwas Wehnliches hatte er doch im Sinne gehabt. 

„Will ih aufrichtig fein,“ unterbrad ihn Ellen, „io 
theile ich gemifjermaßen Vaters Befürchtungen, denn in New— 
Dorf wurden wir immer fo vor dem ausftrömenden Gas der 
Petroleumlampen gewarnt, die doch nur eine jehr Kleine 
Duantität enthalten können, während es bier in jo un 
geheurem Maße die Luft erfüllt. Wenn man ed nur durd 
Schorniteine ableiten könnte!“ 

„Das iſt gar fein jo übler Gedanke,” rief Mr. Barker — 


496 


„dann käme e& in die oberen Luftſchichten und könnte harm- 
los in der Luft zerfließen.“ 

„Laſſen wir das langweilige Gas, Sir,“ lachte John — 
„denken Sie, daß es aller Orten verdampft, wo man 
Petroleum angezapft hat, und das ift hier faft überall in den 
Bergen, ohne daß irgendwo ein Fall vorgefommen wäre, in 
dem es fich gefährlich gezeigt hätte. — Sit e8 Ihnen recht, 
jo gehen wir lieber einmal nach meinen Arbeitern hinüber und 
jehen und den Plab an.‘ 

„Gern, rief Mr. Barker, raſch nad) feinem Hut greifend — 
„ich bin jelber neugierig, mir die Stelle genau anzujehen, 
und begreife in der That nicht, wie Lewis daran denken 
fonnte, zu verfaufen — ja wußte nicht einmal, daß er über: 
haupt ſchon mündig und berechtigt war, ein ſolches be- 
deutendes Geſchäft abzuſchließen.“ 

„Und weshalb nicht?“ lachte John. — „Hier in den 
Bergen iſt Jeder ſein eigener Herr, und was er ſich ſelber 
erwirbt, muß er doch auch wieder veräußern können. Alſo 
good bye, Miß Ellen — good bye, Mrs. Barker,“ und 
ſeinen Hut wieder auf den Kopf drückend, verließ er mit 
Ellen's Vater den Platz. 


3. 
George 


Ellen ftand, als er ſchon eine Weile fort war, noch immer 
den Blumenftrauß in der Hand, und jah ihm ſchweigend nach; 
auch ihre Mutter hatte in der ganzen Zeit Fein Wort ges 
ſprochen, und endlich ſagte ſie leije: 

„Und Du nimmft alle die Gefchenfe, die Dir Mr. Wilkins 
dringt, jo ruhig an, Kind?‘ 

„Geſchenke, Mama?’ jagte das junge Mädchen, wurde 
aber dabei doch ein wenig roth — „es ſind ja nur ein paar 
Blumen.“ 


43 
Er 


Ni2 u 
* 


497 


„Die er ſich aber hat für ſchweres Geld müſſen von New— 
York kommen laſſen, um Dir eine Aufmerkſamkeit zu er— 
weiſen.“ 

„st das nicht ſehr liebenswürdig von ihm, Mama?“ 
ſagte Ellen und ſah, halb lächelnd, aber doch ein wenig ver— 
legen, zu der Mutter hinüber. 

„Und biſt Du ſchon ſo ganz mit Dir im Reinen, Kind?“ 
fuhr aber dieſe, ohne auf die halb ſcherzhafte Wendung ein— 
zugehen, fort. 

„Im Reinen, Mama?“ 

„Begreifſt Du nicht, daß Du einen jungen Menſchen 
ſtillſchweigend ermuthigſt, wenn Du ihm geſtatteſt, Dir derlei 
Huldigungen zu bringen?“ 

„Aber, Mama,“ ſagte Ellen und wurde jetzt wirklich 
feuerroth, „das ſind doch keine Huldigungen! und — und 
Mr. Wilkins iſt ein ſolcher Gentleman im wahren Sinne des 
Worts —“ 

Ihre Mutter ſchwieg eine Weile und ſah ernſt und ſinnend 
vor ſich nieder; endlich fuhr ſie, aber halb wie mit ſich ſelbſt 
redend, fort: 

„Ich weiß es nicht, Ellen — ich weiß es nicht. — Manch— 
mal kommt er mir auch ſo vor, aber dennoch auch wieder 
habe ich ihn in Momenten, wo er ſich vielleicht vergaß, 
beobachtet, und es lag dann etwas in ſeinen Zügen, das 
mich — ich kann faſt ſagen — erſchreckte, oder doch mit einem 
unheimlichen Gefühl erfüllte.“ 

„Aber, Mama —“ 

„Es iſt ſo, mein Kind — es iſt ſo,“ fuhr aber die Frau 
fort. — „Wir wiſſen auch gar nicht, woher er kommt, woher 
er ſtammt.“ 

„Er ſagt ja, aus Virginien.“ 

„Ja, er ſagt das, und unſere älteſten Familien leiten 
ihre Abkunft daher, aber Niemand kennt die ſeine, und was 
er eigentlich gelernt hat — was er im Leben treibt, darüber 
ſchwebt ebenfalls ein völliges Dunkel.“ 

„Sein Vater hat ja dort bedeutende Plantagen,“ fiel 


Ellen ein, „und nur durch den letzten Krieg große Verluſte 


erlitten.“ 


Fr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 32 


498 


„Ja, er jagt das, aber, liebes Kind, in unferem weit au: 
gedehnten Lande it mit jolchen Verficherungen ſchon großer und 
böſer Mißbrauch getrieben worden, und ich Fenne zwei recht ſchmerz— 
liche Beifpiele danon aus meiner nächſten Bekanntſchaft. Er- 
innerft Du Did noch an Jane Laywood, die mit ihren Eltern 
von New-York nah New-Orleans 309g und dort in die Hände 
eines ſolchen Buben fiel?’ 

„Ach Gott ja," ſeufzte Ellen tief auf, „die arme Jane — 
fie hat fi ja in ihrer Verzweiflung die Adern aufgejchnitten ! — 
Aber, Mama, Du mwillft doh um Gottes willen mit jenem 
Buben und Mr. Wilfins feinen Bergleih —“ 

‚Nein, Kind, nein,’ fagte die Mutter raſch, „aber nur 
aufmerffam machen wollte ih Dih, was gefchehen kann, 
und Did dadurch warnen, nicht zu rafch einen Entihluß zu 
fafjen. Weder ich noch Dein Papa würden außerdem unfere 
Einwilligung geben, bis wir nicht die genaueften Nachforſchungen 
eingezogen hätten.’ 

„sohn Wilfins ift gewiß ein Ehrenmann.“ 

„sh hoffe e8 und wünſche es von Herzen — aber da 
fommt Beſuch. — Wer ift der Herr? — Kennit Du ihn?‘ 

Ellen drehte fich rajch nach dem Geräufh um, das nahende 
Schritte auf dem Kies vor dem Haufe machten. 

Es war ein junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, 
mit blonden fraufen Haaren und eben ſolchem Bart, aber 
etwas verwildert in feiner ganzen Erſcheinung, wie man hier 
allerdings in der Delregion die meiften Herren gehen jah. 
Mer Fonnte bei der Arbeit, und ſelbſt zwilchen allen Diejen 
dligen Häufern, auch immer jauber und adrett erjcheinen ? 
Nur faubere Wäfche wurde verlangt, und darauf halten die 
Amerikaner viel. Mit al’ dem Andern nahm man es aber 
bier nicht jo genau. 

Der junge Fremde trug einen jehr hübſch gemachten, aber 
Ihon arg mitgenommenen lederfarbenen Rod von engliihem 
Stoff; vorn an der linfen Schulter war ein Loch hinein: 
gerifjen — ebenfo am rechten Ellbogen, und Yettfleden zeigte 
er überall. Auch war fein rechter Stiefel durch Querſchnitte 
veranlaßt worden, etwas bequemer zu fiben, und die geitopften 
Kniee an den Beinkleidern verriethen außerdem, daß er auch 


499 


diefen Körperiheil ftrapazirt haben mußte. Die großen blauen 
Augen ſchauten aber treuherzig umber, hafteten erit einen 
Moment wie ftaunend auf der jungen Dame und flogen dann. 
zu ihrer Mutter hinüber. Dann aber z0g ein leichtes Lächeln 
über feine Züge, und die Stufen, ohne weiteren Gruß oder 
auch nur eine Einladung abzuwarten, hinanjpringend, eilte 
er auf die Mutter zu und rief mit fajt bewegter Stimme: 

„Mrs. Barker — kennen Sie mid nicht mehr? — Habe 
ih mi fo verändert — aber Ihr Anblid thut Franken 
Augen wohl — Ellen, haben aud Sie mich vergeſſen?“ 

„Bless my soul!“ fagte die Frau erfchredt, indem fie fid 
in ihrem Stuhl emporricdhtete und den jungen Mann mit 
großen Augen anſah — „mie ift mir denn? — Ich jollte 
doch — die Stimme fommt mir fo befannt vor.‘ 

„Mr. Franklin!“ rief aber in diefem Nugenblide Ellen, 
‚die ihn mit gejpannter Aufmerkjamfeit betrachtet hatte. 

„George! bless your soul, boy!“ ſchrie die Mutter und 
ſtreckte ihm beide Hände entgegen — „bilt Du’s denn? — 
Menſch, wie fiehft Du aus, wo kommſt Du her?‘ 

George Franklin warf einen flüchtigen, aber doch halb 
lächelnden Blid an feinen Kleidern nieder, denn daran hatte 
er felber nicht gedaht — aber was kam aud darauf an, 
noch dazu hier in den Bergen, und fröhlich fagte er: 

„Wo ich her komme, Mutterhen, weit von draußen aus 
der Welt, jebt eigentlih von New-Orleans, jonft aber aus 
Merito, wo ich ſechs Jahre gelebt, bis mir die edeln meri- 
kaniſchen Republifaner den Aufenthalt in dem ſchönen Land 
vergällten.“ 

„Aus Mexiko?“ ſagte Ellen erſtaunt. 

„Und Ellen!“ rief George raſch, indem er ihr herzlich 
die Hand entgegenſtreckte — „wie groß und hübſch das Mäd— 
chen geworden iſt in den zehn Jahren, die ich ſie nicht ge— 
ſehen. Und wie lieb von Ihnen, Ellen, daß Sie den Jugend— 
geſpielen in der langen Zeit nicht vergeſſen haben. Nur das 
„Mr. Franklin!“ klang mir fremd. Sch glaube, jo Haben 
Sie mid in Ihrem Leben noch nicht genannt.‘ 

Ellen wurde feuerroth — es kam ihr jelber jo fonderbar 
vor, daß fie der junge Mann bei Ihrem Vornamen nannte, 

32* 


00 


und doch hatte er ja eigentlich ein Recht dazu, und die Mutter 
ſchien ebenfall® nicht darin zu finden. Was aber würde 
Sohn Wilfins jagen, wenn er fie jo vertraut mitſammen 
Iprehen hörte — wie fonderbar, daß ihr jebt gleih John 
Wilkins einfiel, | 

„ber, George,‘ rief Ellen's Mutter, die den jungen Mann 
indeffen mit Wohlgefallen betrachtet hatte. — „Junge, feb’ 
Did, Du fährft und fpringit da herum, daß es mir ordent: 
lih vor den Augen flimmert — Herr Du meine Güte, was 
für einen ſchäbigen Hut trägt Du! — und nun laß einmal 
ernfthaft mit Dir reden — erzähle — wie ilt es Dir er: 
gangen? Was treibft Du jetzt?“ 

„Du Fieber Himmel,’ jagte George, der feinen alten Hut 
unter den Stuhl geworfen, indem er die Hände faltete, „wenn 
ih da ausführlich fein wollte, Mütterchen, jo könnte ich die 
ganze Nacht erzählen und würde doch noch nicht fertig, aber — 
ih kann e8 auch mit ganz kurzen Worten machen. — Daß 
der Vater fallirte, wiffen Sie — die Mutter ftarb an dem 
Schreck, er bald nachher, und als ein blutjunger Menſch ver: 
ließ ich New: York und ging in die weite Welt hinaus, um 
dort mein Glück zu ſuchen. — Ih zog nah Meriko, hatte 
Glück, fand ein Mädchen, das mich liebte — 

„Sie find verheirathet?“ rief Ellen unwillfürlih aus. 

„Ich war es,“ ſagte George mit einem recht aus voller 


Bruft heraufgeholten Seufzer — „und heirathete. — Es 
waren ſchöne, glüdlihe Zeiten — ich glaubte den Himmel 
auf Erden gefunden zu haben — und das in einem Land 


vol paradiefifcher Schöne — aber ed beherbergte Teufel. Auf 
einer furzen Fahrt in der Nähe der Hauptitadt wurde unjere 
Diligence von Straßenräubern angefallen und mein Weib an 
meiner Seite erfhoffen. Ich tödtete einen der Schufte,“ fagte 
der junge Mann nah einer kurzen Paufe, und fein Auge 
glühte Dabei — „aber das Unglück war geichehen, und eben 
fo Schweres faft ſtand mir bevor, als ich, beim Ueberfall 
einer Guerillabande im lebten Kriege — und Räuberbanden 
waren es alle miteinander — flüchten mußte, während mein 
Kind, das arme Fleine Weſen, an einem Hikigen Fieber dar— 
nieder lag und draußen in den Bergen in meinen Armen ftarb. 


501 


Meine ganze Befikung wurde damals zerjtört, mein Haus nieder: 
gebrannt — ja ich mußte jelber den Drt meiden, um nit den 
räuberifhen Schwärmen de3 ſiegreichen Indianers in die Hände 
zu fallen. — Da befam ih Merifo ſatt, ging nach Weftindien, 
dann nad) New-Granada, und zulekt nun zog mich die Sehn— 
ſucht doch wieder in das Vaterland zurück.“ 

„Du Tieber Gott, ſagte Mrs. Barker, die tiefbewegt dem 
einfachen Bericht gelaufht — „noch fo jung und jchon fo 
viel ertragen!’ 

„Bah!“ fagte George, der mit der Erzählung auch ge: 


waltfam die alten trüben rinnerungen abſchüttelte — „ſo 
lange wir nur den Kopf oben behalten, hat das Alles nichts 
zu jagen und ift eben ein Uebergang.“ ⸗ 


„Aber wie in aller Welt haft Du und — aufgefunden, 
George?“ ſagte Mrs. Barker, die in der ſchlanken kräftigen 
Geſtalt des jungen Mannes doch immer nur noch den Knaben 
vor ſich ſah, den ſie ſonſt, ſeiner Wildheit wegen, ſo oft 
mütterlich ausgeſcholten, ſchauten fie doch, wie damals, die 
großen blauen Augen deſſelben ſo treuherzig an. — ‚Wir 
hatten feine Ahnung, wo Du ne jein könnteſt, nad 
Californien oder fonft wo, und dachten fhon gar nicht mehr 
daran, Dich je wieder zu fehen. Ä 

„Ich wil’s Ihnen glauben, Mutterchen,‘’ lächelte George 
wehmüthig, „denn heimathlos habe ich mich Tange genug herum: 
getrieben — aber wie das oft fo wunderbar im Leben geht. 
IH bin heute eigentlich nur einer Geſchäftsſache wegen nad 
Smithfield herübergefommen, nämlih um einen Yankee zu 
iprechen, dem ich etwas abfaufen wollte, — Da fchlenderte ich 
dort unten herum — es gab einen Streit — ich traf einen 
alten Bekannten und — einen Burfchen, dem ich ſchon früher 
in Mexiko begegnet war, und fah, daß dieſer herauf zu 
diefem Haufe ſchritt. Das Haus felber fiel mir außerdem 
auf, es unterfcheidet fi durch feine zierliche Bauart ſo vor- 
theilhaft von den übrigen, und als ich eigentlich zufällig nad 
dem Namen des Befiters frug, wurde mir der Eurige ge 
nannt. — Barkers giebt es nun allerdings eine Menge in den 
Staaten, aber der Name hatte doch feine alte Anziehung3- 
fraft — ich wollte wenigftens fehen, wer hier wohnte, und 


502 


wie ih nun an die Veranda trat und Ellen’3 liebes Geficht 
da erblidte, und Ste, mein gutes Mutterhen, da ging mir 
das Herz auf, und ich hätte laut hinausjubeln mögen in Die 
Ihöne Welt.‘ 

„Und was treiben Sie jebt, Mr. Franklin? frug Ellen. 

„Mifter Franklin, wiederholte George finnend — „mie 
fonderbar das aus Ihrem Munde Klingt, Ellen! Und doch 
haben Sie Recht. — Wir find älter geworden — mir find 
ung nicht mehr, was wir uns früher fein durften, fröhliche 
gedanfenlofe Kinder, die die Welt nur wie einen großen 
Blumenteppih vor fi Tiegen jahen. Ich ſollte auch eigent- 
ih nicht mehr zu Ihnen Ellen fagen und müßte Sie von 
Rechts wegen ehrfurhtsvol Mit Barker nennen — und doch 
will mir das Wort, das mir gar jo unnatürlich Elingt, nicht, 
über die Lippen. Miß Barker — e8 wäre das, als ob 
wir und im Leben noch niht Du genannt, und um die Wette 
gelaufen wären und einander in tollem Muthmwillen gehajcht 
hätten. Es geht niht, Ellen — e3 geht wahrhaftig nicht ! 
Nehmen Sie mir’3 nicht übel, aber — ich bring’s nicht über 
die Zunge.“ 

„Das ſchadet auch nichts, George,“ ſagte Mrs. Barker 
gutmüthig — „nenn' Du das Kind nur noch immer Ellen, 
wie Du's von je gethan. Ich konnte Dich eben ſo wenig mit 
Mr. Franklin anreden — aber Ellen hat Recht. Ich möchte 
ſelber wiſſen, was Du jetzt treibſt und wie Du gerade hier 
in das Petroleum gerathen biſt.“ 

„Ja wie,“ lachte George, „wie die Motten um das Licht 
flattern — wenn ſie es aus der Ferne blinken ſehen. Kaum 
in den Staaten wieder angelangt und noch nicht einmal 
ordentlich warm geworden, hörte ich von den merkwürdigen 
Erfolgen der hieſigen Bohrungen und — hätte kein Yankee 
ſein müſſen, wenn ich der Lockung widerſtehen konnte. Ich 
kam hierher und — ſprang natürlich ſo raſch als möglich mit 
beiden Füßen in die ganze Geſchichte hinein.“ 

„So verſuchſt Du auch Dein Glück, und hier in Smith— 
field?“ 

„Hier, nein — etwa drei Meilen von hier in Chesnut 
grove habe ich meine Arbeit begonnen, und kam, wie geſagt, 


203 


nur ganz zufällig in einer Geſchäftsſache herüber — alfo ift 
Mr. Barker nit mit hier?“ 

„Gewiß, er verließ nur furz vorher, ehe Du herauffamft, 
das Haus, um einen andern Minenplab anzufehen. Die 
Männer haben ja jebt nichts Anderes im Kopfe als Del —“ 

„Wie ein Spermacetifiſch,“ lachte George, „natürlich — 
aber wie freue ich mich darauf, ihn wieder zu ſehen. Er 
fennt mich gewiß nicht mehr.‘ 

„Du trägit jest einen jo großen Bart und bilt fo braun 
geworden,‘ jagte Mrs. Barker — „Du ſiehſt gar nicht mehr 
wie ein Amerikaner aus.“ 

„Was thut's,“ rief George, „wenn nur das Herz 


amerikaniſch geblieben ift — doch — maß ich noch fragen 


wollte: wer war daS, der vor etwa einer halben Stunde 
Euer Haus betrat? Kennt Ihr ihn?’ 

„Unser Haus?" ſagte Mrs. Barker verwundert. — 
„Hier war heute Morgen Niemand als Mr. Wilfins, nicht 
wahr, Ellen?‘ 

„Ich habe Niemanden weiter geſehen,“ jagte das Mädchen. 

„Mr. Willins? — 0? Nur Mr. Wilkins? — Und 
den fennt Ihr genau?" frug George, und fein Dli flog 
dabei fait unmwillfürlich zuerft nad dem ſchönen und geſchmack— 
vollen Blumenbouquet, dann nah Ellen hinüber und haftete 
auf dem jungen Mädchen. 

„Aber wie fommen Sie fo plößlih auf den Herrn?“ 
ſagte Ellen, die ſich — fie wußte eigentlich jelber nicht 
weshalb, unbehaglih unter dem Blick fühlte. 

„Dur ihn wurde ich erit auf dies Haus aufmerkjam,‘ 
erwiderte George, und es fonnte ihm nicht entgehen, daß 
Ellen irgend einen Antheil an diefer Perfönlichkeit nehmen 
müffe, denn ihr Ausſehen, der ganze Ausdrud ihrer Züge 
veränderte fich zu augenfheinlich — „der Herr hatte da unten 
einen Streit mit einem jungen Manne meiner Bekanntſchaft.“ 

„Aber weshalb?’ frug Mrs. Barker, „Mr. Wilkins 
ſcheint mir doch fonft gerade nicht ftreitfüchtiger Natur.‘ 

„Er fing auch diesmal nicht an, fuhr George fort, beob- 
achtete aber, einmal mißtrauifch gemacht, Ellen's Züge nur um 
jo ſchärfer — „der junge Lewis nur — aus einer jehr 


504 


ehrenwerthen Familie und felber ein durchaus braver, redlicher 
Burfche, bejchuldigte den Herrn, daß er feinem Bruder einen 
ſehr werthvollen Oelplatz — im falſchen Spiel abgejchwindelt 
hätte. — Fehlt Ihnen etwas, Ellen? — Sie werden ja 
todtenbleich !’' 

„Mir 2‘ rief das junge Mädchen, fih gewaltſam zufammen- 
nehmend? — „mir? — gewiß nidt, aber — aber Mr, 
Wilfins hat ihn doch gleich zu Boden gejchlagen ?' 

„Nein, fagte George troden, „er that nichts dem Aehn— 
liches, und ich felber faßte Frank Lewis und hielt ihn ab, auf 
den — Lump einzufpringen.‘ 

„Bless my soul!“ rief Mrs. Barker und faltete erichredt 
ihre Hände. 

„Dr. Franklin, rief — jetzt Ellen, die ſich tief verletzt 
fühlte, empört aus — „iſt das eines Gentleman würdig, 
einen Abweſenden zu beſchimpfen?“ 

Wieder flog George's Blick nah dem Blumenftrauß hin: 
über, aber er ermiderte ruhig: 

„Und glauben Sie, Ellen, daß ich. hier etwas Anderes 
äußern würde, als was ich nicht jeden Augenblid bereit wäre, 
dem Betreffenden auch in's Gefiht zu jagen? — mahrlid) 
nit! — aber —“ ſetzte er dann leiſe Hinzu, „ich möchte nicht 
gleih beim erjten Wiederfehen Ahnen mehe thun — menn 
audh der Arzt manchmal gezwungen ift, eine Wunde zu 
ſondiren.“ 

„Ich verſtehe Sie nicht,“ ſagte Ellen, noch immer halb 

ereizt. 
— Sie das jetzt ſein, Ellen, und mich nur noch eine 
Trage an Ihre gute Mutter richten, Iſt Mr. Barker mit 
diefem Mr. Wilfins fortgegangen, um ein Geſchäft ab- 
zufchliegen, Mutterchen ?'' 

„Gewiß ift er, jagte die Frau nicht ganz unbeſorgt — 
„es war die Rede von einer ſehr günftig gelegenen Stelle, die 
er faufen wollte.“ 

„Und fie find bingegangen, um Lie anzujehen ?'' 

„Ich glaube, ja.’ 

„Danke Ihnen, dann weiß ich Alles, was ich zu willen 


209 


brauche,‘ ſagte George, wieder nad feinem Hut greifend; 
„aljo, Mutterchen, ich darf Doch wieder herkommen?“ 

„Darfſt wieder herfommen, George? Wie Du nur fo 
reden kannſt,“ rief die Frau in mütterlider Liebe — „alle 
die alten lieben Zeiten leben wieder auf in mir, wenn id 
Did anfehe, denn in unferem Haufe bift Du ja doch groß 
geworden und haft Deine jchönfte Jugendzeit verlebt.‘ 

‚Das hab’ ih, Mutterchen, das hab’ ich,“ fagte George 
herzlich, „und den alten Plab dafür auch immer in der Er- 
innerung body und werth gehalten. — doch good bye für jetzt, 
Ellen. Bekomme ich nicht einmal eine Hand ? Seien Sie mir 
nit böfe, — Sie willen gar nit, wie gut ich's mit 
Ihnen meine.‘ 

„Ah, Mr. Franklin,” fagte Ellen, indem fie ihm aber 
doch die Hand gab, die er herzlich drüdte — „ich war nur 
böje, daß Sie fo häßlich ſprachen. Man fol feinem 
Menſchen etwas Böſes nachſagen, am wenigjten aber —“ 

„Am wenigiten, Ellen? —“ 

„Am menigjten aber Jemandem, der nicht da ift und fi) 
nicht vertheidigen kann. — Und dann darf man auch nicht 
Alles glauben, was irgendwo ſchlechte Menjchen über 
Semanden, den ſie nicht leiden können, erzählen.‘ 

Ueber George's Antlib flog ein leichtes, aber doch weh: 
müthiges Lächeln, als er das junge Mädchen da, jo in Eifer 
erglühend, vor fich ftehen jah, aber er ermiderte nicht dar: 
auf. — Nur „Sie haben Recht, Kind, nidte er ihr zu 
und ſprang dann leichten Schrittes die Stufen hinab, die 
auf den vordern Platz führten. Dieſen kreuzte er und ver: 
ſchwand dann hinter den nächſten Häufern und Derrids ihren 
Blicken. 


806 


4. 
Eine Entdeckung. 


George hatte Mr. Barker's Wohnung mit rafhen Schritten 
verlaffen, aber er zügelte diefe ein, je weiter er fich davon 
entfernte, denn eine Menge von Gedanken gingen ihm im 
Kopfe herum, die er erit in ſich Flären und fihten mußte. Cr 
achtete deshalb auch gar nicht auf das ihn umgebende Leben 
und Treiben, bis er in eine Anzahl von Menfchen hineinge- 
rieth und wohl bemerken mußte, daß hier etwas Außergemöhn- 
liches vorging. 

„Halo, George! rief ihn ein Bekannter an. „Wie geht's, 
alter Junge? Einmal zum Beſuch herüber nad Smithfield 
gekommen? Nun, wie läuft die Welt?‘ 

„Gut, Lawrence — dankte," fagte George, zeritreut auf- 
jehend, „aber was geht bier vor? — Was habt hr hier 
Alle miteinander ?' 

„Eigentlich nichts Beſonderes,“ jagte Lawrence, denn in 
damaliger Zeit war Jeder viel zu jehr mit fid) felber beichäftigt, 
um fi) bei den Sorgen Anderer lange aufzuhalten — „es 
braden nur — vor wenigen Minuten eben — ein paar 
Tlammenftöße aus der Mafchine dort heraus und fuhren ein 
ganzes Ende über den Weg. Es ſah fonderbar genug aus, 
das ift wahr, und die Leute jammelten fih raſch und warten 
jet, daß es noch einmal fommen fol.’ 

„Sin paar Flammen? — von unter den Kefjeln her?‘ 

„Isa gewiß — es ſchoß wie eine glühende Doppelzunge 
acht oder neun Fuß aus der Maſchine vor, und ſah wirklich 
beinah jo aus, als ob e& die Luft, die vor dem Kefjel lag, ge- 
faßt und angezündet hätte und gern noch weiter gefahren wäre, 
Es riecht auch genau hier, als ob die ganze Atmoſphäre allein 
aus brennbarem Gas beftände.‘‘ 

„Ja, Gentlemen,’ beftätigte ein Anderer der Leute — „es 
jah famos aus — genau jo wie der „Yeuerftrahl, wenn eine 


07 


Kanone abgefeuert wird — nur zehnmal länger und vorn 
ganz ſpitz — Mullins da drüben wollte gerade vorbeigehen, 
ala es ihn faßte, und einen Satz machte er bis dort hinüber — 
hahaha! —“ 

„Da haben ſie hier wahrſcheinlich zu ſtark gefeuert 
oder gar Petroleum in die Flamme gegoſſen, um den Keſſel 
raſcher heiß zu bringen,“ ſagte George; „das geſchieht manch— 
mal und iſt eine verwünſcht gefährliche Geſchichte.“ 

„Gott bewahre!“ meinte Lawrence wieder — „es war in 
dem Augenblicke ſogar Niemand bei der Maſchine — der 
Ingenieur kam nur nachher wie toll angeſprungen. Aber 
gleich dort drüben iſt die flowing well”), und da der Wind 
jebt gerade von dort fommt, wirft er das ganze ausftrömende 
Gas bier nach) dem Dfen herüber. Im Ganzen ſchadet das 
wohl nichts, kommt e8 aber einmal ein bischen zu Did, 
dann fängt e8 Feuer und blitt eben ab, wie Pulver von der 
Pfanne.‘ 

„Es ſcheint vorbei zu fein,” ſagte George, der nad 
einen lebten Blick auf das Feuer unter den Kefjeln warf, 
ziemlich gleihgültig — „doch was ih Did fragen wollte, 
Lawrence, haft Du den alten Mr. Barker von New-York, 
denfelben, dem das hübſche Haus da oben gehört — nicht jebt 
irgendwo bier geſehen?“ | 

„Barker ?’' fagte Lawrence, „ja wohl — er ging vor einer 
Meile hier vorbei und nachher dort hinüber, aber wo er jebt 
ftedt, kann ich nicht jagen.‘ 

„Bar er allein?’ 

‚Das weiß ich eben fo wenig," jagte Lawrence, mit den 
Achſeln zuckend; ‚man begegnet hier jo vielen Menſchen und 
achtet eben nicht darauf.‘ 

„Thank you,“ nidte ihm George zu und wandte fich ab, 
um der angegebenen Richtung zu folgen, als ihm ein Fichter 
Feuerfhein fast die Augen blendete und heiße, eritidende Gluth 
ihn umfloß, fo daß er erfchredt zur Seite ſprang. Er er: 





*) Flowing wells werden die von ſelbſt fließenden Quellen ge— 
nannt, die wie ein artefiiher Brunnen das Del herauftreiben, mit 
Diefem aber auch eine bedeutende Menge von Gas ausitoßen. Sie 
Kiefern natürlich den größten Ertrag. 


808 


‚fannte dabei auch noch deutlich, daß die Flamme wieder genau 
fo, wie es ihm vorher bejchrieben worden, aus dem Heizungs: 
raum unter dem Keſſel vorfam; fie jchien aber weniger 
in einem Strahl auszuftrömen, jondern eher, für einen Moment 
etwa, einen beftimmten, aber noch begrenzten Raum anzufüllen, 
wo fie fih dann raſch auch felber wieder verzehrte und damit 
ſchwand. 

„Da iſt's wieder!“ zuckte der Ruf durch die Umſtehenden, 
und viele von dieſen ſchienen wirklich erſchreckt und meinten, 
man ſolle das Feuer unter dieſem Keſſel wenigſtens ſo lange 
auslöſchen, als der Wind hier gerade herüber ſtände. In 
dem Fall hätte aber die Pumpe der Leute, denen dies Bohr— 
werk gehörte, auch ſo lange die Arbeit einſtellen müſſen und 
keine Gallone Oel mehr zu Tage gefördert, und daran dachten 
ſie natürlich gar nicht. — Was kümmerte ſie das Blitzen, 
das ihrem Keſſel doch nicht ſchaden konnte! Andere lachten 
aber auch wieder über ſolch' unnöthige Vorſichtsmaßregeln und 
meinten, dann müßten ſämmtliche Feuer in der ganzen Region 
ausgelöſcht werden, und ſo verrückt wären ſie doch nicht. 

„Caramba!“ rief George aber, der mit den Fingern ſeinen 
Bart zuſammenzog und abſtrich und ſich dann die Hand be— 
trachtete — „das war eine tüchtige Flamme und hat mir 
wahrhaftig den Bart verſengt. Die Geſchichte gefiele mir doch 
nicht, wenn ich hier in der Nachbarſchaft tanks und Bottiche 
mit Oel ſtehen hätte.“ 

„Ach was,“ ſagte ein langer Burſch, der mit den Händen 
in den Taſchen an ihnen vorüberſchlenderte — „kann uns gar 
nichts Beſſeres hier paſſiren, als daß uns das Gas manchmal 
ein bischen wegbrennt. Das reinigt die Luft, und wir werden 
den verdammten PBetroleumgeftant für eine Weile los. Who, 
the hell, cares!“ 

George fürchtete gerade Feine Gefahr, aber er blieb troß- 
dem noch eine Weile dort ftehen, um zu jehen, ob fih das 
Schaufpiel wiederholen würde. Hatte fich aber der Wind in 
etwas gedreht, oder war das vorhandene Gas wirklich ſchon 
verbrannt, es gefchah nicht3 weiter, und der junge Mann 
verfolgte endlich feinen Weg wieder. 

Wie fehr er aber auch dabei mit feinen eigenen Gedanken 


509 


beihäftigt fein mochte, jo mußte ihm doch die merkwürdige 
Veränderung auffallen, die in den wenigen Wochen, feit er 
Smithfield nicht gejehen, mit dieſem Plab vorgegangen. Seit 
vierzehn Tagen war er nicht hier geweſen, und wie hatte fich 
in der furzen Friſt der Eleine Platz, der damals nur erſt aus 
wenigen erbärmlihen Hütten beitand, vergrößert, wie war e3 
nad allen Seiten auch ausgewachſen — fait wie ein großer 
Vettfled, der zuerjt au3 einem einzigen Tropfen raſch nach allen 
Seiten ausläuft. Der Vergleich paßte auch hier vortrefflich, 
Smithfield war in der That nichts als ein großer Tettfled, 
denn fein Stückchen Raſen gab e3 in dem weiten Raume, das 
nit von Petroleum geſchwärzt gewejen wäre, fein Haus, das 
nicht überall, wo man es nur angreifen fonnte, die ſchmutzigen 
Merkmale zeigte, Fein Fenſter, Fein Handwerkszeug ohne Del. 
Selbſt die Pferde und Maulthiere liefen herum, als ob fie 
pomadilirt worden wären, rochen aber nur anders, und jelbit 
die Straßen, auf denen die ewigen Transporte gingen, ſahen 
vollkommen ſchwarz und fettig au. 

Und trogdem waren in der kurzen Zeit nicht blos Wohnungen 
entitanden, die gefhafft werden mußten, wenn die Be: 
völferung hier eriftiren follte, nein, auch Kirchen und Hotels 
fprangen neben einander auf, und überall konnte man dabei 
noch erfennen, wie die Zimmerleute emfig bejhäftigt waren, 
neue Käufer aufzuftellen. — Sa ſelbſt ein Rathhaus hob ſich 
ſchon empor. 

Eigenthümlihe Gruppen bildeten dabei die einzelnen in 
Angriff genommenen Stellen, auf denen man nad Del bohrte 
oder ſchon gebohrt hatte. Dieſe bejtanden regelmäßig aus 
einem niedern Schuppen, in welchem die Mafchine ftand, wie 
auch in jenem hohen Holzgeftell, nicht unähnlih einem Ob— 
fervationspoften an niederem Strand — dem Derrid, mit 
welchem entweder der Bohrer gehoben wurde, oder in welchem 
ſchon die Pumpe hing und durch Dampfkraft unabläffig auf- 
gezogen wurde. Die Mafchine arbeitete dabei Tag und Nacht, 
Sonntag und Werktag, denn fo lange e8 Del dort unten gab, 
durfte auch nicht mit dem Heraufholen gezögert werden, oder 
ein Anderer hätte vielleicht, wenn auch auf anderer Stelle, 
zufällig diefelbe Delquelle anbohren Fönnen. Aus dem engen 


—510 


Pumpenarm aber, der nur einige Zoll im Durchmeſſer hielt 
und genau ſo ſtark war, wie das eingebohrte Rohr ſelber, 
kam mit jedem Stoß die dunkelgrüne, nicht gerade trübe, aber 
doch undurchſichtige und mehr opalartige Maſſe des Oels 
herauf und lief, bald ſtärker, bald ſchwächer, in einen ſie auf— 
fangenden Bottich. 

Es hat ſchon, wenn man ſelbſt nicht einmal bei Gewinn 
oder Verluſt des Ertrags betheiligt iſt, etwas ungemein 
Intereſſantes, das Hervorquellen des Oels aus ſeiner ge— 
heimnißvollen Tiefe zu beobachten. Außerdem unterliegt es 
gar keinem Zweifel, daß die Maſſe da unten nicht etwa ſtill 
und regungslos in ihren Behältern ruht, ſondern in einem 
ewigen Steigen und Fallen, wie das Wogen der See, be— 
griffen iſt. Selbſt bei dem Aufpumpen des Oels läßt 
ſich das deutlich erkennen, denn ſo regelmäßig die von der 
Maſchine getriebene Pumpe ſelber arbeitet, ſo unregelmäßig 
fließt das Oel oder kommt es zu Tage. Bald läßt es nach, 
als ob die Maſſe da unten erſchöpft und nicht mehr im Stande 
wäre, die Pumpe zu füllen, ſo daß ſchon Mancher, der große 
Capitalien in die Arbeit geſteckt, in Todesangſt über das 
Ausbleiben ſeiner Ernte gerieth; bald ſcheint es neue Kraft 
zu gewinnen und läuft jtärfer als je zuvor.) 

Unfern von dort befand ſich die zweite flowing well von 
Smithfield oder ein im wahren Sinne des Worts „laufender 
Oelbrunnen,“ der einen fo ftarfen Strahl hatte, daß er alle 
vierundzwanzig Stunden weit über hundert Fäſſer Petroleum aus— 
hob. Große, mit Mennigfarbe roth angejtrichene eiferne Tanks, 


*) Es ift außerdem eine merkwürdige und bisher unaufgeflärte 
Thatfahe, daß ſämmtliche Quellen, und felbft die offenen Wald- 
bäche in den Bergen bei Nacht viel ftärfer fließen und bedeutend 
mehr Wafler geben al am Tage. Recht deutlich fonnten wir das 
früher an manden Stellen in den californiihen Bergen beim Gold- 
auswaſchen erfennen, wo wir über Mittag gewöhnlich nicht genug 
Wafler hatten, um nur unjere Pfannen zu füllen. Kaum aber rückte 
der Abend heran, und ſchon nad vier Uhr Nachmittags ftieg das 
Wafler in den Bähen, und das trat fo regelmäßig ein, daß mir 
endlich den Tag Über gruben und nur erjt gegen Abend das Aus— 
wajhen begannen — und jo ſcheint es auch mit dem Steigen und 
Sinfen des Dels der Fall zu fein. 


511 


die etwas tiefer als die eingejtellten Röhren ftanden, fingen 
das Del auf, und aus diejen floß e8 dann wieder in blechernen 
Ableitungsſchläuchen den Berg hinab, um gleich in Fäſſer ge: 
lafien und der Raffinerie zugeführt zu werden. 

Hier, in der That, war der Gasgeruch fo ftark, daß er 
das Athmen erſchwerte; hier jtand aber auch weiter feine ge 
heizte Mafchine, ja befand fih nicht einmal ein Auffeher, der 
das Ganze überwadhte. Das Del ftieg ruhig und unaufhaltſam 
aus der Tiefe herauf in die ihm. hingeftellten Gefäße, und 
Alles was der Eigenthümer zu überwachen hatte, war, darauf 
zu achten, daß der untere Tank, der alles Andere aufnahm, 
nicht überlif. Der Inhalt mußte ununterbrohen und bei 
Zeiten geleert werden, um eben dem übrigen Segen Raum zu 
geben. 

Als George diefe Stelle erreichte, blieb er unwillkürlich 
ſtehen und betrachtete fi) aufmerffam den ganzen Apparat, 
wie ebenſo das faft unheimliche und zugleih unregelmäßige 
Brauſen und Sprudeln, das aus der Tiefe herauftönte und 
Gas und Del mit unmwiderftehliher Kraft zu Tage trieb. Er 
Ichten dabei gar nicht bemerkt zu haben, daß noch ein anderer, 
ſehr anjtändig gefleideter Herr unfern von ihm jtand und den 
Blick ebenfalls feft auf die eilerne, erſt gerade auffteigende 
und dann etwad nah unten gebogene Röhre geheftet hielt. 
Bielleiht bemerkte er ihn auch, aber wer achtete in dieſen 
Bergen und Derhältnifjen viel auf einen Fremden, wo Jeder 
doch nur für ſich felber einftehen mußte, und deshalb nur in 
höchſt jeltenen Fällen Snterefje an dem Nachbar nahm. 
| George hatte fi), als er Mr. Barker's Haus verließ, eine 

Gigarre angezündet und diefe, während er durch den Kleinen 
Drt ſchritt und ganz mit feinen eigenen Gedanken befchäftigt 
mar, weiter geraudt. Gelbit hier, unmittelbar vor der flowing 
well und in al’ dem umbherjtrömenden Gas, dachte er gar 
nicht an irgend eine Feuersgefahr und rauchte ruhig weiter, 
als er eine leichte Hand auf feiner Schulter fühlte und eine 
ernjte, aber freundliche Stimme fagte: „Mifter, glauben Sie 
nicht, daß es befjer wäre, wenn Sie hier Ihre Cigarre aus: 
gehen ließen? Es hat vielleicht feine Gefahr, aber man fann 
doch eben nicht willen.‘ 


912 


„Ale Wetter, ja!’ rief der junge Mann, als er, darauf 
aufmerffam gemadt, ſelber erjchredt die Cigarre von fich warf 
und mit dem Fuße austrat. — „Danke Ihnen, Sir — Sie 
haben Recht, und ich dachte wahrhaftig felber nit daran.’ 

„Denn wir fortwährend jo mitten in der Gefahr leben,“ 
bemerfte der alte Herr, „ſo gewöhnen wir uns zuleßt fürmlid) 
daran und werden manchmal etwas zu dreiſt.“ 

„Gewiß, gewiß! rief George „Die Geihichte Hier 
fönnte erplodiren und dann — Cr Hatte, während er 
ſprach, den Fremden forichend betrachtet; jetzt brach er plötzlich 
ab und ſtutzte. — „Aber wie ift mir denn — ich) glaube 
faum, daß ich mich irre. Mr. Barker! — Kennen Sie mid 
nicht mehr?“ 

Mr. Barker, alfo angeredet, jah den jungen Mann einen 
Moment jharf und forichend an, dann aber fehüttelte er den 
Kopf und fagte ruhig: 

„Man begegnet hier in der Delregion jo vielen Perſonen, 
die man allerdings daheim, aber in anderen DVerhältniffen 
und anderer Kleidung gefannt hat. Sie müfjen mid 
entfhuldigen; Sie kommen mir allerdings befannt vor, 
aber ich kann mich doch in dem Augenblick nicht beſinnen.“ 

‚Und George Franklin kennen Sie nicht mehr?” 

„George Franklin?‘ rief Mr. Barker faſt erfchredt aus, 
indem er den jungen Mann eritaunt betrachtete. „Segne 
meine Seele, boy, wo fommjt Du — wo fommen Sie plößlich 
hergeſchneit?“ 

„Eigentlich,“ ſagte George, „bin ich ſchon ſeit drei Wochen 
in der Oelregion und lebe auch — ich könnte faſt ſagen — 
dicht dabei, in Chesnut grove.“ 

„Und wad machen Sie hier?‘ 

„Was ich hier made?" lachte George. „Das Nämliche, 
was meine Nachbarn thun. Wir fuhen nad) etwas an Stellen, 
wo wir gar nichts verloren haben, wollen aber dabei dem 
Glück die Gelegenheit bieten, und die Hand zu reihen.‘ 

„And wenn das nicht gejchieht ?‘' 

„Dann war e8 nichts, ſagte der junge Mann leichtfertig, 
„als ein abgefchlagener Sturm auf die in der That etwas 
unzuverläffige und launifche Dame Fortuna, und man beginnt 


513 
wo ander von Neuem, darf nur nicht Alles auf eine Karte 
ſetzen.“ 

„Hm — ja, Mr. Franklin,“ ſagte Barker nachdenklich, 
„darin haben Sie freilich wohl Reht — man [ollte es 
eigentlich nicht thun, aber wenn man gewinnt, verdient mar 
auch fo viel mehr.‘ 

„Und wenn man verliert, ift man bankerott,“ bemerkte 
George troden. „Ich für meine Perſon liebe e8 immer, ein 
paar verſchiedene Eifen zugleich im Feuer zu halten, und habe f 
mic bis dahin vortrefflich dabei befunden.‘' | 

„Es geht Ihnen gut?‘ fagte Barker, warf aber dabei 
faft unmillfürlih einen Blick auf die nichts weniger als 
elegante Kleidung des jungen Mannes. Cr hatte Öeorge 
Franklin ala Kind in feinem Haufe gehabt und war gewohnt 
gewefen, ihn fait wie einen Sohn zu betrachten, und doch 
überfam ihn in diefem Augenblick ein allerdings noch unbe 
ftimmtes, aber nichtsdeftomeniger fatale Gefühl, daß der 
junge Mann nämlich von ihm Geld borgen wolle, und was 
er bejaß, darüber hatte er ſchon, und fait im Uebermaß, 
verfügt. | | 

„So ziemlich ,’' warf aber George leiht hin. „Ich hatte 
allerdings im Anfang große Auslagen, hoffe die aber bald 
wieder einzubringen.‘ 

„Und find Ste nur zufällig hierher nach Smithfield ge— 
kommen?“ 

„Doch nicht ganz; ich wollte von Jemandem, der hier an— 
ſäſſig iſt, einen eiſernen Tank kaufen, der dort drüben bei uns 
liegt und augenblicklich gar nicht benutzt wird.“ 

„Das iſt dann kein anderer als der Rieſentank von 
Gloomer,“ rief Mr. Barker raſch — „die dort drüben kenne 
ich alle — alle Wetter! — Franklin! Sie ſind doch nicht 
der Beſitzer der Franklin'ſchen flowing well in Chesnut 
grove — der reichſten, die bis jetzt noch in den Bergen ge— 
funden iſt?“ | 

- George lähelte. — „Doch wohl nur ein Namensvetter,“ 
fagte er, „‚aber Del genug bringt der Herr heraus.“ 
,Fabelhaft,“ rief Barker — „wenn das noch eine Weile 
fo fortgeft, muß er ein Millionär werden — aber dann 

Sr. Gerftäder, Erzählungen le 39 


o14 


fönnen Sie au mit dem Tank nichts machen; dag Del 
würde Ihnen vanzig, bis Sie ihn voll befämen.‘ | 

George zudte mit den Achſeln und fagte: „Aber er 
braucht ja gar nicht voll zu werden.‘ 

„Und koſtet ein Heidengeld — ich wollte ihn felber einmal 
faufen. Und wo haben Sie die ganze Zeit geftedt? Hier in 
den Staaten?‘ 

„In Mexiko, Mr. Barker,“ ſagte George. „Nur zufällig 
hörte ich heute erſt Ihren Namen und hatte das Glück, Ihre 
Frau Gemahlin und Tochter wieder zu ſehen.“ 

„Sie waren in meinem Haufe?‘ 

„Gewiß,“ jagte George herzlich, „und Mutterhen war jo 
lieb und gut mit mir. Dort erfuhr ich aber au, daß Sie 
ein Geſchäft mit einem — gewiſſen Wilfins, John Wilkins 
aus Virginien, abſchließen wollten, und beichloß darauf, Sie 
aufzufuchen. Sit das geſchehen?“ 

„Was? ob ich das Geſchäft abgeſchloſſen habe?’ 

Sa Dr. Barker.“ 

„Und intereffirt Ste das fo ſehr?“ 

„Allerdings, weil ih Sie gern vor Schaden bewahren 
möchte.‘ 

„Mich?“ frug Barker erſtaunt; „und in welcher Hinficht ?“ 

„In doppelter, fagte George ernit, ſetzte dann aber 
raſch Hinzu: „Betrachten Sie mich nicht jo mißtrauiſch, lieber 
Herr, und denken Sie, daß ich) noch immer der kleine George 
wäre, der bei Ahnen früher fo freundlihe Aufnahme fand. 
Ich bin freilich älter geworden, aber das Herz ift no immer 
daſſelbe geblieben.‘' 

„ber was willen Sie überhaupt von dem Geſchäft?“ 
frug Barker, doch ein wenig beunruhigt. Er-hielt ſich allerdings 
für vollfommen fiher, aber ed kamen in Amerifa mandmal 
fo wunderlihe Dinge vor. 

‚Bas willen Sie von Mr. Kohn Wilkins?“ frug 
George ziemlich troden zurüd, — „Kennen Sie ihn von 
früher?‘ 

„Sohn Wilkins? — Nein — aber er ift — er iſt ein 
richtiger Gentleman.‘ 

„Seiner Toilette nad.‘ 


919 


„And, wie ich hoffe, auch in jeder andern Hinfiht. Kennen 
Sie ihn von früher?‘ 

„Allerdings, Mr. Barker, von Mexiko fowohl wie von 
New: Drkeand aus," ermwiderte George ernſt — „in Ihrem 
Hauje aber habe ich zu meinem Schreden bemerkt, daß er fich 
nit allein um Ellen bewirbt, nein, daß er ihr auch felber 
nicht gleichgültig iſt.“ 

„Das haben Sie bei dem einen — kurzen Beſuch be- 
merkt 2 

„Allerdings — und es hätte der ganzen Zeit dazu nicht 
einmal bedurft.‘ 

„And wifjen Sie etwas Unrechtes von ihm?‘ 


„Ich will Ihnen etwas jagen, Mr. Barker — vor der 
Hand weiß ih noch gar nit, welches Geihäft Sie mit 
Mr. Wilfins entriren wollten oder — mas ich nicht hoffe — 
ſchon entrirt haben, aber ich will einmal rathen. Mr. Kohn 
Wilkins Hat vorgeftern in Petroleum-City dem jungen Lewis 
in falſchem Spiel ein werthuolles, hier in Smithfield 
liegende Terrain abgewonnen, und e8 jollte mich gar nicht 
wundern, wenn ihm viel daran läge, das zu einem guten 
Preife und fo raſch als möglich wieder zu verfaufen.‘ 

„Per. Franklin!“ rief Barker entfekt. 

„Ihre Tochter ift dabei in feiner Gefahr," fuhr George 
mit eiſerner Ruhe fort, „er denkt gar nicht daran, fie zu 
heiraten; denn erftlih würde fie ihm nicht in feine Lebens— 
weile pafjen, und dann — hat er au) ſchon eine Frau.‘ 

„George! rief Barker und ſprang mit geballten Fäuiten 
empor — „entweder tft Kohn Wilfins ein Bube, der verdient, 
dag er an dem nächſten Baum aufgehangen würde, oder Du 
biſt ein jo — 

„Bahren Sie fort, Mr. Barker — ein jo nichtswürdiger 
Lügner, wie nur je einer von Gottes Sonne bejchienen 
wurde — wie?’ 

„Es iſt nicht möglich — nicht wahr — jebenfallß ein 
Irrthum — eine andere Perſon.“ 

„Das letztere nein,“ lächelte George ruhig, „das erſtere 
aber ſo wahr, wie ſich die goldene Sonne dort drüben dem 

33* 


916 


Untergange neigt und bald Nacht die Erde deden wird. Aber 
nun jagen Sie mir — haben Sie Wilfins den Plab abge- 
kauft?“ 

„Ja,“ ſagte Parker finſter und mit einem eigenen Trotz, 
denn er konnte ſich in das Unfaßbare nicht finden. 

„Und ihm das Geld ſchon gegeben?“ 

„Meinen Wechſel.“ 

„Dann wird er auch nicht ſäumen, den zu Geld zu. 
machen,‘ rief George raſch, „und das muß unter jeder Be— 
dingung verhindert werden. Ich weiß, daß Lewis’ Brüder 
ihon eine Klage gegen ihn begründet haben; ſie halten Be— 
weile gegen ihn. Ich ſelber bin bereit, eine andere Anklage 
gegen ihn zu jtellen, und zwar die de8 Mordes an einem 
jungen Kentudier, den er in New-Orleans erihoß und dann 
flüchtig wurde. Der Burſche ſoll uns jhon nicht entgehen, 
denn er hat mich heute hier erkannt, und daß danach hier 
ſeines Bleibens nicht länger iſt, darauf dürfen Sie ſich ver- 
laſſen.“ 

„Es wäre zu entſetzlich!“ rief Barker erſchüttert aus — 
„zu furchtbar — ich kann es mir nicht denken; ſind Sie 

Ihrer Sache auch ganz gewiß?“ 

„Wiſſen Sie,“ ſagte Franklin mit düſterem Blick und feſt 
zuſammengebiſſenen Zähnen, „daß der Burſche ſchon in 
Puebla ein öffentliches Spielhaus gehalten und eines Tages 
verhaftet und angeklagt — ja überführt wurde, einem Raub— 
anfall auf eine Goldconducta beigewohnt zu haben. Damals 
entging er nur durch die Flucht dem Strange, und einem 
ſolchen Buben wollten Sie Ihr Kind anvertrauen, Mr. Barker?“ 

Der alte Herr ſtand vor ihm, bleich und ineinander ge— 
brochen, aber George ließ ihm keine Zeit, ſich ſeinem dumpfen 
Brüten hinzugeben. Den Blick nach dem Horizont hinüber— 
werfend, ſagte er raſch: „Dort drüben ſinkt ſchon die Sonne 
hinter die Berge — in einer halben Stunde haben wir Nacht, 
und die Zeit müſſen wir noch benutzen, um jenem Herrn 
nicht wieder, Gott weiß zum wievielten Male, Gelegenheit 
zur Flucht zu bieten.“ 

„Aber was können wir thun?“ rief Barker in Ver— 
zweiflung. 


517 


„Vor allen Dingen gehen Sie direct auf das Telegraphen— 
amt, jagte George, ‚und telegraphiren Sie an das Haus, 
auf welches der Wechſel ausgeitellt ift, daß er nicht ausgezahlt 
wird. Er lautet natürlich ‚Nah Sicht‘?‘' 

‚Allerdings thut er das.“ 

„Ich dachte es mir — Mr, Wilfins ift nicht gewohnt, 
etwas halb zu thun, aber überlafen Sie alles Uebrige mir und 
den beiden jungen Lewis, und ich denke, die Sache ift in guten 
Händen.‘ | 

„And wo treffen wir und wieder ?' 

„Haben wir den Burfchen, fo komme ich zu Ihnen hinauf. 
Gehen Sie nur jelbft gleich, wenn Sie telegraphirt haben, 
nach Haufe, um ficher zu fein, daß er nicht Dort noch vorſpricht, 
denn man muß auf alle Niederträchtigfeiten von jeiner Seite 
gefaßt fein. Kommt er aber, fo nehmen Sie ihn unter jeder 
Bedingung feſt — Hülfe haben Sie ja überall hier bei der 
Hand — und nun good bye, Mr. Barfer — ich glaube, 
daß ich Hier gerade zur rechten Zeit in Smithfield eingetroffen 
bin‘ — und ohne weiter ein Wort zu verlieren, eilte er die 
Straße hinab, wo er wußte, daß ihn Einer der Lewis er- 
wartete, | 





5. 
Gefangen. 


Der Abend dämmerte, aber das rege, geſchäftige Treiben 
in der kleinen Oelſtadt änderte ſich deshalb nicht. 

Daheim, in geregelten und gewöhnlichen Verhältniſſen, 
ſehen wir wohl, wie der Abend einem großen Theil der Be— 
völkerung Ruhe und Erholung bringt. Jene Leute haben 
den Tag über gearbeitet — entweder mit Kopf oder Hand, 
oder doch wenigſtens im Bureau ihre Stunden abgeſeſſen — 
jetzt werden die Comptoire, Läden und Bureaux geſchloſſen, 


518 


und der kleinſte Beamte darf ſich Bis zum nächſten Morgen 
neun Uhr für einen Freiherrn halten. 


Nicht jo hier in den Minen, wo die geheimnigoolle Arbeit 
der Delpumpen feinen Moment unterbrodhen werden durfte, 
denn jede Minute, welche das Pumpwerk feierte, gab nicht 
allein fein Del, fondern beunruhigte auch noch außerdem den 
Befiber, da er ja gar nicht wußte, ob es, wenn auf’3 Neue 
in Thätigfeit gejebt, auch wieder Del zu Tage bringe. 

Es war in der That gar feine Berechnung möglich, wie 
lange das einmal angezapfte Del aushielt, und ſchon wenn 
es nur für eine kurze Zeit ſchwächer fam, rief es eine Menge 
von mandmal ſelbſt gegründeten Befürdtungen wach. 


Da unten, tief unter der Erde, war ein in den Sandftein- 
feljen verborgened Refervoir angezapft; jo viel wußte man 
wenigjtend, wenn die dunfelgrüne Fluth zu Tage trat, aber ob 
dafjelbe fogleich Taufende von Fäſſern oder nur eine Eleine, leicht 
zu erjchöpfende Quantität enthielt, ob es wieder mit anderen 
ähnlichen in Verbindung, oder für fich felber abgejondert ſtand, 
wer konnte es jagen? Jene merkwürdigen flowing wells 
3. B. hatte man angebohrt. Düellend und Maſſen von Gas 
aushauchend, famen fie in der eifernen Röhre emporgeftiegen 
und fülten Tank nah Tank. Der Reihthum konnte faum 
fo raſch aus dem Wege geihafft und geborgen werden, als 
es von da unten herauf nachtrieb und unerfchöpflich fchien. 
Plöglich aber, wie mit einem Schlage, jchnitt e8 da ab — 
das Del brach mit einem lebten fplutternden Schuß herauf, 
eine Mafje Gas folgte, und die Röhre ftand todt und leer 
und brachte feinen Tropfen Del mehr an die Dberflähe. Jetzt 
fette man allerdingg Pumpen ein und glaubte, daß nur 
die Triebfraft der Maſſe, vielleiht durch ein neues Bohrloch 
verurfacht, das Luft hinzugeführt, nachgelafjen hätte, der Schatz 
da unten aber noch lange durch Pumpen auszubeuten jet — 
umfonft. Die Delfuder machten bald die traurige Erfahrung, 
daß eine flowing well wohl bis zum lebten Tropfen durch 
den Luftdruck emporgehoben werden Fönne, aber dann auch 
jede weitere Arbeit umſonſt jet, ihr auch nur noch einen 
Tropfen abzuloden. Das Rejervoir war eben leer, und es be- 


519 


durfte vielleiht Jahrtaufende, um es wieder zu füllen, wenn 
es überhaupt jemals geſchah. 

Ebenſo zeigte es ſich aber auch mit den Pumpen felber, 
denn die Vorräthe da unten waren allerdings zu erjchöpfen. 
Die ganze Arbeit blieb deshalb im wahren Sinne des Wort 
mehr ein Lotteriefpiel von Leuten, die fi im Stande fahen, 
einen ziemlihen Preis für ein 2008 zu zahlen, aber gar nit 
etwa erjtaunt zu fein brauchten, wenn fie eine vollitändige 
Niete zogen. 

Die Auslagen ſchon waren ſehr bedeutend. Da müfjen 
Bohrer bis zu einer Länge von 800 Fuß in die Minen 
geichafft werden — ebenjo Eleine Dampfmafchinen, um die 
Bohrer zu treiben, denn mit Menfchenkraft dauerte e8 zu lange 
und koſtete noch mehr. Für hinreihende Gefäße mußte eben- 
falls im Voraus gejorgt werden, denn traf man auf eine 
glüdliche Ader und hatte fie nit in Vorrath, jo lief das 
edle Gut den Berg hinab und mit ihm Taufende von Dollars. 
ie oft aber geſchah es auch, daß alle diefe Vorbereitungen 
mit riefigen Geldauslagen getroffen waren, der Bohrer dabei 
tiefer und tiefer ging und zulebt doch nichts als leeres, trodenes 
Geftein an die Oberfläche brachte — aber fein Del. Wie 
oft auch, daß in 6— 00 Fuß Tiefe die Bohrer, nad der 
Diinenfprade, „foul“ wurden, d. h. daß fie fich irgendwo 
im Geſtein klemmten, und troß aller Mühe und mwöchent- 
licher Anftrengungen und Kojten nicht wieder freigemacht 
werden fonnten. Dann war nit allein Zeit und Geld, nein, 
auch das ganze Material verloren, und die Riefenarbeit mußte, 
wenn es die Mittel des Unternehmers noch erlaubten, von 
Neuem begonnen werden. 

Ein anderer Grund, der die Deljucher antrieb, ein ge: 
lungenes Bohrloch in Betrieb zu erhalten, war auch der, daß 
man nie wußte, ob nicht diefelbe Duelle, aus der man jchöpfte, 
auch noch in allernächfter Zeit von irgend einer andern Stelle 
aus angezapft würde, und dann mit zugleih von ihrem 
Reichthum zehrte; was alſo noch vorher herausgenommen 
werden konnte, war gewonnen. Erſt im Tank oder Faß konnten 
fie ja das Del als ihr rechtlich erworbene® und, was noch 
mehr jagen wollte, gejihertes Eigenthum betrachten. 


920 


Smithfield felber galt aber als einer der reichſten Orte. 
Wenige hatten hier vergebens ihr Capital eingefebt; die Stadt’ 
wuchs deshalb auch in jo rajender Weiſe an, als ob fie dev 
Gentralpuntt eines ganzen County werden follte und die Be 
völferung für eine ganze Lebenszeit da ausharren wolle. Und 
doch Hing eben die Eriftenz des Plabes von dem höchſt un: 
zuverläffigen Ertrag des Dels ab, das, ſobald es ausblieb, 
auch die mit vielen Taufenden bezahlten Grundftüde in dem: 
jelben Moment vollkommen werthlos gemacht hätte, 

Aber was fümmerte das jebt das forglofe, fede Menſchen— 
volf, das eine neue Quelle für rajch zu gewinnenden Reich: 
thum entdedt Hatte und nun fröhlich der Zukunft entgegen: 
Ihaute. Noch Tief daS Del — wer Fonnte überhaupt be: 
ftimmen, ob fie ſich nicht gerade hier über einem unerjchöpflichen 
See der neuen Öottesgabe befanden, und das lachte, ſchwatzte, 
trank, jubelte und jpielte durcheinander, daß es eine Luft 
war, es mit anzufehen. 

Die Mafchinen pufften fort, die Pumpen arbeiteten, und 
von überall, als die Nacht einbrach, leuchteten die rothen Lichter 
der Maſchinen herüber, waren aber von einem eigenthümlichen 
nebligen Duft umlagert, der, bald ftärfer, bald ſchwächer 
werdend, darum hinwogte und ftreng von den arbeitenden Stellen 
begrenzt wurde. 

Zu gleicher Zeit verriethen aber auch hell erleuchtete Fenſter— 
reihen Die verfchiedenen Hotel und Neftaurationen, und dort 
fammelte fi natürlich alles müßige Volk wie auch die „Hono— 
vatioren” des Städtchens, um hier den Abend zu verbringen, 
denn ihre Familien hatten doch die Herren nur in einzelnen 
jeltenen Ausnahmen mitgebradt. Wohin aber diefe Lichter 
nicht fielen, herrfchte bald völlige und undurchdringliche Dunkel: 
heit. Der Himmel war bewölft, der Mond noch nicht heraus, 
und man hatte dort wirflih Mühe, fih auf den rauhen und 
unebenen Straßen zurecht zu finden, daß man nicht aller 
Drten über ein dort wild umher geftreutes Mafchinenjtüd, 
über eiferne Faßreifen, oder gar zur Seite gemworfene Balken 
ftolperte und ſtürzte. 

„Wo zum Wetter der Burfhe nur fteden mag!” jagte 
jeßt eine halbunterdrüdte Stimme, und nur undeutlich Tießen 


0241 


fih zwei dunkle Seitalten erkennen, die eben aus dem verhältniß: 
mäßig erleuchteten Theil des Städtchens in eine Seitenftraße 
einbogen und dort jtehen geblieben waren. „Fort fann er 
noch nicht fein, denn die Straße ift gut bejebt, und vor einer 
Bierteljtunde war er ja auch nod im Wafhington- Hotel.‘ 

„Wenn wir ihn heut Abend nicht finden,‘ fagte der 
Andere, „jo fahre ih morgen früh mit dem erjten Zuge felber 
nach New-York, und in dem bezeichneten Bankhaus Yäuft er 
mir fiher in den Weg.’ 

„Wenn er den Wechjel nicht auf jemand Andern abgiebt,‘ 
fagte der Erfte wieder, „denn dem trau’ ich Alles zu, und da 
er Dich hier gefehen, muß er auch willen, daß fein Ruf ge 
litten hat, oder in der allernädhiten Zeit bedeutend leiden wird.’ 

„Hol' ihn der Teufel!’ brummte der Andere in den 
Bart — „aber was machen wir jebt? Hier ftehen bleiben ift 
völlig nublos. Käme auch jebt Jemand die Straße herunter, 
jo könnten wir ihn gar nicht erkennen. Ich kann nicht ein- 
mal meine eigene Hand dicht vor den Augen ſehen.“ 

„ir müffen jedenfall meinen Bruder erwarten, der uns 
hier treffen wollte,‘ lautete die Antwort — „der fann nicht 
mehr lange bleiben, und dann bereden wir, wie wir uns ein- 
theilen wollen. — Laß uns noch ein Stüd hinunter an die 
Ede gehen — dorthin habe ich ihn beitellt, und wir verfehlen 
uns ſonſt. DBerbrannt will ich werden, wenn ich in meinem 
ganzen Leben je eine dunklere Nacht gejehen Habe, und Regen 
werden wir wohl auch bald wieder befommen, denn die Luft 
it jo ſchwül, daß fie Einem fait den Athem verſetzt.“ 

„Das macht, dag fi das Gas herunterdrüdt und zwiſchen 
die Gebäude zwängt — fieh nur, wie ur die Feuer da drüben 
in der Mafchine brennen.‘ 

Die beiden Männer waren, während ſie mitjammen Tleife 
flüfterten, den Weg noch eine kurze Strede hinabgefhritten, 
als der Eine einen halblauten Schmerzensruf ausſtieß und 
dann einen derben Fluch hinterher jandte: 

„Hell and damnation !“ rief er zwiſchen den Zähnen durch, 
indem er ftehen blieb und fein eines Bein hielt. „Da bin ich 
in fo einen verdammten eifernen Faßreifen getreten und habe 
mir das ganze Schienbein aufgefhlagen. Wenn doch der 


522 


Böſe alle verbrannten Oelfäſſer aus der ganzen Region 
holte!“ | 

Der Andere lachte, ermwiderte aber nichts, und ſchon im 
nächſten Moment wurden fie durch eine Stimme aus der Dunfel- 
heit angerufen: 

„Franklin — bilt du das?“ 

„Ay, ay! — Lewis?! 

„Alles in Ordnung.‘ 

st er no da?‘ 

„Sa — ich habe ihn felber eben gejehen. — Er war in 
der Spielhölle und hatte mit dem Bankhalter viel und eifrig 
zu ſprechen — aber das nicht allein. Etwa hundert Schritt 
weiter unten hält ein Wagen mit zwei Laternen etwas abfeits 
vom Wege. Sch habe fehr gegründeten Verdacht, dag Wilkins 
den benußen will, um noch den Zug zu erreichen, der um 
fünf Uhr von Titusville abgeht. Sit das aber feine Abficht, 
dann muß er bier vorbei — Ihr habt doch eine Blendlaterne 
bei Euch?“ 

„Nicht die Spur, damn it!“ fagte jein Bruder. „Ich 
fonnte fie nicht finden, als ich von zu Haufe fortging.‘ 

‚Das iſt eine verwünſchte Geſchichte — was machen wir 
jetzt? — In der Dunfelheit ift es nicht möglich, den Richtigen 
zu treffen.‘ 

„Dann bleibt uns nichts übrig, als zum Wagen hinunter 
zu gehen,‘ warf George ein, „denn dort fafjen wir ihn nad: 
her ſicher.“ 

„Ich habe dort allerdings Thon zwei Mann ſtationirt,“ 
verficherte der ältere Lewis, „aber wir wiſſen aud nicht, was 
er in dem Haus für Hülfe hat, denn dort wohnt gerade der 
Lump, der die Banf hält, und mit dem ftedt er jedenfall unter 
einer —“ 

Er ſchwieg, denn er fühlte, wie plöblich George heftig 
feinen Arm drüdte und ihm einen Warnungsruf zuflüfterte, 

Die drei Männer ftanden jtill und regungslos und horchten 
in die Naht hinaus — aber nicht lange, jo unterjchieden fie 
deutlih Schritte auf, dem harten Boden, die raſch und eilig 
näher famen. Es war übrigens nicht ein Einzelner, jondern 
e8 mußten Zwei fein — die Schritte langen ungleich. 


523 


„Wenn wir nur jeßt eine Laterne hätten!“ flüfterte der 
ältere Lewis. 

„redet Ihr ihn an,‘ zifchte George zurüd — „ich fenne 
den Burschen an der Stimme, und wenn wir einen Falfchen 
paden, iſt's ebenfal3 fein Unglück. Es gefchieht ihm ja 
nichts.“ 

„Bſt,“ warnte Lewis — „ſie ſind gleich da — und wenn 
ſie Waffen haben?“ 

„Tod und Teufel! — fort darf er nicht, wenn er's iſt — 
Ruhe.“ 

Secunden waren es noch, die ſie ſo ſtanden — ſo raſch 
wenigſtens verging ihnen die Zeit, denn deutlich konnten ſie 
jetzt nicht allein die Schritte, ſondern auch das Geſpräch der 
Nahenden hören. 

„Nimm Dich in Acht, Bill, daß Du mir das kleine Bündel 
nicht verlierſt.“ 

„Keine Furcht, Sir — Alles in Ordnung.“ 

„Und wenn ſie Dich morgen nach mir fragen, ſo ſag' 
nur, ich wäre nach Petroleum-City gegangen, um ein paar 
Maſchinenſtücke zu holen — ich käme jedenfalls bald wieder 
zurück.“ 

„Ay, ay, Sir — Alles in Ordnung — und Mr. 
Mills?“ 

„Gentlemen,“ ſagte in dieſem Augenblicke Lewis, der ſich 
mit den Freunden mitten auf der Straße befand — „ent: 
fhuldigen Sie, wie heißt der Drt da vor und?‘ 

„Der Ort?“ jagte der eine Fremde, indem er aber doch 
ftehen blieb, denn er bemerkte verfchtedene Geftalten und mußte 
nicht einmal, ob er in der Finfternig gegen ein Fuhrwerk 
anrenne — „der Ort heißt Smithfield — mer ſeid Ihr?“ 

„Das möchten wir Euch fragen — die Straße foll hier 
ziemlich unficher fein, und Ihr fcheint da Gepäd wegzufchleppen. 
AH bin der Sheriff von Petroleum-City.‘' 

„Und was habt Ihr da hier zu Befehlen?‘ lachte die 
Stimme wieder — „gebt Raum da vorn, oder ih halte Euch 
felber für Diebögefindel, und der Revolver hier verjagt 
nicht!“ 

— Ihr nicht Mr. John Wilkins, der Stimme nach?“ 


924 


„Hell and damnation, was brauch' ih Euch hier Rede zu. 
jtehen — fort da, oder — 

Er ſchwieg ſelber erichredt til, denn in dem Moment 
that es in der Luft einen dumpfen Schlag, und wie von einem 
Blitz, der aber nicht jo raſch wieder verging, als er aufgetaucht, 
erleuchtet, Tag Tageshelle umher, und Himmel und Erde fchienen 
in Teuer zu ftehen. Aber wie am Tage konnte man jekt 
auch deutlih Alles rings umher erkennen, und George Franklin, 
der feinen Blick jcharf und bohrend auf den Fremden gehalten, 
rief, ohne ſich ſelbſt Rechenſchaft von diefem plötzlichen Licht: 
ſchein zu geben oder der Urſache nachzufragen: 

„John Wilkins — Burſche, hab' ich Dich?“ 

Wilkins hielt in der That einen Revolver in der Hand, 
und zu jeder andern Zeit wäre er ein nicht zu unterſchätzender 
Gegner geweſen, aber die ihn verrathende Helle rings umher, 
die Franklin faſt gar nicht beachtete, überraſchte, ja betäubte 
ihn dermaßen, daß er einen Moment wie ſprachlos und keiner 
Bewegung fähig ſtand. Nur der Arm mit dem Revolver 
hatte ſich vorher ſchon und wohl unwillkürlich gehoben, aber 
ehe er nur feine Befinnung wiedergemonnen, ſchlug George's 
linfe Hand ſchon die Waffe in die Höhe, und feine rechte Fauſt 
traf ihn fo Fräftig zwifchen die Augen, daß er, ohne einen Laut 
von fi) zu geben, Hintenüber zu Boden jhlug. Sein Bes 
gleiter aber, ob er nun wußte, mit wen er bier zufammen 
war, oder ob er die Angreifer für Räuber hielt und vor allen 
Dingen feine eigene Haut in Sicherheit bringen wollte, warf 
das Gepäd, das er trug, ohne Weiteres auf die Straße und 
floh davon, jo rajch er konnte, dem Licht zu in die Stadt, um 
nur fobald als möglih wieder unter Menſchen zu fommen 
und da Schub zu finden. 

Lewis fjchaute empor. „Großer Gott, was ift das?“ 
rief er au — „Die Berge ftehen in Feuer — der Himmel!“ 

„Erſt den Burfhen hier feſt!“ knirſchte aber George 
zwilchen den Zähnen durch, „nachher werden wir ja jehen,. 
was da los ift. — Da, Lewis, nimm das Seil und binde 
ihm die Füße zufammen — hier die Hände halten jebt, dem 
Wechſel wird er in der Taſche haben.‘ 

„Den Revolver hier werde ich ebenfalls an mich nehmen,“ 


525 


jagte der jüngere Lewis — ‚er hätte Unheil damit anrichten 
können.“ 
„Und was jetzt mit ihm? — Beim Himmel, das iſt ein 
Brand — die ganze Stadt brennt! Allmächtiger Gott, die 
Tanks!“ 

„Fort mit ihm in den Schuppen dort, bis wir nachher 
Zeit haben,“ rief George — „hier iſt ſeine Brieftaſche — 
nimm ſie, Lewis — faßt an, boys, wir müſſen die Canaille 
erſt in Sicherheit bringen.“ 

Die drei Männer griffen ohne Zögern den immer noch 
bewußtloſen, wenigſtens regungsloſen Körper auf und ſchleppten 
ihn in einen benachbarten Schuppen, unter dem früher eine 
Maſchine geſtanden hatte. 

Dort ließen ſie ihn vor der Hand liegen, warfen aber 
jetzt ſelber ſcheu den Blick umher, denn was ſie in ihrer Auf— 
regung anfangs ſelber kaum beachtet, erfüllte ſie jetzt mit 
Staunen und Entſetzen. 

Feuer? — Alles umher ſchien in dieſem Augenblick Gluth 
und Flamme; das praſſelte, dröhnte, ſprudelte, kochte — die 
Welt ſchien in Aufruhr, der letzte Tag hereingebrochen. 

„Herr des Himmels, was iſt das?“ 

„Ganz Smithfield brennt!“ ſchrie da George. — „Vor— 
wärts, boys, vorwärts!“ Und flüchtigen Laufes flogen die drei 
Männer dem Feuer entgegen. 


6. 
Die Kataſtrophe. 


Den ganzen Tag über hatte eine ziemlich friſche Briſe 
geweht, die aber gegen Abend völlig einſchlief und zuletzt einer 
drückenden Schwüle, wie ſie oft vor heftigen Gewittern ein— 
tritt, Raum gab. Der Himmel umzog ſich mit dicken 
Wolken — nur im Weſten war es noch eine Weile klar, aber 


926 


unmittelbar hinter der untergehenden Sonne ſchloſſen fich auch 
hier die dunkelgrauen Schleier zu einer düſtern Halbkugel, 
die jich immer mehr, je rafcher die Nacht einbrad, zujammen: 
zu ziehen ſchien. 

Der Dampf aus den Maſchinen flieg nicht mehr gerade 
in die Luft empor, jondern erreichte nur eine gewiſſe Höhe, 
breitete ji dann aus und ſchien wieder zu Boden zurück 
zu drüden. Trotzdem brannten die Yeuer mit einer außer- 
gewöhnlichen Helle, und manchmal blibte e8 unteer den Keſſeln 
auf, als ob man eine Priſe Pulver darunter geworfen hätte. 

Diefe Schwüle dauerte aber nicht übermäßig lange; es 
ſchien doc, ald ob ein Gewitter im Anzug jei — ein leichter 
Wind erhob ſich bald nach eingebrochener Nacht, der erſt von 
Süden kam und faum bemerkbar über die Stadt zog. Plötzlich 
drehte er fich mit einigen Fräftigen Stößen nah Welten — 
und mieder ſchoß unter der einen Majchine ein glühender 
Strahl vor, der aber in der Nahbarichaft für einen Blik- 
gehalten wurde, jo rajch erhellte er in einem kleinen Umkreis 
die Nacht, und jo plößlich war er wieder verichwunden. 

Jetzt fam ein ftärferer Luftzug, die wenigen, noch in der 
Nähe ftehen gebliebenen Bäume fingen in ihren Wipfeln an 
zu rauſchen — gerade von .der flowing well jtrid er nad 
den Kefjeln der nächſten Dampfmalchine hinüber — wieder 
jtrahlte das Licht aus, aber es zudte nicht zurüd. Wie ein 
langer Feuerjtreifen ſchoß es über den Weg, und jebt plötzlich, 
wie es das Gas der felbftlaufenden Petroleumröhre erreichte, 
Hang e3 wie ein dumpfer hohler Knall — wie ein Schall fait, 
der von unter der Erde her vortönte, und eine Welt jtand 
in Flammen. 

Kein Schrei wurde dabei im erjten Augenblid gehört, fein 
Ausruf des Schredend oder Entſetzens. Die Leute jtürzten 
aus den breiten Häufern, aus den Reftaurationslocalen und- 
ſahen nur ein riefiges Flammenmeer, wie ſonſt wohl manchmal 
einen Nebel, mehr in der Luft, in der Höhe ihrer Dächer 
hinweg, als daß ed vom Boden emporgeitiegen wäre — 
und eifige8 Grauen bannte für den Moment ihre Zungen — 
ihre Thatkraft. — Uber das ſollte ſich bald ändern, denn die 
Berwandlung war raſch und furchtbar, 


927 


Mit diefem erſten Schlag hatte jih allerdings nur das 
durch das ſchwüle Weiter niedergedrüdte Gas entzündet und 
ichten harmlos in der Luft zu glühen — alle die zahllojen, 
ölgefüllten Tanks, die es bejtrich, waren auch noch Falt, und 
wenngleich das Del zündete, ließ fi) das in diefem blendenden 
Strahl gar nicht erkennen. Selbſt die Holzdächer blieben für 
wenigftens zehn Minuten fcheinbar unberührt, als ob nur 
compactes Sonnenliht in concentrirten Strahlen darum lagere, 

„Großer Gott! Wir find verloren !’’ tönte da ein einzelner 
ihriller Schrei aus dem herbeiltrömenden Menſchenſchwarm 
heraus, und als ob das das Signal für die Feuergeifter ge— 
mejen wäre, ihre Arbeit zu beginnen, fo ſprangen jie jebt in 
züngelnden Gluthen an den überdies fchon vollitändig erhibten 
Gebäuden nieder — und in einem Moment fpäter jtand ganz 
Smithfield in Flammen, 

Ketten, löihen? Wer hätte die Tauſende von Fäſſern 
Petroleum löſchen wollen, die jeßt wie mit einem Schlag in 
Brand geriethen, und Schaaren von Menſchen trieben fid 
troßdem noch, im erſten Augenblid des Schrecks, mitten in 
dem brennenden Drt herum, rathlo8, was fie thun, wohin jie 
flüchten jollten — aber e8 war auch nur im erjten Augen 
blid, denn dieſem Feind konnte Kleiner von Allen Stand 
halten, und wenn es der Beherztefte gewejen wäre. Alles 
ſtob aus einander — zu retten war hier doch nidts als 
das eigene Xeben, und nur die Wenigen, deren Yamilien hier 
mit ihnen in den Minen wohnten, jtürzten in Verzweiflung 
ihren eigenen Käufern zu, und Jammergeſchrei und Wehklagen 
tönten von allen Orten. 

Furchtbar großartig war aber indefjen der Anblid, den die 
überhaupt ſchon im wahren Sinne ded Wortes ölgetränkte und 
jebt brennende Stadt bot, denn dur) das Gas wurde fie an 
allen Eden und Enden zugleih in Brand geſetzt. Die 
Maihinenhäufer jtanden ebenfalls in Yeuer, die Ingenieure 
aber hatten fliehen müſſen, der Dampf, zu rajender Höhe ent: 
widelt, trieb die Bumpen in wilder Kraft, und nicht mehr 
Del, nein, eine wild leuchtende, brennende Fluth ſchoß aus 
den erhisten Röhren und jtreute die kochende Mafje umher. 
Die eifernen Tanks jelbjt glühten, daß Del kochte darin nur 


528 


hoch auf, Wie aus einem eben losgebrochenen Krater ftieg 
es in einer Yeuerfäule empor — jebt ein dumpfer Krad, und 
ein Gluthenmeer ergoß fih aus den geborjtenen Gefäßen wie 
ein Flammenbach zu Thal, das entfellelte Element weiter und 
weiter tragend. 

Einen prachtvollen, aber fürchterlihen Anblick bot Die 
flowing well, deren aus Brettern bejtehende gasdurchdrungene 
Umhüllung im Nu verbrannte. Wie aber die darunter jtehenden 
Tanks, Die zuerit ihren Feuerſtrahl gen Himmel gefandt, 
erplodirt oder geborjten waren, ſtrömte der lavaähnliche 
Inhalt im reißender Schnelle den Hang hinab. 

Noch ſtand die, zwar ſchon glühende Röhre, in der das 
aufquellende Del entzündet wurde, ehe es nur Zeit befam, 
hervor zu jprudeln, aber aus der Mündung heraus Tochte, 
Iprudelte und zijchte ein blendender Feuerſtrahl, und mie 
blißende Diamanten jtoben die einzelnen brennenden Del- 
tropfen, als ob fie eine glühende Platte getroffen hätten, 
nad) allen Seiten hinaus. 

Das gejammelte Gas war allerdings ſchon lange ver: 
brannt, aber das jet noch auffteigende flog von den einzelnen 
Stellen wie ein feuriger Drade in die Luft hinein, und oft 
bis zu zwanzig Fuß Höhe, ehe ed wieder erjtarb. 

Und da und dort jebt ein furdtbarer Knall, der glühende 
Trümmer und Sprengftüde weit herein in die Schredengfcene 
warf. „E3 waren die in voller Gluth gehaltenen Kefjel der 
verſchiedenen Dampfmafchinen, in denen fi das Waſſer, über- 
mäßig erhitzt, vollftändig in Dampf verwandelt Hatte und 
feine Umhüllung natürlih auseinander fprengte. — Und jebt 
hörten die Pumpen auf zu arbeiten — aud die Derrids 
brachen mit verkohlten Balken zufammen, die Käufer flammten 
in ruhiger Gluth, ſelbſt die Erde brannte, denn das erhibte 
Petroleum, das darüber Hinftrömte, mußte ſich entzünden, 
aber nur die beiden flowing wells im Drt fprudelten noch 
mit lautem Geräufh ihre Feuerjtrahlen aus und ftanden 
rothglühend, wie zwei Sprühteufel, in dem furchtbaren Schau— 
Ipiel. 

Und Verwirrung und Entjeben überall! | Mitten im 
Städtchen lagen die beiden Haupt-Hotels und Rejtaurationen 


* 


929 


von Menſchen gefüllt, und wie das auseinander ftob, als 
auch an den dürren Bretterwänden die Flamme emporzüngelte! 
Im Nu hatte es jelbit den innern Raum erfüllt — die Spiel- 
tifhe und Billards brannten, die Wände felber fladerten 
empor, und mitten hinein in den flüchtigen Menſchenſchwarm 
zudte da der erſte Blib de8 nun auöbrechenden Gemitters, 
und ein Donnerichlag folgte, als ob er die Erde auseinander- 
reißen wollte. 

An dem Haufe vorbei floh eine einzelne Geſtalt. Faſt 
mitten durch die Flammen jprang fie Hindurd) und neben 
ihr, Hinter ihr prafjelten die Balken der zujammenftürzenden 
Häufer nieder. — Der Bart des Fliehenden war dabei ver: 
fengt, fein langes lodige Haar verbrannt — aber er acıtete 
es nicht, und jebt Hatte er den. Hang erreiht, an dem jchon 
von oben herab das brennende Petroleum niederichoß. 

Noch ſtand Barker's freundliches Haus, aber der glühende 
Strom hatte ed jchon erreicht, ſchoß an der Seite darunter 
hin und ſetzte es vorn und hinten zu gleicher Zeit in Brand. 

George Franklin Iprang die Stufen hinauf und rannte gegen 
die Thür, die in das Wohnzimmer führte — fie war verſchloſſen, 
aber ein einziger Fußtritt fprengte fie aus ihren Angeln. 
Drinnen fand er die vor Angit rathlofe Familie um die ohn— 
mächtige Mutter gejchaart. 

„Sort, um Gottes willen, fort!” ſchrie er in Todesangit. 
„In wenigen Minuten ſchwimmt um dies Haus ein Teuer- 
meer — die oberen Tanks find geboriten.‘' 

„Sie jtirbt und — fie ftirbt ung!’ Hagte Ellen, mit 
feinem andern Gedanken als an die Mutter. George aber 
wußte, daß Troſt oder Vorſtellungen hier nichts halfen, jondern 
Allen nur verderblich werden mußten. So, ohne Weiteres 
bog er fih zu der alten Dame nieder, hob fie wie ein Kind 
in feine Arme, und mit dem Rufe: „Rah, Ellen! rufe 
die Dienftboten, fort mit Euch, oder Ihr jeid verloren! jprang 
er zum Haufe hinaus — floh feitwärts ab, wo er noch offene, 
von der glühenden Maffe nicht bededte Streden fah, und er: 
reichte bald darauf, von den Mebrigen gefolgt, den etwas höher 
liegenden Wald, in den hinein das Teuer nicht dringen fonnte. 

Blibe zudten, der Donner rollte und prafjelte vom Himmel, 

Fr. Gerftäder, Erzählungen 2c. 34 


‚930 


fluthender Regen ftrömte auf die Erde herab, aber doch glücklich 
die, die, aus der jengenden Gluth heraus, die falten Tropfen 
wieder ihre Stirn Fühlen fühlten und wenigſtens das nadte 
Leben gerettet hatten. 


Die Nacht verflog — die Stätte war leer gebrannt, und 
jelbit die flowing wells mit ihrem flüffigen und anjcheinend un— 
erihöpflichen Savaftrom waren zum Schweigen gebradt worden. 
Flüſſiges Metall, Erde, Steine und Schlafen modten die 
Röhren erft angefüllt und dann veritopft haben — die Stelle 
lag ſchwarz und fahl, und mo noch vor wenigen Stunden 
eine lebendige, reiche und felbft mit manchem Lurus audgeftattete 
Ortſchaft geitanden, wo Hunderte von Dampfmafchinen eben 
jo viele Pumpenſchwengel in Bewegung gefeßt, wo das werth- 
volle Del in Strömen geflojien war, da zeigten jebt nur noch 
einzelne jehwarzgebrannte und auseinander gerifjene Dampf: 
fejjel, verbogene Maſchinenſtücke und halbbrödlige Faßreifen 
auf dem verjengten und gedörrten Boden die Stelle, wo 
Smiethfield mit al’ feinen Hoffnungen und Träumen ge 
itanden, und mo jekt alle dad mit Millionen von Capital 
begraben lag. 

Es war ein Bild der Verwüſtung, wie wohl fein zweites, 
in folder Schnelle wenigſtens, geliefert worden, und jo 
gründlih Alles vernichtet, daß Morgend, ald die Sonne 
wieder den zeritörten Platz überfchien, faum nod der Qualm 
der Brandrefte in die helle und reine Luft emporftieg. 

Die Familie Barker hatte die Nacht beſſer als manche 
andere durch George’3 Hülfe verbracht, denn zufällig fand 
diefer dort in der Nähe einen Haufen Bretter, aus dem er 
mit Mr. Barker's Hülfe bald einen Kleinen Schuppen heritellte, 
In diefem Fonnten die Abgebrannten doch menigitend, gegen 
Regen und Wind gefhüst, ein paar Stunden jchlafen. Mit 
Tagesanbruch war George übrigens auf und unten auf der 
Branditätte, und das Herz preßte fih ihm zufammen, als er 
die furchtbare Verwüſtung überjchaute, die daS entfefjelte 
&lement über den ganzen Ort gebradt. 

Und was mar aus John Wilfins geworden? Der Ge: 


531 


danfe zudte ihın durch's Hirn — hatte ihn hier fein Schidfal 
erreiht? Mit einem eigenthümlich bangen Gefühl fuchte er 
nicht ohne Schwierigkeit, da der Plab total verändert ausſah, 
die Stelle wieder auf, wo fie geftern den Gebundenen in ein 
einzeln jtehendes Majchinenhaus geworfen. Er fand fie aud, 
denn wenn auch die hölzerne, ölgetränkte Hütte darum her 
voljtändig abgebrannt war, zeigte doch die nod jo ziemlich 
unverjehrtte Mafchine genau den Fleck, wohin fie den Der: 
brecher geworfen. Don diefem aber Fonnte er feine Spur 
mehr entdeden. Das Feuer der leichten bretternen Wände, 
wenn auch der Boden mit Petroleum getränft war, Fonnte 
gewiß nur jehr Furze Zeit gedauert haben und wäre — wenn 
e8 auh den Mann tödtete, nie im Stande gemejen, den 
Körper jo weit zu vernichten, daß er feine Spuren mehr 
hinterließ; aber es ließ ſich nichtS mehr von ihm erfennen. 
Der Berbreder war jedenfall3 noch von feinen Helferöhelfern 
oder ſonſt Vorbeiflüchtenden — die vielleicht feine Hülferufe 
gehört, gefunden und befreit worden, und daß er fich jelber 
dann in Sicherheit gebracht, ließ fich denken. 

George fühlte fich aber dadurch beruhigt, denn ed wäre 
ihm für immer ein drüdendes Gefühl gewejen, wenn er ge- 
mußt, daß ein Menichenleben — jo werthlos es auch jein 
mochte — dur feine Hand verloren gegangen. Uebrigens 
bewies die Brieftafhe, als er jpäter wieder mit Lewis zu: 
jammentraf, daß er fih in dem Charakter diefes Burſchen 
nicht geirrt. Sie war faſt angefüllt mit falſchen, aber vor: 
trefflich imitirten Banknoten, und John Wilfins kehrte auch nie 
wieder zurüd, um von dem Feinde jein Eigenthum zu fordern. 

Und Mr. Barker? — War total durh den Brand 
ruinirt, wie fo Viele, die ihr ganzes Vermögen in diejen Del- 
regionen auf einen Punkt ſetzten und ed damit erzwingen 
wollten, Millionäre zu werden. Ein Fleines Capital beſaß 
er allerdings noch in dem ſchon verfandten Betroleum, das 
aber jtand in feinem Vergleich zu dem verlorenen, und trüb 
und traurig lehnte er am nächſten Morgen — auf der näm— 
lichen Stelle, auf der früher fein Haus gejtanden — an 
einem verfohlten Pfoſten und überfchaute die ſchwarze, öde, 
leere Fläche mit ihren darüber hingeftreuten Eifentrümmern. 

34* 


892 


George fand ihn dort, als er zurüdfehrte, aber er fchien 
die Niedergeichlagenheit jeines alten väterlichen Freundes nicht 
zu theilen. Ohne Weiteres faßte er ihn unter den Arm und 
ſagte nur leichthin: | 

„Kommen Sie, mein lieber Herr Barker — ich Habe 
Ahnen einen Vorſchlag zu machen — laflen Sie uns Ihre 
Familie auffuchen, und dann überlegen Ste fih einmal, mas 
Sie zu einem Compagniegeihäft jagen würden.‘ 

Der alte Herr fchüttelte wehmüthig den Kopf, während 
er aber doch der Leitung feines jungen Freundes folgte. 

„Es it vorbei,‘ ſagte er dabei leiſe — „die wenigen 
tauſend Dollars, die mir noch geblieben find, darf ich nicht 
leihtfinnig in einem ſolchen neuen Unternehmen daran 
leben — id könnte es vor den unglüdlichen Meinen nicht 
verantworten.‘ 

„Bueno,“ fagte George, als fie jebt den Platz erreichten, 
wo die Frauen noch in Verzweiflung jtanden, und von mo 
aus man vecht gut die ganze furchtbare Verheerung der lebten 
Naht überihauen konnte — „dann wollen wir menigftens 
einmal erſt die „unglüdlihen Ihrigen“ fragen, mas fie zu 
der Sache meinen, und ob fie ein ſolches Compagniegeſchäft 
nicht für vortheilhaft hielten. — Mutterchen,“ rief er dabei, 
fih an die Frau wendend, deren Augen Thränen der Ver— 
zmweiflung füllten — ‚Ellen — helfen Sie mir — ich habe 
dem Papa einen Vorichlag eines Compagniegeſchäfts gemacht. 
Hier können Sie nicht bleiben — die Bretter hier wird fich 
wohl der Eigenthümer heute wieder abholen, und der jchwarze 
Brandflef da unten fieht ebenfalls nicht einladend aus. Was 
jagen Sie dazu, wenn Sie nun mit mir nad) Cheönut grove 
gingen — will dann der Bater nit mit mir in Compagnie 
gehen, fo — thut es vielleicht die Tochter.‘ 

„Aber, George!” rief Mrs. Barker erihredt aus, und 
Ellen warf ſcheu den Blid zu ihm empor — „tft das jebt 
eine Zeit zum Scherzen?“ 

George aber, defjen Auge feſt und forichend auf dem 
Mädchen haftete, jagte treuherzig: 

„Ellen — wir find als Kinder mitfammen aufgewachſen 
und fennen einander genau — ich darf Ihnen auch jagen, 


1598 


daß ich Ihnen veht von Herzen gut bin, und — wenn Sie 
ih nichts daraus machen, einen armen, freundlojen Wittwer 
zu heirathen, der vielleiht nur das Derdienft hat, einen 
Schurken entlarnt zu haben, der Sie unglüdlih machen 
wollte — 

„Der. Franklin,“ hauchte Ellen bewegt, aber der Vater 
[hüttelte den Kopf und fagte: 

„Das ift nichts, George — ja — wenn Du früher ge 
fommen wärejt, wo ih mein Kind auch ausjtatten und ihm 
eine forgenfreie Zukunft figern konnte — aber jebt, in dem 
Augenblid, wo ih Alles verloren habe —“, 

„Run,“ ſagte George treuherzig — „weshalb verſchmähen 
Sie denn aber da, mein Compagnon zu werden?“ 

„Um auf's Neue zu verſuchen und zu wagen?“ ſagte 
Barker kopfſchüttelnd — „wir würden nicht genug erübrigen, 
um ſelber ehrlich durch die Welt zu kommen.“ 

„Bah!“ lachte George, „was hundertvierzig Fäſſer Oel 
koſten, oder vielmehr einbringen, verzehren wir nicht täglich, 
und ſo viel giebt meine flowing well, ohne die Pumpwerke, 
die ich in Chesnut grove habe,’ 

„George!“ rief Barker, faſt erſchreckt emporſpringend — 
„biſt Du denn der Franklin, dem die flowing well in Chesnut 
grove gehört? — Du jagteft ja, es wäre nur ein Namens 
vetter von Dir?’ 

+ „Sie ift mein,” lachte aber George, „und zehntaufend 
Fäſſer Habe ich ſchon nach New-York geſchafft, einen andern 
Poſten in der Raffinerie und all' meine Tanks gefüllt, ſo 
viel ſie faſſen können — alſo Nahrungsſorgen haben wir 
nicht zu fürchten. Papa — ſchlag ein, Ellen — ſei dem 
Manne jetzt ſo gut, wie Du es früher dem Knaben warſt, 
und ich kann Dir verſichern, daß Du mich zum glücklichſten 
Menſchen machen würdeſt!“ 

Und Ellen ſagte nicht Nein — ſchon ihrer Mutter zu 
Liebe, wie ſie meinte, denn die alte Frau hing an George's 
Halſe und ſchluchzte vor Glück und Freude. George war da— 
bei kein Mann von halben Maßregeln; noch an demſelben 
Tage führte er die Familie nach Chesnut grove hinüber, wo 
er ihnen vor der Hand ſein eigenes kleines Häuschen überließ, 


534 


und vierzehn Tage fpäter z0g er mit feiner jungen Frau, 
Glück und Seligkeit im Herzen, in feine neugebaute Wohnung 
ein. Man brauchte dort nicht viel Zeit, um ſich felbjt einen 
kleinen Balaft in der Wildniß Herzurichten. Ä 

Die Delgräber ließen fi) aber von da an das furdtbare 
Unglüf von Smithfield doch gejagt fein, denn die Gefahr 
trat ihnen, je mehr Pläbe eröffnet wurden, doch immer näher. 
An vielen Drten verwendete man das Gas allerdings jelbjt 
zum Heizen der Dampffeffel, indem es mit Röhren unter 
dieſe geleitet wurde und jo freilich feinen Schaden anrichten 
konnte. Wo es fich aber in zu großer Menge fammelte, da 
wurde es, bejfonders aus den flowing wells oder ergiebigen 
Brunnen heraus, in hohen eifernen Nöhren, die wie Schorn— 
jteine emporftanden, abgeleitet und dann oben angezündet, 
wonach es der Nachbarſchaft feinen Schaden mehr zufügen 
konnte. 

In dunkler Nacht aber boten dieſe hohen, weitaus wehenden 
rieſigen Gasflammen einen prachtvollen Anblick und den Be 
wohnern zugleich eine Beruhigung; denn es waren die Sicher— 
heitöventile jenes gefährlichen Elements, dad, von jest an 
durch Menfchenkraft gezügelt und gelenft, aus der Erde 
Schooß heraus wohl feine Bahn in's Freie fuchte, aber nicht 
mehr da unten Unheil anrichten und DVerderben über eine 
ganze Stadt bringen konnte. 


In der Prairie. 


1. 
In der Prairie, 


Weitaus dehnte fih der blaue Herbithimmel über die 
meergleiche Prairie, die er mit einem fajt vollfommen gleichen 
Horizont umſchloß. Nur im Norden lag es — aber in 
weiter Ferne — wie eine fich hebende Erdmelle, ein Kamm, 
der dort von Dft nah Weſt hinüberlief, und weit im Süden 
ließ ſich einzeln zerftreut niederes Buſchwerk erfennen, das ein 
dort vorbeiftrömendes Wafler, oder doch wenigitend feuchte 
Stellen im Boden verrieth. Sonft war fein Baum oder 
Strauch zu jehen, Fein Dad, fein Zeichen einer menjchlichen 
Wohnung, fein Rauch, der von irgend einer Seite empor: 
gejtiegen wäre. Und troßdem lief durch dieſe Wüſte in einem 
fhnurgeraden, dur nichts geftörten Strich der ftärfjte Be— 
weis menjchlichen Fleißes und Unternehmungsgeiſtes — lief 
der fejt in den Raſen gejtochene Schienenftrang der Pacific 
bahn, mit den kurzen Telegraphenftangen an der Nordſeite, 
auf denen der Draht das geflügelte Wort hinaus in die Wild- 
niß tragen konnte. 

Es war ein eigenthümlicher, wunderliher Anblid, dieſe 
Eifenbahn mitten in der Steppe — eine Verbindung von 
Givilifation und Wildniß, wie fie ähnlich faft noch nirgends 
in der Welt ftattgefunden — ein Scienenftrang, der, wohin 
man auch den Blick wandte, weder Anfang noch Ende zeigte — 


936 


der in der Wildniß begann und aus der Luft zu kommen 
Ihien, und ebenfo wieder dort drüben im Weiten in der Luft 


verlief. Kein einziges Bahnwärterhaus zeigte fih an irgend 
einer Stelle, fein Meilenftein oder Pfahl, der Fall oder 


Steigen der Bahn anzeigte. Nichts, gar nichts war zu jehen, 
als ein niederer Aufwurf von Erde, kaum wenige Zoll höher 
als die Prairie felber, dann die darüber gelegten Schwellen 
und die darauf mit eijernen Spiefern befejtigten Schienen, 
und ſtumm, aber bedeutungsvoll, zeigte diefer eilerne Arm 
nad Weiten. Das war das Ziel, dad er fich geſteckt, und 
fein Hindernig — feine Gefahr konnte ihn davon zurüd- 
ſchrecken, das auch zu verfolgen. 

Lebende Weſen ließen fich nirgends umher erfennen, ein 
Heined Nudel Antilopen ausgenommen, die ſich dort draußen 
in der Prairie fpielend herumhetzten, und nur mandmal in 
ihren munteren Sprüngen aufhörten, um von dem allerdings 
nicht einladenden harten Gras zu nafchen. 

Es war in der That ein ziemlich troftlofer Plab; das 
Land fah dürr und vertrodnet aus. Das Gras ftand in 
kurzen, jtrammen und harten Büſcheln, und dazwiſchen muchjen 
fait nur jene niederen, rundblättrigen, aber mit nichtswürdigen 
Stacheln bemwehrten Cactusftauden, die überall verſteckt unter 
den harmlofen Gräfern drohten. 

Kein einziger Baum unterbrach dabei die Monotonie des 

Bodens, und nur die leife Erhöhung im Norden chien nad) 
dorthin einen größeren, und vielleicht auch freieren Ueberblid 
zu verfprehen. Der Wanderer hätte jich aber dort, wenn er 
fie wirklich eritiegen, eben fo getäufcht gefehen, denn Hinter der 
Anhöhe lag, nur in größerer Ferne, wieder eine andere, dieler 
gleich, und wenn man die eritieg, folgte eine dritte, vierte, 
fünfte bi8 in weite, weite Ferne hinaus. — Es mar eine 
vollfommene Wüſte, nur nit mit Sand gefüllt, jondern mit 
dürftigem Gras bewachſen, aber ſonſt eben jo unmwirthhar als 
die Saharas, und wie ſie jonft heißen, der alten Welt. 

Das Nudel Antilopen hatte indeflen jein munteres Spiel 
fortgefebt. Glückliche Geſchöpfe; ihnen war jelbft diefe Wüſte 
ein Paradies, denn fie hatten hier ihre Heimath, und Gefahr 
kannten fie Feine, die fie nicht auch leicht auf dieſer weiten 


897 


Ebene hätten vermeiden können. Da plötzlich ſtutzte der eine 
junge Bock und warf den jhönen Kopf empor, den er gegen 
den Wind aufwarf. Der Luftzug, der von dort herüber ftrich, 
hatte ihm etwas Fremdes, feiner Natur Widerjtrebendes ent: 
gegengetragen: die Witterung feines Feindes, des Menjchen, 
und nit lange dauerte es, bis auch die übrigen Thiere des 
feinen Rudels aufmerkjam barauf wurden. 

Einen reizenden Anblid bot jebt das zierliche Wi, als 
ed, ein Bild der gefpannteiten Aufmerkſamkeit, dort auf dem 
freien Plan jtand und der Richtung zuäugte, wo es die 
nahende Gefahr vermuthete. Keck und hochgehoben ftanden 
fie da, aber doch auch ſcheu und beunruhigt, denn noch fonnten 
fie feinen Punkt erkennen, der mit der fremden Witterung in 
Verbindung ftand, und fie ſchienen zweifelhaft zu fein, von 
welcher Richtung her ihnen wirklich etwas drohe. 

Da plößlih hoben fih auf dem Erdrüden im Norden 
dunfle Geftalten hervor — zuerft ein Einzelner, dann ein 
kleiner Trupp Anderer, und jetzt folgte ein Schwarm von 
Menſchen und Pferden, der ſich bald darauf über den Höhen— 
zug ausbreitete und, wie unſchlüſſig über die zu nehmende 
Richtung, halten blieb. 

Das ſcheue Wild wandte ſich jetzt zur Flucht — nur der 
Bock hielt noch Stand. Er ſah recht gut, daß ſich der Feind 
nicht bewegte, wenigſtens noch nicht näher kam, und fürchtete 
ihn nicht mehr, weil er ſich jetzt bewußt war, die Gefahr 
leicht vermeiden zu können. Die Wanderer oben auf dem 
niedern Hügelrücken ſchienen auch in der That zu berathen, 
nach welcher Richtung hin ſie ihren Weg verfolgen ſollten, 
und Vier oder Fünf hielten zuſammen, von den Uebrigen etwas 
entfernt, und deuteten nach verſchiedenen Richtungen in die 
Steppe hinab. Endlich mußten ſie einen entſcheidenden Ent— 
ſchluß gefaßt haben, denn plötzlich tauchten die Erſten in das 
graugelbe Gras des Hügelrückens ein, in deſſen Färbung und 
auf dem matten Hintergrunde fie faſt verjchwanden — ihre 
Richtung lag gerade auf die Antilopen zu. Uber jebt hielt 
es auch der Bod nicht länger für gerathen, hier zu meiden. 
Noch einmal warf er den ſchönen Kopf nah jeinem übrigen 
Rudel zurüd, das ihn in geringer Entfernung ermartete, 


938 


witterte noch einmal nah den Feinden binüber, ſtieß dann 
einen eigenthümlichen Ton aus, der die Mitte zwiichen einem 
Pfeifen und Schnauben hielt, und flog jetzt in Begleitung der 
Seinen in langen, flüchtigen Säten quer über die Steppe hin 
nah Südweſten hinaus. 

Selbſt die Eifenbahn jchredte fie dabei nicht ab, fo fehr 
fie th auch im Anfang davor gejheut haben mochten. Sebt 
waren fte daran gewöhnt, und mit einem mächtigen Sat 
flogen fie darüber hin, hinaus in’S Weite, eine fihere Stelle 
zu ihrem Aeſungsgrund juchend. 

Sonderbarer Weife nahmen aber die Jäger — denn wer 
anders als jolche konnten durch diefe Steppe ziehen? — nicht 
die geringfte Notiz von ihmen, ſetzten ihre Pferde weder im 
Galopp, noch ſuchten fie ihmen in der jekt genommenen 
Richtung den Meg abzufchneiden. Langſam verfolgten fie 
ihren Weg und jchlugen dann, als ſie die Eiſenbahn fait 
erreicht hatten, ihr Xager auf — daS heißt, fie jprangen von 
ihren Neitthieren und befejtigten dieſe wie die Packthiere an 
langen Laſſos und in den Boden gefchlagenen Pflöden — ein 
Zeichen, daß fie hier jedenfalls eine Zeit lang verweilen wollten, 
und doch war fein Tropfen Waſſer in der ganzen Nachbar: 
ſchaft zu finden. 

Die Burſchen ſahen aber nicht fo aus, ald ob fie fi 
auf friedlihen Wegen befinden. Es waren Indianer vom 
Stamme der Shyennes, jener wilden, Friegeriihen Banden, 
die hauptjächlich zwilchen dem obern Arkanſas und dem 
Platte-Fluß ihren Wohnfib haben. Hatte fie die Jagd fo 
weit nah Norden hinaufgeführt? — aber die Gegend war 
gerade hier wildarm, und die Büffel hatten fih ſchon längft 
von dem ftörenden Straßenbau und dem häßlichen Pfeifen 
und Schnauben der Locomotive viel weiter nad) Süden hinab» 
gezogen. Diefe Burfchen hier waren aber auf Jagd oder gar 
Krieg vorbereitet, denn ihre Tracht Schon verriet) das deutlich. 

Sie gingen bis zum Gürtel nadt und waren, beſonders 
im Gefiht, mit rothen und ſchwarzen Streifen bemalt; der 
Führer des Schwarms trug in der feit zulammengemidelten 
und ftarken Scalplode drei mächtige Adlerfedern, von denen 
eine emporjtand und die anderen beiden ihm über den Rüden 


539° 


Hinunter hingen, und am den braumgefärbten und langaus— 
gefraniten Lederleggins, die feine Beine dedten, hingen lange 
Streifen Ihwarzen Menſchenhaares — Scalpe, die er in den 
verichiedenen Kämpfen genommen, und die ihm jetzt zur 
Zierde wie als Trophäen dienten. Auf feinem Sattel lag eine 
grünmollene Dede, von den Weißen eingehandelt, oder auch 
' vielleicht irgendwo bei einem Ueberfall geraubt, und an dem 
Sattelfnopfe hing der etwa zwei Fuß lange Calumet, die 
eigentliche Pfeife der Indianer, den Kopf aus jenem harten 
rothen Stein gefchnitten und abgejchliffen, der am Miffouri- 
fluß gebrochen: und als geheiligtes Eigenthum aller Stämme 
betrachtet wird. 


Sp weit glih er auch noch vollfommen einem der alten 
Häuptlinge, wie fie uns Cooper in feinen prachtvollen Er- 
zählungen fo wahr und treffend, wenn auch manchmal ein 
wenig poetiih ausgefhmüdt, geichildert. Aber mit dieſem 
jtimmte feine Bewaffnung nit überein. Weber die Schulter 
trug er allerdings den aus einer weißen Wolfshaut gefertigten 
Köcher mit dem kurzen, jtraff geipannten Bogen und den 
mit eifernen Spitzen bewehrten Pfeilen, über der andern 
Schulter aber Hing ihm ein richtiges Doppelglas, ein jo- 
_ genannter Dpernguder, in fein fafftanenem YZutteral, und um 
die Hüften trug er einen breiten Xedergürtel, in dem rechts 
und links ein jechsläufiger Revolver ſtak. 


Der alte Häuptling war überdieß ein finjterer, entjeblich 
wild ausjehender Geſell; ein tapferer, tollfühner Krieger, und 
dabei das Urbild jener trogigen, nod unbezwungenen Stämme, 
die lieber verderben und fterben wollen, ehe fie fi den Ge— 
feben und Formen, oder einem civilifirten Leben fügen. 


Wagalikſchu Huka, oder Truthahnbein in der Ueberfebung, 
galt für den keckſten und wagehalfigiten Häuptling der Steppe, 
und mehr Blut lebte vielleicht an feinen Händen, ala an 
denen von zehn anderen Indianern feiner Bande. Was ihm 
den Namen verihafft? — wer konnte e8 jagen? Aber ein 
Scherzwort unter den Einzelnen giebt oft den Ausſchlag zu 
einem Namen, den der Betreffende möglicher Weife bis an ſein 
Lebensende trägt, vielleicht aber auch plößlich abändert, wenn 


40 


irgend eine That oder eine von ihm erzählte Anekdote ihm ein 
andere Beimort aufhängt, das er von da an trägt. 

Wagalikſchu Huka jah aber gar nicht fo aus, als ob er 
überhaupt jcherzen könne. Sein faſt übermäßig langes, 
mageres Gefiht verzog fih nie zu freundlichen Falten, die 
Drauen hatten ih ſchon von Natur fo zufammengezogen, als 
ob er über irgend etwas zürne, und das dunkle, jekt von 
grelrothen Streifen ummalte Auge hatte einen jo Falten, 
ihlangenähnliden Ausdrud, dag man fait unwillkürlich davor 
. zurüdichauderte, wenn es Einem raſch begegnete. 

Sein Körper war mit zahlreichen Narben bededt, worunter 
einige erjt friich geheilt jein mußten, aber feine ſchien auch 
nur eine feiner Muskeln außer Thätigfeit gejeßt zu haben, 
und troßdem daß er ſchon wenigjtens ſechsundvierzig Jahre 
zählen mochte, waren jeine Bewegungen, wenn auch nicht raſch, 
doch elaſtiſch und verriethen die Kraft, die in ihm ruhte. 

eben ihm ſtand, als die Reiter aus den Sätteln ges 
Iprungen waren und das Befeitigen der Thiere den jüngeren 
Indianern überlafjien hatten, eine PVerjönlichkeit, die eigentlich 
nit in diefe Geſellſchaft zu gehören ſchien. 

Es war ein weißer Mann — weiß wenigitens feiner 
urjprüngliden Hautfarbe nah, wenn ihm die Sonne der 
Prairien auch wohl Gefiht und Hände ziemlih braun gefärbt 
hatte. In feinem fonftigen Aeußern gli er aber mehr 
einem der niedrigiten Indianer, als einem civilifirten Menſchen. 
Sein rothes, Iodiges, aber vielleicht ſeit Monaten nicht ge— 
kämmtes Haar war mit einem alten, zerfeßten und ſchmutzigen 
Tuch ummunden. Seine Beine jtafen in einem eben foldhen 
Paar Leggins, als fie die übrigen Indianer trugen, nur daß 
er Feine Scalploden daran befeitigt hatte, und ein altes, ein= 
mal blau geweſenes wollenes Jagdhemd, mit Ueberreiten von 
rothen Franfen, dedte feinen Oberkörper. An den Füßen 
trug er Mocaffing, und einen der langen amerikaniſchen Rifles 
auf der Schulter, wie ein breites, langes Meſſer an der 
Seite. 

„Freund,“ fagte jeßt der alte finftere Häuptling, der in— 
defien das Terrain raftlos überihaut Hatte und feine Blide 
befonders abwechjelnd nad den beiden Endpunkten der Eijen= 


244 


bahn jchweifen ließ, „mir gefällt der Plab Hier nicht. Wir 
liegen bier offen in der Prairie, und wenn das Feuerroß der 
Weißen vorbeitommen jollte, jo find fie gewarnt, und unfer 
Plan ift vielleicht für einen ganzen langen Mond gefcheitert.‘ 

„Bah,“ lachte der Weiße verächtlich, indem ſich ein häßliches 
Lachen über feine Züge legte, „ich Tenne fie befier! Etwas 
Beſonderes tft nicht vorgefommen , fonft wäre der Zug Schon 
viel früher von Omaha hier herausgefommen. Vom Fort 
Kearney aus geht fein Zug ab, und der nächjfte, der bier vor: 
über fommt, ift der, den wir erwarten, mit den Gütern von 
Dmaha, der etwa um Mitternacht hier die Stelle paffiren 
muß. Bir find vollfommen ficher.” 

„Und wollen wir die Arbeit gleich beginnen ?'‘ 

„Rein, jagte der Weiße nach einigem Zögern. „Wir 
dürfen uns auch nicht der Möglichkeit einer Gefahr oder eines 
Mißlingens ausſetzen. Die Arbeit ift in einer halben Stunde 
gethan, und wir können damit bis zum letzten Augenblick 
warten.‘ | 

„Aber die Räder find Stark," fagte der Häuptling, „es 
verlangt viele Kraft, um fie zu bezwingen.‘ 

„‚Meberlaß das mir, Wagalikſchu Hufa, überlaf das mir. 
Ich habe es übernommen und weiß, wie e8 gemacht werden 
muß. Wir find ficher !' 

„Hau!“ nidte der Häuptling, feine grüne Dede von dem 
neben ihm liegenden Sattel nehmend und feinen nadten 
Dberkörper hinein mwidelnd, denn der Wind ftrih Falt und 
fröftelnd über die Ebene, „es ift gut — ich will Dir glauben.“ 

„Und unfere Verabredung fennft Du?“ 

„Ich kenne fie, fagte der Häuptling troden, „thue Du, 
was Du verſprochen, Du magit dann das Andere ruhig una 
überlafjen und braucht Deine Geftalt nicht zwiſchen den 
 Bleihgefihtern zu zeigen. Was Wagalikſchu Huka übernimmt, 
führt er auch allein aus, und Dein Lohn fol Dir ebenfalls 
nicht vorenthalten werden.’ 

„Gut denn,‘ lachte der Weiße, „ſo laßt die Pferde ruhig 
hier raſten und füttern, damit fie ihre Kräfte behalten und 
wir nachher deito rafcher von der Stelle kommen.‘ 

„And follen wir Feuer anmachen?“ 


942 


„Jetzt gewiß! weshalb nicht? denn käme jetzt felbit ein 
Zug und jähe und, jo würde er nicht ander glauben können, 
als dag wir friedlid gefinnt wären. Die Pawnees maden 
ja auch jelber zuweilen bis hier herunter ihre Streifzüge, und 
was weiß das weiße Gefindel, welchem Stamme hr an 
gehört. — Nur mit einbredender Dunkelheit müfjen mir. die 
Teuer löſchen.“ 

Der Häuptling murmelte eine Verwünſchung durd die 
Tippen, als der Name der verhaßten Pawnees genannt wurde, 
aber er erwiderie fein Wort, gab nur ein paar furze Befehle 
an feine Leute und warf ſich dann langausgeftredt auf die 
Prairie nieder. 

Reges Leben entjtand jetzt ringsumbher, denn die Indianer 
führten eine ziemlich große Anzahl von vollftändig unbepadten 
Pferden bei fih, von denen jehr viele die beiden Stangen 
mit dem darüber gejpannten Neb, auf welchem fie gemöhnlid) 
ihre Bagage fortichaffen, Hinter fich herichleiften. Das Alles 
wurde jebt abgeworfen, aber jo geordnet, daß e8 im Moment 
auch wieder zum Gebrauch bereit lag. Vor jedem bejondern 
Theil befeftigte man dann die Pferde an einer pajlenden 
Stelle, jo daß feine Verwirrung entftehen konnte, und exit 
al? man das Alles bejorgt und die Thiere in Ruhe mußte, 
gingen die Indianer daran, ihren eigenen Lagerplatz herz 
zurichten. Das mußte nämlich gejchehen, ehe die Nacht an: 
brach, denn die zahllofen Eleinen, aber entjetlich ſcharfſtacheligen 
Cactus, die dort überall umher wuchſen, madten eine Fuß— 
mwanderung durch die Prairie barfuß oder jelbft in dünnen 
Mocaſſins zu einer wirflid gefährlichen Sade, da die in den 
Fuß getretenen Stacheln oft die ſchlimmſten und hartnädigiten 
Wunden nachließen. Die Indianer mußten aber vortrefilich 
in ſolcher Arbeit Beiheid; im Nu war ein pafjender, von 
Cactus ziemlich freier Plab ausgefuht, und ein einzelnes 
Feuer darauf theils mit Gras, theil$ mit mitgebracdhten Kleinen 
Holzftüden entzündet, während man auch neben der Bahn 
einzelne Holztheile fand, die dort verloren gegangen und unz 
beachtet liegen geblieben waren. Die Indianer wollten aller- 
dings größerer Bequemlichkeit halber einige der Telegraphen- 
fangen umbauen, um damit vollfommen genügendes Teuer: 


843 » 


holz zu bekommen; ihr meißer Begleiter litt das aber nicht 
und ſprang raſch Hinzu, als fie die erſte Hand daran legten. 
&r wußte reht gut, daß die in der nädjten Station be- 
findliden Beamten augenblidlich vermuthet hätten, in welcher 
Gegend der Draht zerftört fei, und möglih, daß dann ihr 
ganzes Unternehmen vereitelt werden. konnte. Jetzt nod) 
mußten fie jede Borficht gebrauchen, und nur wenn ihr ganzer 
Plan geglüdt war, mochten fie nachher thun, was fie wollten, 
ja es lag dann ſogar in ihrem Intereſſe, eine telegraphiiche 
Berbindung zwiſchen den verfchiedenen Stationen unmöglich zu 
machen. 

Die wenigen Lebensmittel, welche die Indianer mit fid 
führten, wurden indefjen verzehrt, und die Sonne war ſchon 
Hinter den Horizont gejunfen, als der Häuptling den Befehl 
gab, das Teuer auszulöfhen und nur vorher den Pferden 
einen andern Platz anzumeifen, damit fie einen frischen 
Weideplab fünden. Das war bald gejhehen, und als die 
Naht anbrad und ſich über die Steppe legte, ſchien die weite 
Slähe mie todt und ausgejtorben, und nur die funfelnden 
Sterne warfen ein mattes, ungemifjes Licht herab, in dem fi 
aber ſchon auf ganz kurze Entfernung fein beftimmter Gegen: 
ſtand erfennen ließ. 

Sp modte es zehn Uhr Abends geworden fein; der große 
Bär hatte fih ſchon hoch über den Nordftern hinausgehoben, 
und der Weiße hielt es jet für an der Zeit, ihre Arbeit zu 
beginnen. Bis jebt war noh Alles nah Wunſch gegangen; 
von feiner Seite irgend ein lebendes Wefen, viel weniger denn 
einer der jeltenen Eijenbahnzüge, die ihren Zielpunft erjt am 
Stillen Meer haben follten, in Sicht gefommen, und was fie 
auch unternehmen wollten, fie durften darauf rechnen, nicht 
gejtört zu werden. 

Der in der Begleitung der Indianer befindliche weiße 
Schurfe ging jebt zu einem der etwas abſeits liegenden Sättel 
und holte von dort eine kurze, aber ziemlich feſte eijerne 
Brechſtange, und dem Häuptling einige Worte zuflüfternd, 
ſchritt er langjam und vorfihtig, um nidt doch nod in 
irgend einen Cactus zu treten, nah der Bahnjtrede hinüber. 
Ihm aber folgte der Häuptling mit feinen Leuten, und 


A wu 


944 


während Wagalitihu Huka mit zufammengefchlagenen Armen 
neben der Bahn ftehen blieb und den Arbeitern zufchaute, Jah 
er, wie der Weiße mit außerordentlich geihicdter Hand, und von 
ein paar fräftigen Indianern dabei natürlich unterjtüßt, zwei 
von den Schienen hüben und drüben aufbrach, die Schwellen 
dann ebenfall3 herausnahm und feitwärtS ablegte, und in 
Zeit von einer halben Stunde da3 eigentliche Gleis der Dahn 
dermaßen nad Norden ab und in die Prairie gelegt hatte, daß 
ein von Diten fommender Zug rettungslos darauf abgleiten 
und in den rauhen Boden hinein gejchleudert werden mußte. 
Der Häuptling mochte auch wohl veritehen, wie die Sache ge 
meint war, denn er nidte leife vor fih hin mit dem Kopfe, 
hatte aber noch immer ein Bedenken. 

„Und wenn das feurige Pferd nun dort hinüber Fährt, 
jtatt in der alten Bahn,“ fagte er nad) Furzem Zögern, ‚wer 
will es halten? denn unfere Thiere find nicht flüchtig gang, 
um es einzuholen. &3 ift jehr ſchnell.“ 

„Nach der Richtung?’ lachte der Rothkopf verächtlich; 
„glaubft Du, die jcharfen jchweren Räder fünnten nur die 
Länge eines Laſſos in dem meiden Grund fortlaufen, ohne 
umzumerfen oder ſtecken zu bleiben? Hab’ Feine Furcht, 
Wagalikſchu Hufa, Sobald der Zug nur in Sicht fommt, find 
wir jeiner ficher, denn in der Nacht kann er die drohende 
Gefahr nicht eher bemerfen, ala bis es für ihn zu fpät ift. 
Maht Euch nur fertig, daß wir nachher Feine zu lange Zeit 
verfäumen und einen gehörigen VBoriprung befommen.‘ 

Der Häuptling ermwiderte nichts weiter, er wandte fich zu 
feinen Leuten, und wenige Minuten jpäter gingen dieſe daran, 
die Pferde wieder aufzufatteln und aufzuzäumen, und die 
Stangen an den Padthieren zu befeftigen, jo daß fie jeden 
Moment zum Aufbruh bereit waren. Dann lagerten fich 
Alle wieder um ihren alten, jeßt aber verlöichten Feuerplak, 
der eine kurze Strede von der Bahn entfernt war, und nur 
der Häuptling allein blieb aufrecht und in feine dunkle Dede 
gehüllt ftehen, den Blik feft der Richtung zugewandt, von 
wo er mußte, daß der erwartete Zug der a Blei 
gefichter, mit dem feurigen Roß voran, zuerit erfcheinen mußte. 
ie manche lange Nacht hatte er jo verſteckt in der einfamen 


ae 845 — 
Prairie gelegen, mit Grimm und Zorn im Herzen den ge— 
heimnißvollen Zug dunkler, maſſenhafter Geſtalten, mit dem 
ſchnaubenden, feuerſprühenden Ungeheuer davor, vorüber brauſen 
ſehen und nur in machtloſer Wuth dabei die Fauft geballt. 
„set war der Augenblick der Rache gekommen, und geduldig 
wie früher, Feine Muskel in feinem düftern, wildbemalten 
Antlitz zudend, erwartete er den erfehnten Moment. RR 

So ſtand er wohl volle anderthalb Stunden lang, nicht 
wie ein menjhlihes Weſen, das Ermüdung kennt, fondern 
wie aus Stein gehauen, ohne feine Stellung auch nur im 
Mindelten zu ändern, ja ohne ein Glied zu rühren. Da 
plößlih zudte er zufammen und bog fih vorwärts — ein 
dumpfes, grollendes Geräufh, wie das ferne Rollen eines 
Donner, traf fein Ohr — er fannte e8 genau genug, hatte 
er ihm doch fo oft gelauſcht. Es mar der nahende Zug, der 
ih fat um eine Stunde verfpätet Hatte, und jebt dauerte es 
auch nicht lange und er konnte in der weiten, nah Dften zu 
von feiner Erhöhung unterbrochenen Prairie den erften Licht: 
punkt erkennen, der dort wie ein Stern über den Horizont 
emporjtieg. Aber auch jebt regte er fi nicht meiter. Er 


wußte, die Zeit war noch nicht gefommen, und mit der. Ge- 


duld eines Indianers erwartete er fie, aber zum erften Mal 


legte fih ein finſteres Lächeln über feine Züge, ala er das 


Licht heller und Helfer vorſcheinen fah, und zuletzt fogar im 
Stande war, die beiden Lichter, die vorn an der Locomotive 
die Bahn erhellten, von einander zu trennen. Der Zug war 
auf faum eine Meile Entfernung berangefommen. — Die 
Indianer im Lager, die faſt alle eingefchlafen waren, ſprangen 
auf ihre Füße, und in wenigen Minuten mußte fi das 
Schickſal des bedrohten Zugs entfcheiden. 





gr. Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 88 


46 


>) 


ad 


Der bedrohte Zug. 


An Omaha war der nad Julesburg bejtimmte Güterzug 
ein wenig verzögert worden, denn es trafen fo viele Güter für 
den Welten und die dort wie Pilze aufwachſenden Städte ein, 
daß noch eine andere Locomotive mit einem Fleineven Zug ders 
gerichtet werden mußte, um dem erjten zu folgen. Erſt als 
dieſer ebenfall3 fo ziemlich zur Abfahrt bereit war, ſetzte ſich 
der erite in Bewegung und ſuchte nur durch etwas rajchere 
Fahrt die verfäumte Zeit wieder einzuholen. Das gelang 
ihm aber doch nicht ganz Es Fam auch eben nicht viel dar— 
auf an, denn für Diefe Züge gab es feinen Anflug. In 
die weite Prairie zogen ſie hinaus, zu dem jogenannten end 
of the track, oder dem Ende der Bahn, und ob fie dort eine 
Stunde früher oder jpäter eintrafen, blieb fi) ja vollfommen 
gleich. 

Merkwürdig war e8 aber, welcher ungeheure Verkehr fich 
Ihon da draußen in der Wildniß eröffnet hatte, ehe felbit Die 
Bahn zu irgend einem Ziel gelangt war. Früher hatte man 
faum auf irgend eine Einnahme bei den Zügen, vor Vollendung 
der ganzen Wegitrede, gerechnet, fie wenigftens bei den Koſten 
des Unternehmens faum in Anſchlag gebradht. Bald aber 
itellte fi) heraus, daß man dem zähen und fpeculirenden 
Charakter der Amerikaner lange nicht genug Rechnung ge . 
tragen, denn wie e8 nur einmal entjchieden war, daß Die 
Bahn unter jeder Bedingung, und troß aller bejtehenden 
Schwierigkeiten, durchgeführt werden folle, als auch der Unter: 
nehmungsgeiſt diefes zähen Volkes in ungeahnter Kraft er: 
wachte und in kurzer Zeit das unmöglich Scheinende möglich 
machte. 

Sowie nur die Bahn eine kurze Strecke in die Wildniß 
hineingeführt war, entſtanden an jenen Stellen, die man als 
Stationen bezeichnet hatte, faſt mit Zauberſchnelle kleine 


947 


Städte. Wie man die Häufer oder Wohnungen baute, war 
vollfommen gleich; in der trodenen Jahreszeit genügten ja 
Ihon Zelte jedem Bedürfniß, das diefe Leute Fannten, und 
al3 Faltes Wetter und Schnee und Regen eintraten, gingen 
ganze Güterzüge mit Brettern und Nägeln beladen in die 
Wildniß hinaus, um daraus Hütten oder Häufer für Händler 
oder Branntweinſchenken zu bauen. 

Sa, damit begnügten fich Die Yankees nicht einmal. So— 
wie fie nur einen Platz beſtimmt bezeichnet erhielten, wo weit 
voraus ein größerer Haltepunkt angelegt werden follte, und 
wenn fie fanden, daß ihr Geſchäft in dem eben eingenommenen 
Platz zu viel Concurrenz erhielt, rifjen fie die faum gebauten 
Häuſer wieder ab, padten fie auf Wagen und eilten der 
Gifenbahn um viele lange Meilen voraus, um dort die Erften 
zu jein, die fich nicht allein ein Eigenthum gründeten, jondern 
auh den erſten Rahm von allen auftauchenden Vortheilen 
ſchöpfen fonnten. 

Alle diefe Leute brachten aber nicht allein Provifionen mit 
für fih, um dort eine Zeit lang auszuhalten, fondern auch 
Waaren zum Verkauf. Spirituöfe Getränke, Tabak, Pulver, 
Dfei, Kleider, Waffen und taufend andere Dinge — Billards 
wurden jogar dahin ausgeführt umd andere Spieltijche, Furz, 
eine Eleine Stadt entjtand in dieſer Wildniß, aber mit allen 
Lajtern einer größeren. Es wurde viel Geld verdient, aber 
natürlich auch eben jo raſch wieder verjchleudert — und ein 
Derkehr wuchs, ohne daß man es ahnte, herauf, dem Die 
wenigen Güterzüge kaum alles das zuführen Fonnten, was 
er mit Zauberfchnelle verfchlang. 

So wurde Julesburg, gar nicht mehr fo weit von den 
blue mountains, den Ausläufern der Yeliengebirge, gebaut, 
und noch ſtand e3 nicht ſechs Monate, als man ſchon ein 
Drittheil der Häufer wieder auf Karren lud und eine neue 
Stadt in der Wildniß, dreißig Meilen jelbjt vor dem End» 
punft der Schienen — Sheyenne city — gründete, Bis 
Julesburg ging aber jebt nur der lebte Güterzug, wenn auch 
die Bahn ſchon mehr als vierzig Meilen weiter gelegt war, 
und für dort waren auch die Waaren bejtimmt, die der jebige 
Zug bradte. Der Perfonenzug, der nur wenig Güter mit: 


35* 


948 


nahm, war an dem Morgen — etwa gegen Mittag — vor— 
beigegangen. 

Der jebige Zug beftand, außer der Locomotive und dem 
Tender, aus acht Wagen mit ziemlich werthvoller Ladung 
und hatte jeine Bahn bis dahin ungejtört fortgejeßt. Schnur: 
gerade lagen ja auch die Schienen in der Prairie, faſt ohne 
die geringfte Curve, und Bäume gab e8 dort ebenfall3 nicht, 
die hätten über die Bahn fallen und diefelbe dadurch gefährden 
fonnen. Es war eine reine Vergnügungsfahrt, einen Zug 
bier hindurch zu führen, und nur die einzige und alleinige 
Gefahr drohte der Bahn dur die Indianer, die allerdings 
Ihon einigemal auf die vorbeiziehenden Trains gejchoflen, 
auch ſchon den Verſuch gemacht Hatten, die Bahn zu ver: 
barrifadiren. Sie fingen e& aber auf fo ungeſchickte Weife 
an, daß ed der Zugführer immer noch zur rechten Zeit be: 
merkte und die Gefahr dann mit leichter Mühe vermeiden 
fonnte. Was machten fich auch diefe an Gefahren gewöhnten 
Menihen, die ihr Leben außerdem nur fehr gering achteten 
und hundertmal in die Schanze ſchlugen, aus ein paar halb— 
nadten Indianern, die mögliher Weife am Wege lauern 
fonnten! 

Es waren nur ſechs Menſchen auf dem Zug, der Ingenieur, 
der Heizer, zwei Padmeilter und zwei Bremſer; Jeder von 
ihnen trug aber feine zwei Nevolver im Gürtel, und ein halb 
Dutzend Henrybüchfen, mit denen man vierzehn Kugeln in 
einem Strich abfeuern Eonnte, ftanden ebenfalls im Packwagen 
befeitigt. Es hätte fie alſo ſchon eine tüchtige Macht anz 
greifen müfjen, ehe fie fich irgendwie würden beängitigt ge- 
fühlt haben. Sie Fannten feine Furcht und achteten auch 
deshalb Feine Gefahr. 

Der Ingenieur war mit dem Heizer vorn auf der Kocomotive, 
die zwei Pacdmeifter mit dem einen Bremfer jagen in dem 
eriten, für das Kleinere Gepäd und zu ihrem Aufenthalt be- 
ſtimmten Güterwagen, in dem auch die Gewehre ftanden, zus 
jammen, rauchten ihre kurzen Pfeifen, ſpuckten überall umher 
auf den Wagenboden und plauderten mit einander. Sehr 
natürlicher Weife aber drehte fi) das Geſpräch meift um die 
jebt ausgebrocenen und fie am meiſten berührenden Indianer— 


249 


unruhen, nahdem der Eine einen furzen Bericht beendet, den 
er eben auf der Iebten Station gehört, und wonach die 
Wilden wieder einen neuen Ueberfal in Minnejota gemacht 
haben jollten. 

„Hol's der Teufel!” brummte der Andere, „für meinen 
Theil wollte ih, daß die braunen, blutdürftigen Beſtien von 
der ganzen Erde vertilgt wären — das würde endlich einmal 
ein Ende zu den verdammten Streitigkeiten und Reibereien 
fein, aber — aufrichtig gejagt — verdenten kann ich's ihnen 
niht, daß fie manchmal vorbreden und den Teufel loslaſſen; 
denn wenn irgend eine Nation und Amerikaner jo behandelte, 
wie fie von uns behandelt find, jo würden wir ihnen aud) 
blanke Mefjer und gezogene Büchjenläufe zeigen.‘ 

„Den Henker auch,‘ rief der Andere, ‚werden fie etwa 
Ichlechter behandelt, ald fie es verdienen? Haben fie nicht 
neulich erjt wieder Bill Riley fcalpirt, und Haft Du die 
Leihen der Soldaten draußen in der Steppe gefehen, die fie 
mit Pfeilen förmlich geipidt und denen fie außerdem große 
Fleiſchſchnitte in die Körper geriffen hatten? Verbrannt will 
ich werden, wenn ich nicht, was mich betrifft, jeden Indianer, 
der mir in den Weg fommt, wie einen tollen Hund über den 
Haufen ſchieße.“ 

„Und wenn’s nun eine Frau wäre?’ ſagte der Andere 
troden. 

„Was thät's!“ rief der Erftere erhibt, „ſie zieht Doch nur 
wieder Andere von der Brut auf, und in den Mebeleien find 
die indianischen Weiber gerade die, die eben die größten und 
ſcheußlichſten Grauſamkeiten ve üben. Es find reine Beitien, 
und Rosby, der indianiſche Agent, hat mir oft geſagt, daß ſie 
von den Weibsbildern am meiſten zu leiden hätten.“ 

„Verdamm' ihn!“ brummte der Dritte, der, auf ein paar 
Kiſten behaglich ausgeſtreckt, nur geraucht und geſpuckt, ſich 
aber an der Unterhaltung noch gar nicht betheiligt hatte. 
„Die Schurken gerade find es, die uns die Rothhäute fort— 
während über den Hals jchiden, denn ohne fie hätte wir lange 
Frieden.“ 

„Wer? die Weiber?’ 
„Nein, die Agenten,“ brummte der Andere wieder. „Onkel 


900 


Sam zahlt Alles, was er den Indianern bei den verichiedenen 
Berträgen zugefagt, auch redlich und bei dem Dollar ab, aber 
nicht direct an die Rothhäute, fondern an das Yumpengefindel, 
die Agenten, und wenn Jemand auf der weiten Gotteswelt 
ftiehlt, jo ift e8 ein indianiſcher Agent.‘ 

„Aber wie fol er ſtehlen?“ frug einer der Anderen. 

„ie er ftehlen ſoll?“ Tautete die Rückfrage, „erkundige 
Dich einmal hier bei irgend einem der Händler, von wen fie 
Mehl oder Kaffee und Zuder beziehen — von dem Agenten, 
und zu einem eben jo billigen Preis hier an Ort und Stelle, 
al3 fie in Dmaha dafür bezahlen müßten. Und woher friegt 
der’ 8? — Das tft nichts als für die Indianer geliefertes 
Gut, und aus feiner Taſche kauft er denen beim Himmel 
feinen andern Sad mit Mehl und zahlt ihn theurer, als er 
ihn bier verfauft. — Und geh einmal zu ihm und frag ihn 
unter der Hand, ob er nicht vielleicht eine wollene Dede ab: 
zulafien hätte? — Zehne für eine, und befitt er andere als 
jolche, die ihın Onkel Sam für die Rothhäute geliefert Hat? — 
Nicht ein Stück. Ebenſo verkauft er eine Menge indianischen 
Plunder, den er den Wilden natürlich für andere Waaren 
abgefauft. — Büffelfelle kann man auch von ihm befommen. 
Uber das find Alles nur. Kleinigkeiten, denn was er im 
Großen wieder an andere Unterhändler abläßt, erfährt fein 
Menſch, und nicht umfonft Haben die Nothhäute wieder und 
wieder von der Regierung erbeten, daß fie ihnen nun endlich 
einmal einen ehrlichen Agenten ſchicken jolltee Woher nehmen 
und nicht ftehlen! ES giebt eben Keinen.‘ 

„Bah! und was für ein Unglüd iſt's,“ brummte der 
Andere, „wenn die rothen Halunfen ein paar wollene Deden 
oder einen Sad Mehl weniger befommen, es ift ihnen das 
ja doch nur Alles gefchenkt, denn das Land gehört uns, und 
verdammt der Dollar, den fie von mir dafür befommen 
jollten, wenn ich ein Wort darin zu fagen hätte. in weißer 
Mann verdient die Kleinigkeit weit eher.‘ 

„Kleinigkeit? ein Agent hat fünfzehnhundert Dollars Gehalt 
und zieht fich gewöhnlich nad) ein paar redli im Dienft ge— 
ftandenen Jahren mit der Kleinigkeit von dreißig- bis vierzig- 
taufend Dollars in das Privatleben zurüd — eine allerliebite 


554 


Kleinigkeit. — Aber wahrhaftig, die Nachtluft zieht hier ver— 
wünſcht kalt und fröſtelnd herein, und die alte Thür iſt auch 
noch nicht wieder gemacht. Ich gehe einen Augenblick auf 
die Locomotive hinaus, um mich ein wenig durchzuwärmen 
und mit auf die Bahn aufzupaſſen, daß uns die Herren von 
der Steppe nicht einmal wieder, wie neulich, ein paar 
Schwellen quer über die Schienen legen. Dasmal ging's gut, 
ein andermal könnt's aber ſchief gehen.“ 


„Ich werde mich ein wenig ſchlafen legen,“ ſagte der 
andere Packmeiſter, indem er aufſtand und ſeine Pfeife aus— 
klopfte. „Der Ingenieur paßt ſchon auf, denn dem geht's 
zuerſt an den Kragen, wenn ſeine Locomotive einen Satz 
macht. Es hat aber keine Gefahr. Die Rothfelle willen, 
daß in ein paar Wochen die Friedenscommiſſäre am Platte 
zuſammenkommen ſollen — Boten ſind ſchon zu ihnen ge— 
ſandt, und ſie werden bis dahin ſicher Ruhe halten.“ 

„Und glaubſt Du, daß die etwas ausrichten?“ 


„Wer weiß — jedenfalls müſſen wir es abwarten, aber 
ich denke gewiß, daß fie bis dahin keinen neuen Ueberfall ver— 
ſuchen. — Gute Nacht! mir brummt der Kopf von dem 
ewigen Schütteln.“ 

Damit ſtreckte er ſich der Länge nach, und in ſeine Decke 
gewickelt, hinten im Wagen auf zuſammengeſchobenes Gepäck 
aus, während der Erſte vorn aus der offenen Thür des 
Waggons hinaus auf den Tender ſtieg, über dieſen hinweg— 
kletterte und auf die vollkommen warme und behagliche 
Locomotive hinüberſprang. 

Die amerikaniſchen Locomotiven find nämlich für den 
Locomotivführer außerordentlich praftifh gebaut. Sie haben 
ein volles Berdef, das den ngenieur genügend von jedem 
Ruß oder glühenden Kohlenftaub frei hält, oder auch gegen 
den Regen ſchützt, und nach vorn öffnen zwei große Yenfter 
von ftarfem Glas, während fie jeden Zug abhalten, an beiden 
Seiten die unumfchränfte Ausficht über die ganze Bahn. Die 
Keffelfeuer erwärmten aber den Fleinen, Hinten vollkommen 
offenen Raum für diefe Jahreszeit fait zu ftarf, und der 
Heizer hatte auf feiner (auf der linken) Seite die Hälfte 


952 


ſeines Fenſters geöffnet, durch das jetzt die Falte Nachtluft 
ſcharf hereinftrömte. 

„Hol's der Henker!” ſagte der Padmeijter, als er den 
Platz erreihte und ſich fefter in feine Jade einfnöpfte. „Ich 
bin bier herausgefommen, um mich ein bischen durchzu— 
wärmen, und jebt hat der Sappermenter richtig die Fenſter 
aufgemacht, als ob er vor Hitze umkäme.“ Damit, ohne 
weiter um Crlaubniß zu fragen, Fletterte er über die mit 
einem Schwarzen Lederpoliter belegte Bank hin und ſchloß 
jelber das Fenſter wieder, vor dem er fih dann in einer jebt 
jehr angenehmen Temperatur niederließ. 

„Wie ſteht's, Smith?’ fagte er dabei zu dem ingenieur, 
der am rechten Fenfter ftand und hier und da einen Blick 
auf jeine Mafchine warf, die übrige Zeit aber aufmerffam die 
von den hellen Lampen erleuchtete kurze Wegſtrecke überfchaute, 
denn weiter nach vorn lag natürlich dunkle Naht. „Nichts 
Beſonderes geſehen?“ 

Der Ingenieur, ein ziemlich ſchweigſamer Mann, der nur 
ſprach, wenn er nothgedrungen mußte, denn er mochte auch 
auf der Mafchine nicht fo entjeblich ſchreien, ſchüttelte lang— 
12a mit dem Kopfe und fchob fich ein frifches Priemchen in den 

und. 

„Keine Schwellen wieder über die Bahn?“ 

Der Ingenieur [ehüttelte noch einmal. 

„Oder fonjtige Teufelei 2’ 

„Bir find noch nicht durch,“ meinte der Ingenieur, „und 
ih wollte lieber, wir hätten den Mond erjt wieder heraus — 
die jeßigen Dunkeln Nächte find den Teufeln immer am 
günftigften — aber hol’ fie der Henker!’ jebte er brummend 
hinzu, indem er wie unwillfürlich nach feinen beiden Revolvern 
im Gürtel faßte, ob fie auch noch an der rechten Stelle wären 
(und ſelbſt der Heizer trug ein folches Baar). „Kommen fie 
nicht ärger als zu zwanzig und dreißig, wollen wir ihnen 
ſchon die Zähne zeigen, wenn fie auch einmal ein Stück Hol 
auf die Bahn werfen. Der Kraber vorn fegt uns das ſchon 
Alles rein.‘ 

„Verwünſcht dunfel draußen,‘ fagte der Padmeilter, der 
fi jebt Halb umgedreht hatte und aus dem Fenfter hinaus 


899 


Ihaute. ‚Da vorn liegt's wie eine ſchwarze Wand, und es 
iſt ordentlich, als ob wir da gerade mit dem Kopfe hinein— 
rennten. Wie weit kann man wohl vorausſehen, Smith?“ 

„Drei- bis vierhundert Schritt etwa.“ 

„Und iſt es möglich, den Zug bis zur rechten Zeit ein— 
zubremſen, wenn man irgend etwas auf den Schienen ſähe?“ 

„Wäre ein bischen ſchwer, wie wir jet gehen — glaube 
aber nicht, daß es Gefahr Hat.‘ 

„le Wetter, liegt da nicht etwas Weißes vorn?“ rief 
der Packmeiſter, der jebt Doch anfing, ein wenig unruhig zu 
werden, und der Ingenieur warf raſch den Kopf hinüber, 
Thüttelte ihn aber dann auch wieder und fagte: „Nein, das 
ift ein weißer Erdhaufen langfeit der Bahn. Der Boden hier 
ijt dürr und fieht, wenn er trodnet und das Laternenlicht auf 
ihn fallt, fait ganz weiß aus. Der Haufen liegt gerade 
neben der Telegraphenſtange.“ 

„Ich habe große Luft, den Dienft zu quittiren,” jagte der 
Padmeifter nah kurzer Pauſe. „Die Fahrt ift ein bischen 
zu aufregend, um angenehm zu fein, und ein oder das andere 
Mal geht die Sache dod am Ende chief. Wenn die Friedens: 
commilfion nichts ausrichtet — und ich habe jo eine Ahnung — 
und fie wollen mich nicht verfeßen, dann fiedle ih mi in 
Mifjouri an und baue Mais. Dabei fann man Doc wenig- 
tens Nachts ruhig in feinem Bett fchlafen und hat, wenn 
das Jahr um ift, ziemlich eben fo viel verdient, wie in dem — 
verbrannten Platz.“ | 

„Ach was,’ fagte der Ingenieur, „das Leben hier jagt mir 
gerade zu. Meine Maſchine Habe ich von New-York her— 
über gebracht und gedenfe fie bis an den Stillen Dcean zu 
führen. der pflügen? nein — war nie meine Paſſion. 
Hol die rothen Halunfen der Böfe! Who cares? Laß fie 
nur anfommen, wir wollen es ihnen ſchon heimzahlen.‘ 

Wieder braufte der Zug eine lange Strede jeine Bahn 
entlang, und es war ein faft unheimlicher Anblid, zu fehen, 
mit welcher Schnelle er auf den Schienen dahinihoß. Die 
grellen Lichter vorn, mit den blanfen Reflectoren, warfen auch 
wohl ihren blendenden Schein auf die nächſte Bahnitrede, aber 
es war doch nur ein ungewiſſes und kurzes Licht, und dar— 


554 


über hinaus lag dann die breite ſchwarze Wand, einer Mauer 
in der That gleichend, gegen die der Zug anbrauſte. 

So modien fie noch etwa eine halbe Stunde gefahren 
fein, und der Packmeiſter war jhläfrig geworden. Er lehnte 
fih mit .dem Kopf in die Ede, den Rüden der Bahn zu— 
gewandt, und fing in der warmen Luft eben an einzuniden, 

als plößlih ein ſchriller Pfiff dur die Nacht gellte und er 
erſchreckt und beſtürzt von feinem halben Lager emporfuhr. 

Sein erfter Blif war natürlih aus dem Fenſter hinaus 
auf die Bahn, aber noch hald im Schlafe, fonnte er nichts er- 
fennen, als einen hellen, fait blendenden Streifen, der in eine 
Spite-vor ihnen auslief. Zugleich fühlte er aber, daß der . 
Zug aus allen Kräften gebremft wurde, und faum eigentlich 
wiſſend, was er felber that, nur in dem unbeftimmten Ge— 
fühl einer Gefahr, befonders um den Waffen näher zu fein, 
fette er aus der Locomotive hinaus, über den Tender hin, 
und wollte eben wieder von diefem hinab in den Güterwagen 
Ipringen, als der Tender, auf dem er fich noch befand, einen 
furhtbaren Stoß erhielt und ihn weit links ab von der Bahn 
in die Prairie hineinſchleuderte. 

Der Ingenieur, der die Schienen keinen Moment aus den 
Augen ließ, hatte in der That, als er die Stelle erreichte, die 
von den Indianern aufgebrochen war, ſchon auf ziemliche 
Entfernung die unnatürliche Abweichung der Schienen be— 
merkt, und natürlich auch im Moment ſein Möglichſtes ge— 
than, um den Zug einzubremſen; aber die Entfernung war 
doch zu kurz, der Zug raſſelte zu ſchnell über die Schienen, 
und ehe er ihn zum Halten brachte, erreichte er den zerſtörten 
Platz — die Räder liefen auf den ſeitab geſchobenen Schienen, 
wie es auch nicht anders möglich war, ab, gruben ſich im 
nächſten Moment unter furchtbaren Stößen in den Boden ein, 
und während ſie die furchtbare Kraft der Locomotive und ihre 
eigene Schwere, mit der ſie vorwärts ſchoſſen, noch eine 
Strecke in den Boden hinein und darüber hin trieben, ſchlugen 
ſie endlich um und krachten mit furchtbarem Gepraſſel in— 
einander. 

Der Packmeiſter, der von der Locomotive oder wenigſtens 
von dem Tender abgeſchleudert worden, lag einen Moment 


HDD 

betäubt und vernahm, was um ihn her vorging, nur wie in 
einer Art von Traum. Er hörte das Ziſchen des gewaltfam 
ausftrömenden Dampfes, das Rollen und Braufen, das Krachen 
der zerbrechenden Wagen, den Schredensjchrei feiner Gefährten, 
und kannte jelber noch nicht einmal die Urfache des plößlichen 
Unfalls. War e8 wieder eine teufliſche Tiit der Indianer — 
war es ein gewöhnlicher Unfall, der ja in Amerika Feines- 
wegs zu den OSeltenheiten gehört? Wären aber Indianer hier 
im Spiel gemwejen, jo hätten fie fich doc jedenfalls gezeigt 
und ihre Opfer ficher überfallen, aber nichts regte ſich — nur 
die Tocomotive [pie mit einem ganz eigenthümlichen, zifchenden 
Geheul ihren Dampf aus. 

Der Badmeijter hob fih vom Boden — der Kopf mirbelte 
ihm noch von dem Stoße, den er erhalten, und er Hatte nur 
das eine Bewußtfein, daß er nachjehen müfje, welches Unglüd 
geichehen jei, und ob er dabei Hülfe leiſten könne. Kaum 
aber ftand er auf den Füßen, als plöblich ein furchtbares, 
entfeßliches Geheul über die Steppe brach, ein Geheul, das 
ihm da3 Mark in den Knochen gerinnen machte. Das war 
der Kriegsfchrei der Wilden — zu viel hatte er ſchon davon 
gehört, um es auch nur für einen Augenblid zu verfennen. 
Sie waren verloren — die Indianer jelber hatten ihnen den 
Hinterhalt gelegt und brachen jebt über ihre Beute herein, 
und ohne eigentlich felber zu willen, was er that, wandte er 
fih zur Flucht, mitten in die Nacht Hinein, und Tief fo raſch 
ihn feine zitternden Glieder Irugen, und von Entſetzen und 
Furcht gehetzt. Was hätte er felber jebt noch und allein auch 
helfen Fönnen ? 


» 


3 
Der Ueberfall. 


Indeſſen hatte Wagalikſchu Hufa mit den Seinen, die ihn 
regungslos umftanden und nur ihre Waffen feit in den Händen 


206 


hielten, das rajche Nahen des heranbraufenden Zuges beobachtet, 
denn mit jedem Athemzug rüdte er der Stelle zu, auf der 
fih fein Schiefal entieiden mußte. Schon war er fo dit 
an jie herangefommen, daß der Schein der Reflectoren ihre 
Augen blendete, und fait unwillkürlich und ſcheu drüdten fie 
fih zufammen, als ob jie fürchteten, ihre Geitalten in dem 
blendenden Strahl zu verrathen. Da ertönte der jhrille Pfiff, 
und ein Theil der Wilden wandte fi, jo nahe dem unnatürs 
lien Laut, zur Flucht. Was für ein mächtiger Feind mußte 
das jein, der ein jo furchtbares Kriegögeheul ausſtoßen fonnte? 
Aber ſelbſt Wagalikſchu Hufa, der immer jeder Gefahr trotzig 
‚die Stirn bot, ſchrak zufammen, als in diefem Augenblid 
der feurige Koloß ſchräg ab von feiner Bahn flog, aufbäumte, 
Ihmwanfte und dann mit wilden Ziehen und Schnauben zu 
Boden jhlug, während er fich tief, und mit wie rafender Ge- 
walt, in die Erde hineinbohrte. in rein tolles Zifchen und 
Praſſeln füllte dabei die Luft, und er felber wagte nicht ein— 
mal, jich dem Furchtbaren zu nahen, viel weniger denn jeine 
Leute dazu aufzufordern. 

Der Einzige, der die ganze Kataftrophe mit vollfommen 
faltem Blut beobachtet hatte, weil er Urſache und Wirkung 
zu genau fannte, war der Weiße. Auf feine lange Büchle 
gelehnt, als ob er nur Zufchauer bei einem gewöhnlichen 
Schauſpiele fei, jah er die verlorene Locomotive in die falfche 
Bahn, die er felber ihr vorgezeichnet, einlenfen, und ein wahr— 
haft teufliiches Lächeln zudte über feine Züge, als er im näch— 
ſten Moment ſchon bemerkte, wie vollfommen fein nichtswürdiger 
Plan gelungen ſei. Ihn fchredte auch nicht das laute Praſ— 
ſeln und Ziſchen der Locomotive, ja ed beruhigte ihn meit 
eher, denn er erjah daraus, daß der Keſſel gefprungen fein 
müfje, und alfo feine Gefahr vorhanden jei, daß er plaßen 
und ſelbſt Berheerungen unter den Indianern anrichten könnte. 
Nur wenige Minuten wartete er auch, bis er fich davon erft 
vollfommen überzeugt, dann aber padte feine Fauſt die Schulter 
des riefigen, wie erjtarrt daſtehenden Häuptlings, und mit 
lauter Stimme, um das Geräufch des ausftrömenden Dampfes 
zu übertäuben, jchrie er ihm in’ Ohr: 

„Vorwärts, Wagalifidu Hufa! Vorwärts, Eure Zeit ift 


DO 


gefommen, oder die Leute dort drüben gewinnen Zeit zur Flucht, 
wie zum Widerftand. Jetzt ift der Augenblid, wenn Du handeln 
willft — vorwärts, Ihr Burſchen — vorwärts!‘ 

Der Häuptling warf dem Weißen einen forihenden Blick 
zu und ſchaute dann nad) der noch immer Dampf ausfpeienden 
Locomotive hinüber, im nächſten Moment aber ſchon zudte er 
empor. Er hatte eine Geftalt entdedt, die fi) am Boden wand — 
der unglüdlihe, von der Locomotive gejchleuderte Ingenieur, 
der beide Arme gebrohen. Wagalikſchu Huka's Schlachtſchrei 
gellte über die weite Oede, und jetzt erſt ſammelten ſich auch 
die übrigen Wilden, die bis dahin noch immer ſcheu zurück— 
geſtanden, um den Führer, und ihr Gebrüll vereinigte ſich zu 
einem markdurchſchütternden Laut mit dem ſeinigen. Das 
aber war auch, wie bei allen ihren Kriegen, das ftete Zeichen 
zum Angriff und Ueberfal, und wie ein Schwarm eben jo 
vieler Teufel brachen fie aus der Dunkelheit vor in den matten 
Dämmerſchein hinein, der von den ausgefchütteten Feuern ab- 
ftrömte. Wenige Momente dauerte es auch nur, jo hatten 
fie fid) über den ganzen Zug vertheilt und bald überall die 
einzelnen Leute gefunden, die abgeſchleudert und halb bewußt- 
[08 oder verfrüppelt neben der Bahn lagen. Ihre Leiden 
ſollten nicht Yange dauern, denn Towahawk und Mefjer thaten 
- ihre Pflicht. Der eine Packmeiſter im Wagen, und no uns 
verletzt, feuerte allerdings feine Revolver auf die Andringenden 
ab, tödtete einen und verwundete zwei andere, aber der furcht— 
baren Uebermacht konnte er doc) nicht widerftehen. Er wurde von 
einem Pfeil durch die Kehle geſchoſſen und fcalpirt, indeſſen 
fertigte Wagalikſchu Huka ſelber den Ingenieur und Heizer ab. 

Den zweiten Packmeiſter hatten ſie aber zu ſeinem Glück 
nicht bemerkt. Er war in der Dunkelheit verſchwunden, ehe 
ihn einer der heranſpringenden Feinde entdecken konnte. 

Unthätig und ſtill ſtand indeß der weiße Begleiter und 
Helfershelfer der Indianer eine Strecke von dem Schauplatz 
entfernt, bis er etwa glauben mochte, daß die Blutarbeit be— 
endet ſein könne. Nicht etwa daß er ſich geſcheut hätte, ſelber 
dabei mit Hand anzulegen — es wäre wohl nicht das erſte 
Menſchenleben geweſen, das auf ſeinem Gewiſſen lag, aber 
er hatte feine Gründe, ſich nicht im Licht ſehen zu laſſen, ſo 


908 


Yange noch einer der Weißen am Leben war. Wozu auch? — 
man hatte Beijpiele, daß aus folchen Heberfällen einzelne Leute 
oft auf ganz wunderbare Weife gerettet waren, und er wollte 
fih nit unnüßer Weife einer ſolchen Gefahr ausſetzen. Nur 
erit al3 er bemerkte, daß ſämmtliche Wagen abgefuht waren 
und die Wilden den ineinander gebrochenen Zug jogar um: 
ftellt hatten, damit Niemand, doch noch vielleicht darin ver- 
ftect, entkommen könne, legte er feine Büchfe ab, ſprang jett 
auf die Locomotive zu und riß eine Anzahl von Kohlen mit 
dem eijernen Kratzer heraus, auf welche er dann die im 
Tender mitgeführten Holzſcheite aufhäufte, bis er eine mächtige 
Flamme erzeugte, 

Bei deren Licht begann jebt die Plünderung der Güter: 
farren; die Wagen wurden mit der eifernen Schürftange auf- 
gebrochen, die dünnen Seitenwände mit den Tomahawks ein- 
gehauen und Alles, was fich darin fand, auf die Prairie hin- 
ausgeworfen. 

Indeſſen führten Einzelne der Indianer die Packpferde 
herbei, um ſo raſch als möglich aufzuladen, was man der 
Mühe werth hielt, um es mit fortzunehmen. Die Indianer 
zeigten ſich dabei außerordentlich geſchickt, und mit Laſſos und 
Seilen aus ungegerbter Büffelhaut befeitigten fie die Beute in 
unglaublider Schnelle auf dem Rüden der Thiere, während 
fie zugleich noch einen andern Theil auf die Hinten anhängen 
den Schleifen Tegten. Dann führten fie die Thiere langjam 
über die Bahn hinweg und Foppelten fie zufammen, bis der 
ganze Zug beladen und reijefertig fein jollte. 

Die Beute erwies fih aber für indianifhe Begriffe 
natürlich jo ungeheuer reich, daß dem alten Sheyennehäuptling 
ordentlich die Mahl unter den verfchiedenen zahlreichen Artikeln 
ſchwer wurde, und einige Padpferde mußten jogar wieder ab- 
geladen werden, um eine werthlofe Ladung zurüd zu laſſen und 
eine beflere aufzuladen. Da fanden fih ganze Kiſten voll 
bunter Kattune für die Frauen, da fanden fi) Ballen von 
mwollenen Deden, Kaften mit Waffen, Mefjern, Zündhütchen 
und taufend andere Dinge, die fie da draußen in ihrer 
Steppe recht gut gebrauchen Fonnten. - Aber was fie nicht 
fanden und doc fo ehr verlangten, war Pulver, das aus— 


959 


genommen, was fie im Padwagen mit den verichiedenen 
Büchfen und Revolvern entdedten. Alle Wagen wurden 
durchſucht, und was fih an Gütern darin fand, unordentlich 
hinausgeworfen, aber die Heinen, fo heiß erjehnten Pulver— 
fäffer ließen ſich nirgends bliden. Der Zug konnte keinen— 
falls Pulver geladen haben, und doch war es das gerade, 
was die Indianer verlodt hatte, ihn zu überfallen, denn der 
Weiße hatte ihmen eben die Kunde gebracht, daß gerade in 
jener Zeit eine große Quantität Pulver an die verjchiebenen 
Forts abgeliefert werden ſolle. Cr Hatte ſich auch keineswegs 
geirrt, oder die verrätheriihe Kunde falih gebradt, das 
Bulver war nur einer jener Artikel, der auf den erjten Wagen 
feinen Plab mehr fand, und deshalb mit dem zweiten, in 
derjelhen Stunde abgehenden Zug befördert wurde, Das 
konnten fie freilich nicht wiffen, und verloren deshalb viel 
Zeit, e8 zu fuchen. 

Da plöslih horchten Alle erihredt empor. Aus ziemlich 
weiter Ferne noch, aber troßden hell und deutlich, gellte ein 
ſcharfer Pfiff — ein zweiter Zug, der heranbrauite. Die 
Indianer ftanden zögernd, deſto raſcher aber jprang der 
Weiße zu dem Holzftoß, viß die Scheite auseinander und 
fuchte daS Feuer folder Art auszulöſchen. War es denn nicht 
möglich, dat fie auch noch dieſen zweiten Zug überrumpeln 
fonnten, und wenn weiter nichts, fanden fi) doch auf dem: 
jelben jedenfall eine neue Anzahl von Waffen, und ficher 
wieder etmas Pulver. — Aber der Zug fam nicht näher. 
Wohl eine Halbe Stunde warteten fie in der gefpannteften 
Aufmerffamkeit, und deutlich konnten fie fogar das Rollen der 
Karren auf den Schienen hören — aber es kam nicht heran. 
Es blieb immer in weiter Ferne, und das Geräuſch ver- 
ſchwamm endlih vollfommen in dem dumpfen Braufen des 
Windes, dev gegen Morgen über die Prairie fegte. 

Wagalikſchu Hufa beunruhigte fih nun deshalb nicht ber 
fonders, denn er begriff überhaupt das ganze Weſen der Eiſen⸗ 
bahnen und das Bewegen ihrer Züge nicht — eben ſo wenig 
was das Zeichen der Locomotive zu bedeuten hatte. Deſto 
unſicherer fühlte ſich aber der Weiße dabei, denn er kannte 
genau die Lage der verſchiedenen, ſehr weit von einander ent: 


560 


fernten Stationen, und täuſchte fih alfo auch deshalb nicht, 
wenn er glaubte, daß ein anderer Zug im Annahen gemejen 
und etwas gefehen oder gehört habe, was ihn jtußig gemacht 
und zurüdgetrieben. Was um Gottes willen fonnte das ges 
wejen jein? — Es war doch nicht denkbar, daß jener Zug 
den Schlachtſchrei oder jelbit da Dampfausftrömen der 
Locomotive gehört haben konnte; er war noch jo weit entfernt, 
daß ſelbſt der grelle Pfiff nur Schwach zu ihnen herübertönte. 
War wirflih Einer der Leute vom Zug entflohen und dem 
andern entgegengeeilt? — Aber er hätte Flügel haben müſſen, 
wenn er dort ſchon angelangt fein konnte. — Jedenfalls drohte 
ihnen Gefahr, wenn der andere Zug, vielleicht mit vielen Be— 
waffneten darauf, herankam, vorfihtig gemacht in ficherer Ent— 
fernung anhielt und feine Leute herausſchickte. Das Beite 
war deshalb jedenfalls, daß fie den Platz hier fo rafch als 
möglih verließen und. fih in die fihere Steppe zurüdzogen, 
denn dorthin folgten ihnen die Weißen Feinenfalld. Außerdem 
fonnte die Morgendämmerung auch gar nicht mehr jo fern 
jein, und von der durften fie fich unter feiner Bedingung 
überraichen laflen. 

Noch Horchten fie eine Weile, ja der Weiße legte jogar 
fein Ohr auf die Schienen, um das Heranrafieln eine Zuges 
befler unterfcheiden zu fünnen, aber er hörte nichtS weiter. Der 
Zug mußte zurüdgegangen jein, und wenn auch ihr Meberfall 
jeßt entdet war, ſchien e8 doc, als ob fie wenigjtens für den 
Augenblif nichts weiter zu fürchten hätten. Raſch veritändigte 
er fi) deshalb mit dem Häuptling, die noch Tedigen Pferde. 
wurden ohne weitered Säumen herbeigeführt, und während 
man die lebten belud, trug der Weiße felber die indeß wieder 
angefachten Scheite fo unter die umgemworfenen Güterfarren, 
daß fie die jet friſche Briſe bald und volljtändig in Brand 
ſetzen mußte. 

Jetzt erſt Brad die Horde auf, und zwar in ziemlich ge- 
rader Richtung nah Süden hinunter, mitten in die weite Steppe 
hinein. Die PBadpferde wurden auch wahrlich nicht geſchont, 
denn hinter ihnen trabten die Wilden und trieben fie mit 
Schreien und Stoßen zu einem jchärferen Trabe an, bis jie 
endlih den Strom erreichten und fih an der andern Geite 


561. 


in ziemlicher Sicherheit wußten. Nur ein ftarfer Trupp von 
berittenen Weißen hätte es wagen dürfen, ihnen dahinein zu 
folgen, denn er fonnte nie wiſſen, ob die Flüchtigen nicht Doch 
vielleicht von anderen Horden unterftüßt würden — dann aber 
wäre jein Schickſal auch gewiß befiegelt geweſen. 

Als der Morgen endlich über dem Unglüdsplak Höhere, 
warf die Sonne ihre lichten Strahlen auf ein fo unheimliches 
wie wildes und fchauerlihes Bild. Ein Theil der Güter: 
wagen jtand noch in vollem Brand, und die hellrothe Flamme 
wirbelte empor und ftieß ſchwarzen, erftidenden Rauch aus. 
Ein anderer Theil des Zuges, bejonders das, was fich in der Nähe 
der Locomotive befand, war ſchon gänzlich verfohlt und Hatte 
ſogar auch zwei der Leichen, die des Ingenieurs und Heizers, 
halb verzehrt, und die verftümmelten Ueberreſte menfchlicher 
Körper boten einen furchtbaren Anblid, Die Locomotive felber 
mar dabei in Stüde gebrochen, der Tender durch das darin 
liegende und ebenfalls in Feuer gerathene Holz ausgebrannt, 
und die darin befindlichen Badjteine waren umbergeftreut. Nördlich 
vom Feuer aber lag ein noch lebender Körper mit dem blutigen 
Schädel, von dem der Scalp abgerifien worden. Man hatte 
ihn, als er von dem Sturz betäubt am Boden lag, für todt 
gehalten und fich nicht weiter um ihn befümmert, und jekt, 
als die friſche Morgenluft über die Steppe jtrich, erwachte er 
zum erjten Mal aus jeiner Betäubung und hob das jchredlich 
entftellte, blutbedeckte Antlitz ſcheu empor. 


Der Packmeiſter, der entſetzt geflohen, als er den Schlacht— 
ihret der wilden Horde vernahm, war zuerft, und durch den 
Sturz faum feiner Sinne nod) mädhtig, mitten in die Prairie 
hinaus geflohen, wo er, wenn er fich verirrte, hätte elend ver- 
Hungern und verdurften müfjen. In dem Moment fam ihm 
freilich der Gedanke nicht, und hätte er fi mit einem Sprung 
in die größte Wildniß hinein verſetzen können, er würde ihn 
in der Angſt vor den blutdürftigen Feinden ohne Zögern ge- 
wagt haben. Aber noch gab es vielleicht Rettung — die 
Bahn felber, auf der der Zug herangefommen, lag vollflommen 
im Dunkeln — draußen in der Prairie hatten die fcharfen 

51 Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 36 


962 


Gactusftaheln ſchon ein paar Mal feine Stiefeln durchbohrt 
und feine Füße verwundet. Auf dem von Grasbüſcheln be— 
dedten Boden jtolperte er auch unaufhörlih, und der Wunſch 
jtieg natürlih in ihm auf, auf ebener Bahn deito rafcher 
fliehen zu können. Dhne fi) des Gedankens völlig klar be— 
wußt zu fein, drehte er plößlich links ab, wieder der Bahn 
zu. Der Blid, den er jcheu zur Seite warf, zeigte ihm in 
der Ferne das rothglühende, von dem Locomotivenfeuer aus— 
ftrömende Licht — er hörte auch noch das Ziſchen des ab- 
Iprißenden Dampfes, um feine Richtung danach zu halten, 
und erreichte nach kaum einer DViertelftunde die Bahn wieder, 
auf der er wie ein gehebter Hirſch dahinfloh. 

Wie lange er fo gelaufen, wußte er gar nit; er fühlte 
weder Ermüdung no Erſchöpfung, bis er plößlich entjebt in 
feinem Lauf inne hielt, in dem Moment auch fühlte, wie jeder 
Tropfen feines Blutes zum Herzen zurüditrömte und es mie 
einen Hammer jchlagen machte. — Vor ſich entdedte er ein 
Teuer, und mit unfagbarer Angſt durchzudte ihn der Gedanke, 
daß er fih in Schred und Verwirrung in feinem Lauf ges 
mwandt, und eben im Begriff fei, der brennenden Rocomotive 
und feinem Berderben wieder entgegen zu rennen. 

Er überlegte dabei auch nicht, daß das eine Unmöglichkeit 
fei, da er bis dahin der fchnurgeraden und nicht einmal einen 
Bogen mahenden Bahn gefolgt fei. Wie ein Verirrter, der 
in der Angft um fein Schiefal jede Befinnung und Ueber: 
legung verliert, fing er an, jede Richtung für die faljche zu 
halten, und war wirklich ſchon im Begriff, wieder umzudrehen 
und den Weg, den er gemacht, von Neuem aufzunehmen, als 
er von jenem hellen Schein her den fcharfen Pfiff einer Loco— 
motive hörte, und mit dem Gefühl nahender Menjhen und 
Hülfe auch feine volle Befinnung zurückkehrte. Das war jeden- 
falls der zweite Zug, den er in feiner Angit und Aufregung 
ganz vergefjen; aber wie um Gottes willen follte er fich jebt 
in der Dunkelheit bemerklic machen, daß der Zug nit an 
ihm vorüber braufte und dann ebenfalls feinem Verderben 
entgegen rannte? Es gab nur ein Mittel. Er mußte fi 
mitten auf die Bahn jtellen und feinen Rod ſchwenken, bis 
er in das volle Licht der vorn angebrachten Blendlaternen Fam. 


963 


Dann fonnte er dem Blick des Locomotivführers nicht ent= 
gehen; er ließ jedenfalls einbremfen, und er war dann im 
Stande, die Freunde zu warnen und fidh jelber zu retten. 

Ohne Weiteres führte er den Plan aus — er zog feinen 
Rock ab und jchritt dann dem raſch heranfommenden Zug 
entgegen, bis er die Lichter faft Dicht vor fi fah. Sekt fing 
er an, auf der Bahn Hin und her zu fpringen und zu fchreien 
und feinen Rod um den Kopf zu ſchwenken, und hörte auch 
Ihon im nächſten Moment zu feiner unfagbaren Beruhigung, 
daß der Zug fih die größte Mühe gab, anzuhalten, wenn 
das auch jo raſch nicht möglih war. Er jelber mußte von 
der Bahn hinabipringen, um nicht durch den heranrollenden 
Zug überfahren zu werden, und als er vorüber fam, fah er, 
wie der Heizer hinter der Locomotive ftand und ihm einen 
gejpannten Revolver entgegenhielt. Aber er achtete den nicht 
mehr, als ob es ein Stüd todtes Holz geweſen wäre, und 
feine Zunge zu voller Kraft anftrengend, fchrie er ihm zu: 
„Halt! um Gottes willen halt! Indianer! Indianer!‘ 

Der Mann Schoß glüdlicher Weile nicht, mochte auch wohl 
einen Theil der angjtvoll herausgeftoßgenen Worte verftanden 
haben, denn er zog die Waffe zurüd und winkte mit der Hand, 
und der Padmeifter fprang jest neben dem Zuge ber, bis 
diefer hielt und er dann, vollfommen athemlos und faft zum 
Tode erſchöpft, auf die Locomotive hinaufkflettern konnte. Cr 
brauchte auch wirklich erjt einige Minuten, um fi) volljtändig 
zu ſammeln, und erzählte nun in kurzen, herausgejtoßenen 
Worten das Unglüd, da3 den eriten Zug betroffen. 

Was jebt thun? vorwärts eilen, um den Kameraden zur 
Hülfe zu Eommen? — Sie wären jedenfalls zu fpät gefommen, 
denn daß die Wilden mit ihrer Blutarbeit nicht zögerten, war 
gewiß. Und was fonnten fie felber thun? Es befanden fich 
nur ein DBremfer und ein Padmeilter mit Ingenieur und 
Heizer auf dem Fleinen Zuge, und wenn fie felber nun in 
einen neuen Hinterhalt fielen? An Rettung für die Unglüd- 
lihen war doch nicht mehr zu denken, und das Beſte, was fie 
thun fonnten, jo raſch als möglich nach der nächſten Haupt: 
ftation zurüdzufehren, um von dort Verſtärkung zu holen 
und mit Tagesanbruc ihre Fahrt fortzufegen. 

36* 


h 964 


Das geihah denn auch. Die Tocomotive jchob den Zug 
zurüd, um jo raſch als möglich jet mit dreißig bis an Die 
Zähne bewaffneten Leuten den Unglücksplatz aufzufuchen. Dicht 
hinter ihnen aber folgte ein anderer Zug mit einem Arzt, 
anderen Bemwaffneten und Arbeitern, um zu jehen, wie weit 
die Bahn gefhädigt und was dort überhaupt noch von dem 
aus dem Gleis geworfenen Zug zu retten fei. 

Das war allerding wenig genug. Als fie den Platz, 
vorfichtig fahrend, erreichten, fanden fie, daß das Feuer das 
vollendet Hatte, wa8 die Wilden begonnen, von diefen ſelber 
aber feine Spur mehr als folche, die fie in Blut und Jammer 
hinter fi gelafjen — die Leihen und den ſchrecklich ver- 
ſtümmelten Unglüdlichen, der, als er fie erblidte, flehend Die 
Hände zu ihnen emporhob. 

Daß fie feinen neuen Angriff von den Indianern zu 
fürdten hatten, fahen fie bald. Diefen war e& jest aller 
Wahrjcheinlichkeit nah nur darum zu thun, ihren Raub in 
Sicherheit zu bringen, und lange Meilen hatten fie indefjen 
wohl ſchon Hinter fi gelafjien. Nur dem Scalpirten mußte 
jo raſch als möglih Hülfe gebracht werden, und der Arzt 
ging augenbliklih daran, ihm vor allen Dingen eine Stärfung 
zu reichen und ihn dann nothdürftig zu verbinden. Der lebte 
Zug warf dann fein Handwerkszeug ab, die Leute fchafften 
ihre Waffen und Lebensmittel in die Prairie, und der Fleine 
Zug wurde augenblidlich, nahdem man fich überzeugt, daß 
feiner der anderen Unglüdlihen mehr am Leben jei, zurüd 
nad Dmaha beordert, wo der VBerwundete in Pflege Fam und 
ſich ausnahmsweiſe auh — denn e3 ift das ein jehr jeltener 
Tal — von feiner Wunde erholte As ich jelber nad 
Omaha kam, befand er fi auf dem Wege vollftändiger Beſſerung, 
und die Aerzte zweifelten nicht mehr, daß er gänzlich wieder 
hergeftellt werden könne. 





Die Cheilung der Beute. 


Indeſſen hatte der Shyenne-Häuptling mit feiner Horde 
die bisher eingehaltene Richtung bis zur Morgendämmerung 
verfolgt und rajtete erſt Hinter einer Eleinen Anhöhe, auf der 
Boten ausgeftellt wurden, als die Sonne ſchon ihre Strahlen 
über die Steppe ſandte. Dort mußten fie Halt machen, um 
ihren arg angeftrengten Thieren etwas Ruhe zu gönnen und 
jelber einige der mitgenommenen Lebensmittel zu verzehren. 
Auch ein mitgenommenes Fäßchen Whisky, das fie im Zuge ge— 
funden, wurde mit einem ihrer kurzen Mefjer angebohrt, und 
ein Theil dejjelben herausgelafjen. Die Indianer felber tranfen 
freilih nur jehr mäßig davon, deſto waderer aber ſprach dem 
Iharfen Trank der Weiße zu, und der Häuptling jchüttelte 
finjter mit dem Kopfe, als er ſah, daß der Burfche Becher 
nad Becher in fich hinein ſchüttete. Aber er ließ ihn gewähren; 
was auch Fümmerte es ihn? Der Fremde hatte fein Der: 
ſprechen gelöft und jeine Arbeit gethan; wenn er fich jebt 
jelber um den Berftand trank, mochte er es thun, die Folgen 
aber dann auch auf fich felber nehmen, denn Wagalikſchu Hufa 
war feſt entjchlofjen, ihn nicht mit in fein eigenes Lager zu 
führen. Dem, der fich fo verrätherifch ‚gegen fein eigenes Ge— 
Thlecht, feinen eigenen Stamm gezeigt, mochte er nicht ver- 
trauen. Er fonnte gehen und feinen Beuteantheil mit fi 
nehmen, 

Der Weiße übrigens, den die Indianer nur unter dem 
Namen Kai Bola oder der Mann mit dem rothen Kopfe 
fannten, mußte mehr vertragen können, als der Wilde ahnte 
oder für möglich hielt, denn der genofjene Branntwein warf 
ihn nicht um, fondern ſchien ihn nur viel mehr zu beleben 
und geſprächiger zu machen, und er ſchwatzte mit den ver— 
Tchiedenen Kriegern, die nach der Mahlzeit um das Feuer jaßen 
und jchmweigend ihre Pfeifen rauchten, nah Herzenäluft, er— 


866 


zählte von jeinen Thaten und Sagdzügen, und rief ſogar 
manchmal ein Lächeln oder ein eritauntes Wah! hervor. 

Wagalikſchu Huka mochte aber hier nicht zu viel Zeit 
verlieren. Außerdem hatte er einen Theil feiner Beute zu 
trennen, da er das Meiſte allerdings für fih und feine Leute 
mit fich führte. Was ihm jelber aber gehörte, wollte er zu 
‚einem andern Theil der Steppe jenden, wo er, der jebigen 
Kriege mit den Weißen wegen, feine Frauen abgetrennt an 
fiherer Stelle hielt. Das Alles mußte geordnet werden, und 
er rief deshalb die Seinen zufammen, um ihm dabei behülflich 
zu fein. | 

Kai Bola, der Mann mit dem rothen Sopfe, führte außer 
feinem eigenen Thier vier Packpferde mit fi, Die er jelber 
mit dem gemachten Naub beladen, wobei er ſich wahrlich nicht 
das Schlechteſte ausgeſucht hatte. Vier Thiere ſchickte eben- 
falls Wagalikſchu Huka mit ſeinem eigenen Beuteantheil ab, 
und das Uebrige ſollte unter die Horde vertheilt werden. Da 
er ſich übrigens denken konnte, daß die ausgeführte That von 
den Dleichgefihtern nicht würde ungeahndet hingenommen 
werden, jo war es nöthig, daß er jelber jebt zu feinem eigenen 
Stamm zurüdeilte und jeine Häuptlinge und Krieger zus 
Sammenberief, Wenn fie fih dann mit den befreundeten und 
großentheil3 verſchwägerten Banden der Sioux Dgellalla, der 
Sioux Brules, der Arrapahus und Mandans verbanden, jo 
fonnten fie ſchon eine anſehnliche Macht in das Feld Stellen 
und brauchten einen plößlichen Weberfall nicht zu fürdten. 

Der Rothkopf ſchien übrigens Damit, daß er feinen eigenen 
Deuteantheil mit fortführen jolle, vollkommen einverjtanden, 
machte wenigjtens nicht die geringiten Schwierigkeiten und jagte 
dem Häuptling ſogar, daß er ihn jchon jelber hätte darum 
bitten wollen. 

„Und wohin beabfihtigitt Du Did zu wenden?’ frug ihn 
der Shyenne. 

„Hm,“ fagte der Rothkopf nah einigem Zögern, „werde 
nad den Staaten zurüdgehen und dort meine Waaren ver: 
faufen. Was fol ich damit in der Steppe? Wer weiß aud) 
dort, wo die Sachen herfommen? Du wirft mid nicht ver— 
rathen, und wenn ih die Güter für Pferde und Pulver und 


967 


Blei eingetaufcht, Fehre ih zu Euch zurüf, und wir können 
einen andern Spaß ausführen.‘ 

„Und welche Richtung nimmſt Du jetzt?“ 

„Gerade gen Oſten, denn nach dorthin zu vermuthet mich 
Keiner.“ 

„Es iſt gut,“ ſagte Wagalikſchu Huka, „Du kannſt gehen. 
Wenn Du zu uns zurückkehrſt, wirſt Du uns aber nicht mehr 
an der alten Stelle finden. Wir ſind zweierlei Geſchlechts — 
Deine Bahn liegt der aufgehenden, unſere der untergehenden 
Sonne zu. Laß uns nicht wieder begegnen!“ Und damit 
wandte er ſein Pferd und ritt zu den Seinen hinüber, denen 
er die nöthigen Befehle gab und ſich dabei nicht weiter um 
den ihn finſter anſchauenden Weißen kümmerte, | 

Die Abſendung der verfchiedenen Truppe nahm aud in 
der That die ganze Aufmerkſamkeit des Häuptling in Ans 
ſpruch, denn einmal hatte er feine eigenen Thiere zu befördern, 
und dann auch auf den übrigen Trupp und die diefem über- 
lafjenen Waaren zu achten. Das Alles aber Eoftete doch nur 
geringe Zeit, denn die Indianer willen vortrefflih mit dem 
Beladen der Thiere umzugehen, und hatten außer einem ges 
raubten Faß Zwieback aus dem Zuge, und einer ganzen Mafle 
geräucherten Fleifches noch fo viel vorräthige Lebensmittel, daß 
ſie fih gar nicht unterwegs mit der Jagd zu befaſſen und 
aufzuhalten brauchten. Die vier Badpferde Wagalitihu Huka's 
wurden auch deshalb mit zwei Indianern, die fie nach dem 
bejtimmten Platz hinüber führen follten, zuerft abgeſchickt und 
Ihlugen eine fait füdlihe Richtung ein, während fich der 
Häuptling felber mit feinem Zug von Kriegern und der 
übrigen Beute etwas mehr weitlich hielt, wo er mit den bes 
freundeten Arrapahus zufammentreffen wollte. Boten jollten 
dann die Siourftämme zu einer Berathung einladen, und dort 
fonnten fie ihre neuen Siriegspläne bereden und ſich zu vers 
eintem Widerftand rüften. 

Bon dem Weißen nahm Niemand Notiz. ALS die beiden 
Trupps den Platz verließen, hielt er noch immer an der Stelle, 
ohne daß Einer von Allen, jelbft nicht Wagalikſchu Huka, Ab— 
Ihied von ihm genommen oder ihm ein freundliches Wort ges 


568 


fagt Hätte. Es war eben nur ein Verräther, den man zwar 
benußt, aber dann auch verächtlich bei Seite wirft. 


Der rothe Kopf ſah ihnen mit einem tückiſchen Bli nad 
und ziſchte dann zwilchen den zufammengebifjenen Zähnen durch: 
„Beſtien, die Ihr ſeid. Jetzt braucht Ihr mich nicht mehr, alfo 
jetzt kann ich gehen, und fol auch nicht mehr zu Euch zurüd- 
fehren, weil Euch meine Gegenwart vielleicht unbequem werden 
könne, heh? Verdamm' Eud Alle miteinander, ich kann ohne 
Euch leben, und werde auch wohl ſchwerlich dieſem verbrannten 
Boden meine Fährten wieder eindrüden.‘ 


Während er jprad, folgte fein Bli dem Kleinen Zuge, der 
des Häuptlings Beuteantheil feinem eigenen Lagergrund zu: 
führen folte. Nur zwei Indianer begleiteten ihn, und einer 
von diefen war noch bei dem lebten Ueberfall, wenn aud nur 
leicht, verwundet worden — er hatte einen Schuß durch das 
Dein befommen; da er aber zu des Häuptlings eigenen Leuten 
gehörte, hatte ihn diefer mit hinüber gejchidt. 

„Wackerer Burſche!“ Tachte der rothe Kopf verächtlich, indem 
er einen Bli hinter dem großen Zuge herwarf, vor dem er 
Wagalikſchu Huka's hohe Geſtalt noch deutlich erkennen fonnte, 
obgleich der Trupp indefjen ſchon eine ziemliche Strede zurüd- 
gelegt. „Hat weiter nicht? bei der ganzen Geſchichte gethan, 
al3 ein paar halbtodten Leuten die Schädel eingefchlagen und 
fih dann als Siegeätrophäe die Scalpe abgezogen. "Aber vier 
Pferdeladungen nimmt er troßdem nur für feinen Privatan— 
theil, und nachher läßt er fich feinen Antheil am Ganzen auch 
noch einmal von dem Uebrigen weglegen. Berdamm’ nich! 
Wenn ih ihm den Spaß nur wenigſtens vereiteln könnte!“ 


Wieder folgte der Blick dem Kleinen Trupp, der eine fait 
ſüdliche Richtung eingefchlagen Hatte, und vielleiht nur ein 
wenig dabei nad) Oſten hinüber hielt. Dann, wie von einem 
plötzlichen Gedanken ergriffen, trieb er feine Pferde zufammen 
und jagte einem genauen Südoftcour zu, der ihn allerdings 
von dem fih mehr rechts wendenden Zug mit des Häupt— 
lings Beute abbrachte, aber doch auch nicht zu weit davon ent= 
fernte. Bor allen Dingen mußte er jedenfalls vollfommen 
aus Siht Wagalifihu Huka's fein, damit diefer nicht etwa 


569 


Verdacht ſchöpfen konnte; was dann weiter wurde, konnte er 
dem Zufall überlaffen. 

Dft genug wandte er den Blick auch, während er fo allein 
weiter 309, zurüd, veränderte feinen Cours aber nicht einen 
Moment früher, ald er fi völlig aus Sicht des Häuptlings 
wußte. Erſt dann und nad faſt zwei Stunden, wo er nod) 
außerdem etwas wellenförmiges Land erreichte, wandte er fich 
plößlich mit feinen Thieren nad rechts, und trieb fie jekt 
auch zu einem fchärferen Schritt an. Er mußte, daß er in 
diefer Richtung dem kleinen Zug den Weg abjchneiden, oder 
doch wenigftens in Sicht deffelben kommen mußte, Cine Ent: 
Ihuldigung, fi) dem andern Zuge anzujchließen, war bald ge— 
funden, und das Uebrige — der Burſche biß die Zähne zu: 
fammen und drüdte dem eigenen Thier jo feit die Sporen 
ein, daß es erjchredt einen Sab nad) vorn made. 

„Halt, Halt mein Burſche!“ lachte aber der milde Gefell 
ingrimmig in fich hinein, indem erihm den Hals Elopfte und 
e8 zu beruhigen ſuchte. „Das war nur ein Verſehen, mein 
Alter — jet noch nicht — Set stil, ich fomme Dir mit den 
ſcharfen Dingern nicht gleich wieder zu nahe.‘ 

So ſetzte er feine Bahn, allerdings ziemlich fchnell, aber 
doch nicht in jehr großer Eile fort, und fein Blick ſchweifte 
indefjen raftlos über den füdlichen und ſüdweſtlichen Theil der 
Steppe, die fih endlos vor ihm auszudehnen ſchien. Endlich, 
und ſchon am Nachmittag, entdedte er vor fih den Fleinen 
Trupp von ſechs Pferden, der dort einen Augenblid zu rajten 
ſchien. Das Gepäd des einen Thieres ſchien loder geworden 
zu fein, und al3 der gefunde Indianer das auf's Neue feit- 
geſchnürt, febten fie ihren Weg wieder fort. Sie hatten au) 
wohl jedenfalls bemerft, daß der Weiße feine Richtung ver: 
ändert haben mußte und ihnen folgte, nahmen aber weiter 
feine Notiz davon. Ihr eigened Ziel lag nicht mehr weit 
entfernt, kaum noch vielleicht acht oder zehn Meilen, und dort- 
hin durfte er fie doch nicht begleiten, oder gar dort bleiben, 
Der Häuptling hatte es ihm verboten, und der kleine da 
lagernde Trupp von Shyennes Hätte ihn überdies nicht 
zwiſchen fich geduldet. 

Eine Stunde fpäter etwa Hatte der rothe Kopf die beiden 


870 


Indianer mit ihren Padpferden eingeholt und jagte, als er 
ah, daß fie ihn erwarteten und etwas erjtaunt betrachteten: 

„Hallo, Kameraden, ih habe mir die Sache doch anders 
überlegt und will lieber noch ein Weilden in Eurer Gefell- 
Ichaft bleiben. Hol's der Teufel, die Amerikaner da drüben 
könnten früher auf den Beinen fein, als wir jebt für möglich 
halten, und ich gerade möchte ihnen doch nicht in die Hände 
fallen. Sicher ift fiher — find wir erft noch einmal eine 
Strede weiter nah Süden hinunter, fo hat es fchon feine 
Gefahr weiter, denn dorthin folgen fie uns auf feinen Fall.’ 

„Es iſt gut,’ fagte der eine Indianer mürrifch, während 
der Verwundete die Thiere, zu denen fich jetzt die des rothen 
Kopfes gejellten, zufammentrieb, „Du magit eine Strede mit 
und gehen, aber Du weißt, was Wagalifihu Huka gejagt 
hat. Unter feinen Zelten darfſt Du nicht weilen.“ 

„Bah, hab’ feine Angſt, mein Burſche,“ knurrte der 
Weiße, „ich denke gar nicht daran, feine edle Gaftfreundfchaft 
in Anſpruch zu nehmen. Wenn ich wieder zurüd in bie 
Steppe komme, gehe ih zu den Dgellallad, die find an— 
tändiger al8 Euer großer Häuptling. Vorwärts — für jeßt 
haben wir noch zufammen das gleiche Intereſſe — nämlich) 
nicht erwifcht zu werden, nachher werde ich für mich felber 
auf eigene Fauft forgen. Ihr könnt Euch darauf verlaſſen.“ 

Der Indianer antwortete ihm nicht weiter, und mie fie 
noch eine kurze Strede neben einander hingeritten waren, fuchte 
der Weiße dadurch wieder eine Unterhaltung anzufnüpfen, daß 
er feine Branntweinflafhe aus einer Art ledernen und fünft- 
lich mit Perlen verzierten Satteltafhe nahm und dem ihm 
nächſten Indianer Hinhielt. 

„Hier, Kamerad,“ fagte er dabei, „nimm einmal einen 
Schluck — der Tag ift frifh und der Stoff nicht übel — da 
trink!‘ | 

Der Indianer fhüttelte mit dem Kopfe. „Behalt Dein 
Feuerwaſſer,“ jagte er ruhig, „es macht und die Sinne wirr 
und im Sattel taumeln. Es ift Gift, das Deine Landsleute 
erfunden haben, um uns auszurotten — Kola Sunga trinkt 
nit davon.‘ 

„Defto beſſer für die Flaſche,“ lachte der Weiße, indem er 


871 


dieje dem andern, verwundeten Indianer hinhielt. ‚Und willft 
Du auch nicht trinken, Kamerad?“ 

Der Burſche gab ihm gar Feine Antwort. Seine Wunde 
brannte ihn; einer der Weißen hatte ihm die Kugel durd) 
dad Bein gejagt, und diefer da war von demfelben Stamme. 
Er haßte hn, wie er einen der anderen haßte, denn fie waren 
ja doch nur alle in ihr Land gekommen, um fie, die eigent- 
lichen Herren und Cigenthümer des Bodens, von ihren Jagd— 
gründen zu vertreiben. 

Der rothe Kopf warf ihm einen höhniſchen Blick zu, fagte 
aber nichts weiter, und eine furze Zeit ritten fie ſchweigend 
neben einander hin, gemeinfchaftlich Die oft da= und dorthin 
abſchweifenden Padthiere zufammenhaltend. Plötzlich zügelte 
der Weige jein Pferd ein, fprang aus dem Sattel und ſchnallte 
feinen Gurt feſter. Die Indianer drehten den Kopf nad 
ihm zurüd, jahen aber gleich, womit er bejchäftigt war, und 
achteten nicht weiter auf ihn. Es war das etwas zu Allge: 
wöhnliches, um auch nur einen weiteren Gedanken daran zu 
wenden, und doch würden ſie mehr auf ihrer Hut gemwejen 
jein, wenn fie die Beränderung bemerkt Hätten, Die in dem 
Gefiht des Buben vorgegangen war. Aber er beendete 
feine Arbeit, ſchwang fih dann wieder in den Sattel und 
warf noch einmal den Blid Scharf und forfchend über jene Stelle 
des Horizonts, wo er möglicher Weife den andern Zug ver— 
muthen konnte. Es war nichts zu erfennen, die Ebene lag 
todt und ſtill, und nah rechts hinaus fonnte er fogar ein 
Kleines Rudel von Antilopen erkennen, die fich dort äften und 
wenig auf die ſchon vorbeigezogenen Reiter achteten. Das war 
eher ein Zeichen der Sicherheit 5; denn hätten die ſcheuen Thiere 
an beiden Seiten von ſich Menſchen bemerkt, fo würden fie 
nicht jo ruhig an der Stelle geblieben fein, fondern die Flucht 
ergriffen haben. 

Noch hielt er, nahm die Flaſche wieder heraus und that 
einen tüchtigen Zug, dann ſchob er fie in die Taſche zurüd und 
holte aus feinem Gürtel einen der Revolver, die er als feinen 
Beuteantheil bei dem Ueberfall erhalten. Er jah nad den 
Patronen — er war gut und fcharf geladen, und noch nicht 
ein Schuß daraus abgefeuert. Vor ihm Hin trabten die beiden 


972 


Indianer, nicht weiter auf ihn achtend und die ſämmtlichen 
Padthiere vor fich her treibend. Sie mußten, daß er ihnen 
Ihon folgen würde, wenn er feinen Sattelgurt in Ordnung 
- hätte, | 

Ein tüdifches Lächeln ftreifte über die jet todfahlen Züge 
des Meißen, aber fein Entihluß war gefaßt. — Gewiſſens— 
jfrupel hatte er ja jo nicht zu befämpfen, und weiter nichts zu 
thun, als fich erſt genau zu verfichern, ob er feiner ferneren 
Gefahr ausgefebt ſei. Das jchien Hier nicht der Fall. Er 
ſah ſich mit den beiden Wilden in der weiten Prairie allein, 
und ohne auch nur einen Moment länger zu zögern, gab 
‘er jeinem Thier die Sporen und jprengte hinter ihnen drein. 

Die beiden Burſchen hörten ihn wohl kommen, achteten 
aber nicht darauf. Der Verwundete litt an den Schmerzen 
des Kugelſchuſſes und ſaß finjter brütend im Sattel, während 
der Andere eben damit bejchäftigt war, eind jeiner eigenen 
Thiere, dad unterwegs ein wenig weiden wollte, zu dem übri= 
‚gen Trupp zurüd zu treiben. Der rothe Kopf befam dadurch 
die befte Gelegenheit, dicht zu ihm hinan zu galoppiren, um 
ihm zu helfen. Der Indianer warf die Arme empor, um mit 
einem langen Seil aus roher Haut, das er in der Hand hielt, 
das Thier zu jtrafen. Der Weiße war in dem Moment dicht 
neben ihm, und ehe der Wilde, mit jeinem Pferd bejchäftigt, 
nur jelber die Bewegung bemerkte, fuhr ihm die Kugel des 
Verräthers dicht unter der Achlelhöhle in die Bruft. 

Der Andere hörte den Knall und wandte fich raſch dort= 
hin, aber ſchon hielt der Feind mit wenigen Säben neben 
ihm. Er wollte feinen Bogen — feinen Tomahamf ergreifen — 
zu ſpät. Die Kugel traf ihn gerade in den Rüden, und eine 
zweite zerjchmetterte feine rechte Schulter. Er taumelte im 
Sattel und ſank gleih darauf zu Boden nieder, wo der rothe 
Kopf auch faſt in dem nämlihen Moment an feiner Seite 
ſtand und ihm den Schädel mit feinem breiten Mefjer jpaltete, 
Ebenſo fertigte er dann den Andern, der aber ſchon Fein 
Glied mehr regte, ab, fing dann, ohne auch nur einen Moment 
zu verfäumen, die beiden Pferde, deren Sattel und Zaum er 
abwarf und die Pferde frei laufen ließ, ſprang wieder auf 
feinen eigenen Rappen und Hatte in Zeit von zehn Minuten 


973 


die ſämmtlichen Padpferde und Roſſe der Indianer, die fi 
auch vortrefflich bei einander hielten, zufammengetrieben. 

Jetzt aber änderte er entjchieden jeinen Cours und wandte 
fih, jo rafh er nur feinen Kleinen Trupp vorwärts bringen 
fonnte, direct nach Diten, eher noch dabei ein wenig nördliche - 
Richtung Haltend. Er fürchtete kaum, irgend welchen Weißen 
"zu begegnen, wäre es jedoch der Fall geweſen, fo Eonnte er 
ihnen ſchon eine Gefchichte erzählen; denn nicht der: geringfte 
Beweis lag gegen ihn vor, daß er fih an dem Ueberfall diefer 
Nacht betheiligt haben fünne. Seine einzige Gefahr lag hinter 
ihm, daß Wagalifihu Huka zu rajch von dem Raube Kunde 
befam. ber jelbit das hielt er nicht für möglid, und nad 
der blutigen Arbeit, und um fih mehr Muth zu machen, that 
er auf’3 Neue einen langen und tiefen Zug aus der Flaſche. 

Oft genug warf er allerdings im Anfang den Kopf zurüd, 
um zu jehen, ob er nicht doch vielleicht verfolgt würde, aber 
fein fremder Gegenjtand war an dem weiten Horizont der 
Steppe zu erkennen, hinter dem fih glatt und ungebrochen 
der blaue Himmel abzeichnetee Er Hatte jebt auch in der 
That nicht viel mehr zu fürchten, denn ſchon ſenkte fich die 
Sonne im Welten, und wenn er noch nad) Sonnenuntergang 
eine größere Strede zwijchen fih und die Indianer brachte, 
jo fonnte er faum glauben, daß fie ihm weiter folgen würden. 
Sie mußten wifjen, wie gereizt die Weißen nach dem lebten 
kecken Raubanfall gegen fie jein würden, und durften deshalb 
gar nicht wagen, zu jehr in ihre Nähe zu kommen. 


5. 
Dergeltung. 


Indeſſen hatte Wagalikſchu Hufa mit dem größeren Trupp 
feinen Weg noch) eine lange Strede gen Südweſten fortge— 
jest, und nur manchmal gehalten und den Blid nad dem 


974 


Meißen zurüdgemworfen, den er noch deutlich durch fein Glas 
erkennen konnte. Er traute ihm nicht, glaubte aber auch nicht, 
daß er wagen würde, irgend etwas Feindliches zu unter- 
nehmen, wo er fih noch im vollen Bereih der indianifchen 
Horden und Stämme befand. Das nur beunruhigte ihn, daß 
der rothe Kopf nicht genau die Richtung einhielt, die er ihm 
angegeben, fondern — was ihm nicht entgehen Ffonnte, mehr 
nah Sieden zu abwich und dadurch) auch dem Zug mit feinem 
Eigenthum näher blieb. Eine Weile noch verfolgte er troßdem 
die eingejchlagene Bahn, bis zuleßt immer mehr Zmeifel in 
ihm aufftiegen und er fi im Geiſt alle möglichen Dinge 
ausmalte. Er zügelte fein Pferd ein und hielt — ein neuer 
Plan kreuzte ihm das Hirn. 

Jedenfalls dauerte e8 Doch mehrere Tage, bis er im Stande 
mar, jelbjt die nähftwohnenden Siour-Häuptlinge zuſammen— 
rufen zu laſſen. Bis dahin aber mußte er jede weitere Feind: 
feligfeit aufjchieben, um nicht in einen ftärferen Hinterhalt 
der Feinde zu fallen. Erft wenn er durch größere Banden 
feiner Verbündeten den Rüden gedeckt wußte, konnte er wieder 
handeln und den verhaßten Bleichgeſichtern zeigen, daß fie noch 
lange nicht Herren der Steppe wären. Das Zufammenrufen 
der Siourkfrieger Fonnte aber auch eben fo gut durch feine 
Leute gefchehen, die Vertheilung der Beute mochte Djola (der 
Pfeifer), fein zweiter Häuptling, beforgen, wenn er jelber 
nicht zur rechten Zeit zurüdfehren follte, und erft einmal mit 
dem Gedanken im Keinen, fäumte er auch nicht, ihn auszuführen. 

Sein Ruf bradte Einen der Leute an feine Seite, und 
mit ruhigen Worten, aber finfter zufammengezogenen Brauen 
fagte der grimme Häuptling: 

„Ich babe in meinen Zelten zu thun — ich weiß nicht, 
od die Weißen den Weg dahin gefunden haben, und mill die 
Zelte meiner Frauen lieber hinüber nach den Kleinen Bergen 
bringen. Geht voran mit den Thieren. Es iſt möglich, daß 
ich erft in drei oder vier Tagen zu Euch hinüber fomme. Bin 
ich morgen nicht dort, jo mag Djola die Beute vertheilen. 
Halt Du mich verftanden ?' 

Der Wilde. antwortete gar nicht, ſtieß nur ein kurzes 
Hau! aus und fprengte dann zu dem Zuge, der fich indefjer 


\ 


—575 


gar nicht aufgehalten, zurück. Wagalikſchu Huka aber wandte 
ſein eigenes Thier, ohne es indeſſen zu beſonderer Schnelle an— 
zutreiben, mehr nach Oſten, um dort die Spuren ſeines eigenen 
Zuges zu finden und dieſem dann zu folgen. 

So mochte er etwa zwei Stunden in einem kurzen Trabe, 
aber ohne ſich auch nur im Mindeſten aufzuhalten, fortgeritten 
ſein, als er plötzlich ſein Pferd einzügelte und aufmerkſam 
den Boden betrachtete. Der ſcharfe Blick des Wilden bedurfte 
aber keiner langen Zeit, um ſich zu überzeugen, daß er in 
ſeiner erſten Vermuthung nicht geirrt. Hier hatten ſich aller— 
dings andere, von Nordoſten her kommende Thiere den ſeinen 
angeſchloſſen, und bald erkannte er auch unter den Fährten den 
etwas eigenthümlichen Vorderhuf von Kai Bola's Pferd. — 
Sein Verdacht war alſo doch nicht ganz unbegründet geweſen, 
und ſein überdies düſteres Geſicht zog ſich noch viel drohender 
zuſammen. 

„Fort mit Dir, Verräther,“ murmelte er leiſe vor ſich 
hin. „Die Shyennes dulden Dich nicht zwiſchen ſich, und 
kein Zelt meiner Krieger darf Dir Schutz gewähren. Alle 
Bleichgeſichter ſind Verräther, aber der ſchlimmſte biſt Du, 
und weder Salz noch Pfeife werde ich wieder mit Dir theilen.“ 

Er ließ fein Thier jetzt ſchärfer austraben, denn der breiten 
Spur des vorangegangenen Trupps konnte er natürlich mit 
größter Leichtigkeit folgen. Sa er braudte kaum den Zügel 
zu faflen, denn fein eigenes Pferd Hatte ſchon jelber die vor= 
angegangenen Kameraden gemittert und folgte ihnen aus 
eigenem Antrieb. Noch immer aber war der wilde Häuptling 
„nur in dem Glauben, daß der „rothe Kopf‘ fich hinter feinem 
Rüden den Shyennes angefchlofjen hätte, um eine Zeit lang — 
und bis der Sturm über den Raubzug etwas verflogen jet, 
bei ihnen zu verweilen, und jein Blick Haftete dabei an dem 
Horizont, ob er nicht bald in Sicht des ——— 
Trupps gelange. 

Da plötzlich flog ſein eigenes Thier ſo ſchnell und ſcheu 
zur Seite, daß er in der Ueberraſchung des Augenblicks kaum 
ſeinen eigenen Sitz bewahren konnte — aber mit einem Wuth— 
ſchrei ſchnellte er auch empor, als er die Urſache erkannte und 
die Leichen der ermordeten Freunde am Boden liegen ſah. 


576 


Ein einziger Blick überzeugte ihn, wer die That verübt, 
denn die Leichen waren nicht fcalpirt, alfo der Ueberfall von 
feinem Pawneeſtamm ausgeführt. Raſch die Stelle umreitend, 
fand er auch bald, daß Feine anderen Pferde von irgend einer 
Seite hinzu gekommen waren. 

Sm Nu war er aus dem Sattel und bei den lebloſen 
Körpern der beiden Krieger — fie waren todt, und jebt blieb 
ihm nicht3 zu thun übrig, als fie an dem doppelten VBerräther 
zu räden. 

Zuerft ſchnallte er feinen Gurt fefter, damit ihn der im 
enticheidenden Augenblid niht im Stiche Tief. Er mußte, 
daß der Weiße, der nun allein zehn Thiere zu treiben hatte, 
auch nicht fo rajch mehr vorrüden fonnte — er wurde bald 
von dem, bald von jenem Thiere aufgehalten. Ihm entging 
er nicht, und wenn er dem DVerräther bis mitten in die An— 
ftedelungen der Weißen hinein hätte folgen ſollen. Als er jetzt 
wieder im Sattel jaß, war es, als ob Mann und Roß aus 
einem Stück gegoljen feien, und wie mit Sturmesflügeln 
braufte er über die Steppe. 


Der Weiße Hatte indeffen in der Ruhe und Sicherheit, 
die ihn überall umgab, auch die lebte Furcht verloren. Das 
vergofjene Blut machte ihm dabei ebenfalls nicht die geringite 
. Sorge. Das waren nur Indianer, und er würde mit derjelben 
Gemüthsruhe eine Rothhaut wie einen Wolf getödtet haben. 
Und der Raub der Beute? — ingrimmig lachte er in fi 


hinein, wenn er daran dachte, wie der alte Shyenne-Häuptling 


toben und mwüthen würde, jobald er den Verluſt erfuhr, den 
er. erlitten. DBeftie, die e8 war, ob erihn nur je einmal im 
Leben hatte lachen hören! 

„Ich möchte es wirklich einmal erleben,‘ nidte er jtill 
vor fih Hin, „nur um zu fehen, wie fi) daS gelbe, trodene 
Gefiht dabei ausnimmt.“ 

Ein paar von feinen Padthieren bogen recht? ab, und er 
mußte unter den gottesläfterlichften Flüchen jeinem eigenen 
Pferd die Sporen geben, um fie wieder beizutreiben. Dann 
verfolgte er, ohne an weitere Gefahr zu denken, feinen eigenen 


—— 


Weg, und nur kurz vorher, ehe die Sonne den Horizont be— 
rührte, drehte er ſich, mehr zufällig, als irgend einem andern 
Gedanken folgend, einmal im Sattel um, griff aber auch ſchon 
im nächſten Moment ſeinem eigenen Thier in den Zügel, denn 
gar nicht mehr ſo weit hinter ſich ſah er eine dunkle Geſtalt 
auf ra ſch heranſ prengendem Roß, und erkannte natürlich augen⸗ 
blicklich in ihm einen Indianer. 

„Hallo, mein Burſche,“ lachte der Mann aber trotzig vor 
ſich hin, indem er ſeinen zweiten, noch mit voller Ladung ver— 
ſehenen Revolver vorzog. „Haſt Du 'was gemerkt und biſt 
Deines eigenen Lebens müde? — Nun, wie Dir's Spaß 
macht, aber wenn Du wüßteſt, was Dir gut wäre, hielteſt 
Du Dich lieber ein bischen aus dem Wege. Doch Jeder 
nad ſeinem Plaiſir. — Wird eine breite rothe Spur Hinter 
mir werden, wenn das jo fortgeht.‘' 

Er war in der That im erjten Augenblid nicht im 
Mindeiten beunruhigt, denn er wußte recht gut, daß er es mit 
jedem gewöhnlichen Indianer bequem im Einzelfampf aufnehmen 
könne Plötzlich aber nahm fein Gefiht einen andern, ftarren 
Ausdrud an. 

„Teufel!“ murmelte er bejtürgt vor fi Hin, „iſt das nicht 
der Ulte jelber, der da meiner Fährte folgt? Rother Blut: 
hund, haft Du 'was gemwittert? Aber jebt kann's nichts helfen — 
Du willit e8 eben nicht befjer haben — und doch wollte ich 
es lieber allein mit zehn anderen Indianern aufnehmen,‘ ſetzte 
er ſcheu Hinzu, „als mit dem rothbemalten Teufel.’ 

Faſt unwillfürlich hatte er dabei fein Pferd gezügelt, er 
wußte, daß er mit den Laftthieren dem DVerfolger doch nicht 
mehr entgehen könne, und wollte ihm fo troßig die Stirn 
bieten. Aber näher und näher fam der furchtbare Häuptling, 
jebt war er faum noch Hundert Schritt von ihm entfernt, und 
fein wilder Schlachtſchrei gellte über die weite Prairie. Un— 
willfürlih hob fi des Weißen mit dem Revolver bewaffnete 
Vauft, aber er vermochte dem Feind nicht die Stirn zu bieten. 
Mit der linken Hand riß er fein Thier herum, und ihm mit 
voller Kraft die Sporen einbohrend, fuchte er fein Heil jett 
noch allein in der Flucht. 

Des Shyenne-Häuptlings Pferd war allerdings durch den 


De ri »w [I 2 
Fr. Gerſtäcker, Erzählungen ꝛc. 87 


578 


langen und angejtrengten Ritt ungewöhnlich ermüdet worden, 
der Wilde trieb es aber mit Sporn und Fauſt zu immer 
tollerer Eile. Nur jebt follte e& noch außhalten, nur noch 
eine kurze Zeit, bi8 er den Derräther eingeholt, dann mochte 
es jeinetwegen todt zufammenftürzen. Aber das Thier des 
Weißen, noch nicht fo übertrieben, war jchneller als das feine, 
er jelber wenigftens nicht im Stande, auch nur einen Fuß 
breit Raum mehr an ihm zu gewinnen. Umſonſt ſchlug er es 
mit den Haden und ftieß ihm den Kolben feines Revolver 
in die Seite. Die Entfernung war noch zu groß, er konnte 
die Waffe nicht mit Sicherheit gebrauchen, und doc fühlte er, 
daß die nächſte Minute jogar diefelbe noch vergrößern müſſe. 
Der „rothe Kopf‘ erfannte wohl bald den VBortheil, den er ge— 
wann, aber er jhäumte auch vor Wuth, wenn er daran dachte, 
daß er dann die ganze Beute dem Indianer überlaffen müffe. 
Unſchlüſſig, ob er wirklich fliehen oder fi) dem Feind Stellen 
folle, griff er feinem Thier in den Zügel. Aber das Pferd 
war am Durchgehen, er fonnte es nicht mehr halten, durch 
den Zügelruck that es jedoch einen falſchen Sprung Su 
demjelben Moment flog der Weiße, nur mit dem linken Fuß 
den Bügel noch haltend, in dem er feſtſtak, von dem raſend 
dahinftürmenden Thiere, und wurde von ihm die Steppe ent- 
lang, dur) Dorn und Cactus mwüthend, fortgeichleift. 

Daß aber hemmte natürlich des auch ſchon erjchöpften 
Roffes Lauf; in wenigen Minuten war jetzt Wagalikſchu Hufa 
an der Seite feines Opferd, und der Wilde, den der „rothe 
Kopf“ nie ſelbſt Hatte Lächeln fehen, lachte jebt laut und gel- 
lend auf, als er ſich feiner Beute ſicher wußte und in furdt- 
barem Jubel neben ihm hinſprengte. Er dachte auch gar nicht 
daran, den Lauf des fcheuen Thiere® zu hemmen und den 
Feind aus feiner tödtlihen Lage zu befreien. Nein, zu immer 
wilderer Flucht trieb er e8 mit Schrei und Geheul an. — 
Sowie e8 zögerte, war er an feiner Seite, biß endlich die 
Kräfte des Rappen dur die nachichleifende und jebt ſchon 
formlofe blutige Laſt erfhöpft und gebrochen waren. 

Es konnte nicht mehr — wozu auh? Das Opfer hatte 
ſchon lange jein Bewußtfein verloren und fühlte die Dual nicht 
mehr, und als der Rappe endlich, nicht fähig mehr einen 


% 


579 


Sprung vorwärts zu machen, halten blieb und in die Kniee 
Tank, jprang aud der Wilde aus dem Sattel, riß den blutigen 
Scalp von der Leihe und ritt dann langſam, das halbtodte 
Pferd und den todten Reiter fich felber und den Nasgeiern 
überlafjend, zu feinen Padthieren zurüd. 

Die Amerikaner erfuhren allerdings Ipäter, daß Wagalik— 
ſchu Huka oder Truthahnbein es geweſen jei, der den Zug 
überfallen und die unglüdlihen Beamten fcalpirt habe, aber 
fie hatten feine Macht dort im Weiten, um ihm in feine Steppe 
zu folgen und ihn zur Rechenſchaft zu ziehen, ja ſahen fich ſo— 
gar gendthigt, jpäter, im September, um den ewigen Weber: 
fällen der Rothhäute ein Ende zu machen, am Northplatte 
jenes Sriedensconcil zujammen zu rufen, in welchem Wagalik— 
Thu Hufa ſowohl als jein früherer Begleiter Djola, der Pfeifer, 
felber erichienen. 

AS Gefandte ihres Stammes durfte man fie natürlich 
nicht antaften, und nachdem ein theilmeifer Frieden hergejtellt 
war, der wenigſtens den Winter über der Gegend Ruhe ver- 
ſprach, kehrten die verſchiedenen Häuptlinge der Shyennes, 
Dgellallas und Brule Siour mit Gefchenfen beladen wieder 
in ihre wilden Steppen zurüd. 


37* 


In den Ned River-Sümpfen. 


Nach dem letzten amerikaniſchen Kriege. 


1: 
Die Räuber am Red River. 


Der Krieg in den wiedervereinigten Staaten von Nord: 
amerifa war beendet, General Lee, bi dahin der erfolgreichite 
der Nebellen-Öenerale, zur Uebergabe gezwungen worden, Prä— 
ſident Sefferfon Davis gefangen, und die ſüdliche Armee ent= 
weder in Kriegögefangenfchaft gerathen, oder zeritreut. Die 
Meiſten der letzteren warfen fi) dann über die fühliche Grenze 
nad) Mexiko hinein, wo ein Theil fogar wieder bei dem In— 
dianer Juarez Dienfte gegen den Kaiſer Marimilian nahm, 
Andere flohen nah Welten zu den noch ebenfalls halb feind: 
lihen Stämmen — Alle aber doch nur auf fo lange, bis fie 
ein folches Leben jatt befamen und ſich zurüd in die Staaten 
und zu ihrer Arbeit jehnten. 

Allerdings Hatten fih, jo lange der Krieg noch dauerte, 
befonders in den weſtlichen Staaten verbrecheriihe Banden 
gebildet, die, wie fie Cooper in feinem Roman „der Spion‘ 
ſchildert, Freund wie Feind gleih unparteiifch behandelten. 
So die Jayhawkers in Arkanſas, die Bufhwhaders, die ur- 
iprünglich richtige Guerilla waren, in Miffouri. In Europa 
glaubte man aud damals, mit den amerikaniſchen Berhält- 
niffen nicht vertraut, daß fich ſelbſt noch nach dem Kriege zahl: 
\ofe Raubbanden über dad Land zerjtreut halten würden, und 
ähnliche Fälle Fonnte man auch in einzelnen anderen amerifa= 


581 


nifhen Staaten, bejonders in Mexiko, wie in mehreren der 
früher jpanifchen Republifen beobachten, — aber der Nord— 
amerifaner iſt aus anderem Zeug gemacht. Der Krieg hatte 
ja auh nur vier Jahre und nicht doppelte Lebensalter hin— 
dur, wie zum Beijpiel in Merifo, gedauert, um ganze Gene- 
rationen zu Marodeuren und Freibentern heran zu ziehen. Die 
jungen Xeute, die jetzt Nahre lang unter den furchtbarften Stra- 
pazen draußen im Felde gelegen, verlangten in ihre Heimath, 
zu ihrer Arbeit zurüdzufehren, und Monate, ja Wochen fpäter 
Ihon, wie nur die Armee entlafjen war, hatten die jet wie— 
der freien Soldaten auch die Muskete mit der Pflugihar 
oder der Werkitätte vertaufht. Selbſt die höheren Dfficiere 
verlangten nicht, daß ſie jebt ihre ganze Lebenszeit von der 
Nation durch fette VBenfionen ernährt würden, fondern griffen 
jelber wieder zu ihren früheren Geſchäften, um fich auch felber 


wieder ihren Lebensunterhalt zu verdienen — kennt dod fein . 


Bolt mehr, als das nordamerikaniſche, den Werth der Zeit. 

Wo fih no, wie zum Beiſpiel in Arkanſas, veripätetes 
Gefindel herumtrieb, wurde es raſch genug von den dort 
lebenden „Nachbarn“, ohne die Bolizet bejonders zu bemühen, 
aufgeftöbert, und ehe drei Monate nad Friedensſchluß ver- 
gingen, waren die Strafen und Wälder wieder fo. ficher, wie 
fie e8 je geweſen. 

Um jo mehr VBerwunderung erregte deshalb ein Gerücht, 
daß fih am Red River, und zwar in dem Grenzdiſtrict zwifchen 
Arkanſas und Teras, eine Raubbande feitgejeßt habe, die un— 
gejcheut den Krieg gegen den Norden fortjebe und Alles morde 
und beraube, wa3 in ihren Bereich komme. igenthümlicher 
Weiſe wurde dem aber vom Süden aus widerjprocden; mehrere 
Pflanzer aus Teras waren nämlich jene Gegend paſſirt, ohne 
im Geringſten behelligt zu werden, und behaupteten ebenfo, 
von einer dort eriftirenden Naubbande nit das Geringite 
gehört zu haben. Und trotzdem verſchwanden Perſonen aus 
dem Norden, die ſich in jene Gegend gewagt, und aud) ein 
paar Neger fand man — den einen ermordet im Walde, 
den andern, mit einer faft drei Zoll breiten Stihmwunde im 
Rüden, den Ned River hinabtreiben. 

Moher man es wilje, fonnte Niemand jagen — es lag, 


582 


wie das oft bei dergleichen Dingen geht, in der Luft — aber 
es hieß, der Hauptanführer der Bande fei ein gemifjer Bak— 
fer, der allen „Yankees“ und „Negern“ den Tod geſchworen 
habe, und Thatjache war allerdings, dag man noch von feinem 
‚ermordeten Südländer mußte. Um jo mehr aber fand fi 
die Militärbehörde in Little Rod dadurch veranlakt, ein 
Streifcorps gegen diefen Bandenchef, der da den Krieg auf 
eigene Yauft, wenn auch im Kleinen, fortführen wollte, aus— 
zujenden. 

Es waren da3 Hundert Mann unter der Führung eines 
Dbriften Root; aber vergebens durchſuchten fie jenen ganzen 
Diftriet, fie Eonnten feine Spur von einer Raubbande finden; 
die dort vereinzelt wohnenden Baummollenpflanzer wollten 
eben fo wenig von einer ſolchen willen, und nad zwei Monaten 
fehrte die Truppe unverrichteter Sache nach Little Rod zurüd, 
wohin fie die Meldung brachte, die Bande, wenn fie je eriftirt 
habe, jei zeritreut, oder jedenfalls weiter nah Texas hinein— 
getrieben. 

Kaum aber war der Dbrift wieder in der Hauptitadt des 
Staates angelangt, und feine Meldung eben an dad Haupt: 
quartier abgegangen, als jchon wieder die Kunde von der Er— 
mordung eines Yankee-,Pedlars“ oder Krämers, und eine 
freien Negers, den er bei ſich gehabt, eintraf, und als fi 
nah faum acht Tagen ſolche Unglüdsbotichaften wiederholten, 
fonnte man nicht mehr daran zweifeln, daß der „Obriſt“ wohl 
nur an der „falſchen Stelle“ gefucht habe, und die Bande nod) 
nach wie vor ihr Unweſen treibe. 

In Little Rod befand fih ein junger Capitain, Bradiham, 
der ſich in dem lebten Kriege befonders ausgezeichnet und wichtige 
Dienfte gegen die damals ebenfalls in Aufruhr begriffenen 
Indianer geleiftet hatte Er war auch mit deren Sitten und 
Kriegführung vollftändig vertraut, und General Solmitch, der 
jebt dort Commandirende, beſchloß, ihm die Führung eines 
neu auszufendenden Corps zu übertragen. 

Bradſhaw ftammte jelber aus dem Süden der Union und 
war in New-Orleans geboren, — aber fein Vater aus dem 
Norden dahin gezogen, wo er ein größeres Geſchäft gründete, 
fih verheirathete und ebenfalls Sclaven hielt. Seine Frau 


883 


war eine eingefleifhte Südländerin, ebenfo hingen feine Töchter, 
von denen ſich eine nad Charlefton verheirathete und dort kurz 
vor Beendigung des Krieges farb, dem Süden an, wie denn 
merfwürdiger Weiſe das zarte Geichlecht entjchieden und fait 
fanatiih für Beibehaltung der Sclaverei bis zum Ende blieb. 
Nur der Sohn, der im Norden erzogen worden, ftand auf 
Seiten der Union, oder entjchied fich wenigſtens dafür bei 
Beginn des Krieges, und hatte jebt, jehr zum Leidweſen feiner 
Mutter, den ganzen Kampf fiegreich mit durchgefochten. 

Er war auch fofort bereit, den etwas abenteuerlichen Zug 
zu unternehmen, erbat fi aber vom General Solwith nicht 
etwa Hundert, jondern höchſtens zehn Mann zu feiner Be: 
gleitung, die er fich jedoch felber auszufuchen wünſchte. Ebenſo 
hielt er e8 für rathjam, daß die ganze Kleine Truppe nicht 
in Uniform, jondern in der gewöhnlichen Badmoodstradt 
ausziehe, und daß fie dabei jchwer bewaffnet gingen, fiel in 
diefem wilden Lande überhaupt nit auf. 

Die Bewohner des Weſtens gehen, felbjt in den fried- 
lichften Zeiten, nie ohne ihre lange Büchſe und das jchwere 
Sagdmefjer aus dem Haufe, denn wo fie fich befinden, Jind 
fie ja auch auf der Jagd, und Bär und Panther finden ſich 
noch immer, wie vor fünfzig Jahren, in jenen von der vor— 
rüdenden Civiliſation wenig berührten Ländern. Jetzt aber 
gerade zogen eine Menge von mit den Verhältniſſen unzus 
friedenen Bewohnern der jüdlichen Staaten über die Grenze 
nah Teras hinein, ja durch Diefes durch bis nach Mexiko, 
und derart Leute führten dann gemöhnlid Fein anderes Ge: 
päd bei ſich, als eben ihre Waffen, eine Art und etwas Lebens 
“mittel, vielleicht noch mit einem reinen Hemd eingemwidelt in 
der auf den Rüden gefchlungenen wollenen Dede, und Kleine 
Trupps derjelben zeigten fi) aller Orten an der Grenze und 
fonnten nicht auffallen. 

Bradſhaw befchloß ſolcherart, feine immerhin etwas ge— 
führliche Necognoscirungstour vorzunehmen, und General Sol: 
witch, durch den erſten mißlungenen Verſuch, jene Bande auf- 
zuftöbern, irritirt, und mit den DVerhältniffen jener Diftricte 
ebenfalls vertraut, geftattete ihm nicht allein, feinen Zug nad 
eigenem Wunſch einzurichten, fondern veriprad ihm auch auf 


284 


feine Bitte, die ganze Expedition vollfommen geheim zu halten. 
Er felber wußte recht gut auß eigener Erfahrung, wie gehaft 
gegenwärtig noch die Yankees in diefen ſüdlichen Diftricten 
waren, und traute den bisherigen Sclavenhaltern wohl zu, 
daß fie einen Schwarm gefeßlofen Gefindel® nicht verrathen, 
ja ihnen fogar vielleicht noch Vorſchub leiten würden, wenn 
fie die Meberzeugung hatten, daß deren verbrecheriiche Thätig- 
feit nur allein gegen: die Bewohner ded Nordens, wie ihre 
Anhänger gerichtet et. 

Bradiham, genau feinem Plan getreu, erbat ſich außerdem 
noch eine wenigſtens vierzehntägige Frilt, ehe er aufbrad. Es 
war ſchon jeßt in Little Rod von einer neuen Expedition ge- 
iprochen worden, und etwaige und doch mögliche Spione mußten 
deshalb erjt ficher gemacht werden und zu der Meinung fommen, 
daß fie aufgegeben ſei. Die Ereigniffe drängten fich außerdem, 
und es gab jo viel und mancherlei zu beiprehen, daß man 
darauf rechnen konnte, ein folder Gegenftand, der die eigene 
Stadt ja nicht einmal entfernt berühre, würde bald in Ver— 
gejienheit gerathen. 

General Solwitd drängte allerdings ſchon nah wenigen 
Zagen zum Aufbruch der Heinen Truppe, Capitain Bradiham 
beitand aber darauf, jeine einmal beftimmte Zeit einzuhalten, 
und er hieß ihn endlich gewähren. Wollte er doch nicht die Ver— 
antmwortlichfeitt auf fi) nehmen, irgend etwas verjäumt zu 
haben, was dazu beitragen Fonnte, die einzige noch in den 
Vereinigten Staaten beftchende Raubbande, die fich noch dazu 
in dem von ihm jelber befehligten Diftricte befand, aufge 
rieben zu haben. 

Nach der bejprochenen Zeit verließ dann die Kleine Truppe, 
aber auch vereinzelt und nicht auf einmal, die Stadt, und 
fein Mensch bemerkte es, oder achtete darauf. 

Sp weit nun Bradiham Erfundigungen eingezogen, jollte 
der Actionspunft jener Verbrecher gerade auf, oder doch in 
der Nachbarſchaft jener Straße liegen, die von Little Rock in 
etwa ſüdweſtlicher Richtung nad dem Ned River oder Rio rofjo 
der Merifaner (roter Strom) führte. Die Straße pajlirte 
noch in Arkanſas die beiden Fleinen Städte Wafhington und 
Fulton, und verlief dann früher im fogenannten „rothen 


885 


Land“, das vor dem amerikaniſch-mexikaniſchen Kriege einen 
Streitpuntt mit Mexiko bildete. In neuerer Zeit aber hatten 
fih viele amerifanifche Auswanderer dem Süden zugewandt 
und dadurch eine Art von Verkehrsweg gebildet, der aber 
immer noch nicht mit ſchweren Wagen befahren, fondern ge 
wöhnlih nur entweder im Sattel oder zu Fuß zurüdgelegt 
wurde, 

Das „rothe Land“, von dem rothen Schlamm fo genannt, 
den der Red River in Zeit von Ueberſchwemmungen mit fi 
führt, war noch jehr wenig befiedelt; nur einzelne große Baum: 
mwollenpflanzungen befanden fich früher darin und producirten 
in dem wirklich unerfchöpflichen Boden der „swamps“*) enorme 
Ernten. — Sebt aber lag das Alles brach. Der Sieg der 
Union Hatte jenen unglüdlihen Sclaven die Freiheit gegeben, 
und daß fie in der erften Zeit, wo die Negerglode fie nicht 
mehr Morgens vor Tag zur Arbeit rief und die Peitſche den 
Säumigen erwartete, gerade feine bejondere Luft verjpürten, 
ihre Arbeiten fortzufeßen, läßt fich etwa denken. Die Blantagen 
waren deshalb im Jahre 1867 faſt vollftändig verwailt. Die 
Neger, Alte und Kranke ausgenommen, hatten fi über das 
Land zerjtreut, Die Fenzen oder Einzäunungen waren von 
durchziehenden Streifeorps der Unionsarmee, als vortrefflid 
geeignete Brennmaterial zu ihren Kagerfeuern, eingeriffen und 
verwandt worden, und die anfangs geflüchteten Beſitzer jebt 
eben nur zurüdgefehrt, um zu jehen, was fie von ihrem 
Eigenthum noch retten Fonnten, und wie wenig fanden fie 
nod vor! 

Die Neger, in dem Bewußtſein ihrer neuen Freiheit und 
ich zum erften Mal in ihrem Leben ala Herren fühlend, hatten 
von dem eriten Moment ihrer neugemwonnenen Yreiheit aud) 
natürlich feinen Schlag Arbeit mehr gethan — aber leben 
wollten fie: das ihrem. früheren „Maſter“ gehörende Vieh 
wurde, fobald fie defien bedurften, geſchlachtet. Holz ſtand 
allerdings im Ueberfluß im Wald umher, und abgebrochene, 


*) Swamps oder Sümpfe werden alle diefe tiefliegenden Niede- 
rungen in Amerika genannt, die allerdings nicht das find, was wir 
gewöhnlich unter Sumpf verftehen, jondern bebaut werden und Die 
reichſten Ernten liefern. 


886 


trodene Zweige bedeckten überall den Boden, aber noch be— 
quemer war es, einzelne der augenblidlih gerade nicht be- 
nubten Hütten, 3. B. dad Haus des Auffeherd, zu Brenn: 
material zu benußen, — ebenfo die faſt noch bequemeren Fenz— 
ftangen. Daß das Vieh dabei in die geöffneten Umzäunungen 
brach, konnte fie jeldftverftändlich nicht interejfiren. Daß war 
„Maſſas“ Feld, und „Maſſa“ ſollte der Teufel holen! 

Sebt, nach Beendigung des Krieges, waren aljo, wie ge 
fagt, einige der Befitenden zurüdgefehrt, um ihren verlafjenen 
Gütern wenigftens das noch) übrig Gelaſſene zu erhalten; aber 
Ihon der Anbli ihrer Halbzeritörten Ländereien füllte fie mit 
DBitterfeit gegen den außerdem — Norden, und wo ſie 
früher in Ueberfluß und Wohlleben geſchwelgt und wie kleine 
Satrapen auf ihrem Grund und Boden gelebt, da ſahen fie 
fich jebt faft dem Mangel preisgegeben und konnten und 
durften von den noch auf ihrem Grund und Boden zurüdges 
bliebenen Schwarzen natürlich) Feine Liebe und Anhänglichkeit 
erwarten, hatten fie doch früher nur Furcht und Haß geläet. 

Aber der eigentliche Amerikaner ift peculativ. Die Farmer 
aus Arkanjas, welche die Fruchtbarkeit des über dem Ned 
River EN Landes Ffannten und recht gut mußten, Daß 
die dort bi dahin anſäſſig geweſenen Baummollenbarone dag 
Wenigite ihrer Grundſtücke wirklich Shon von der Regierung 
gejeblich erworben hatten, fingen an, fih auf den nächſt den 
Daummwollenplantagen gelegenen Streden feſtzuſetzen und dort 
das fogenannte Preemption right für fih in Anfprud zu 
nehmen. Dadurch geihah es, daß fih ſchon einzelne Farmen 
hier und da in dem fonft noch wilden Land etablirten und 
rüftige Backwoodsmen, meift aus Arkanfas herübergefommen, 
das Land in Angriff nahmen. Sie füllten die mächtigen 
‚Bäume des Urwaldes, errichteten Fenzen um ihre raſch urbar 
gemachten Felder und mußten dabei recht gut, daß ihnen, von 
den Gefeßen der Union gefhübt, Feine Macht der Welt den 
einmal in Beſchlag genommenen Grund und Boden mieber 
entreißen fonnte, 

Täglich kamen dabei auch neue Zuzügler an, im Ganzen 
aber war da3 ungeheuer weitgedehnte Land doch troßdem nod) 
außerordentlich ſchwach beftedelt, und man konnte oft halbe 


987 


Tage durch den Wald ziehen, ehe man wieder auf eine Fenz 
oder die Hütte eines Jägers traf. Nur die, aber auch meiſt 
von Einwanderer begangene Straße zog fih hindurch, und 
hier und da am Wege zeigten Feine, gewöhnlich mit Palmetto— 
blättern gededte Schutzdächer, daß die Wanderer Hier, wo fie 
mit einbrechender Dunkelheit Feine Wohnung mehr erreichen 
fonnten, im Freien übernachtet hatten. 

Die VBalmettopflanze kommt zuerjt in diefer Breite vor und 
hat darin Nehnlichkeit mit unferen Farren, daß fie in einem 
gemäßigten Klima als Buſch oder Strauch auftritt, aber fobald 
der Boden heißer wird, einen Palmenſchaft zu treiben beginnt 
und dann höher und höher vom Boden auffteigt. Die Farren- 
palme erreicht eine Höhe von 42 Fuß, und noch mächtiger 
jteigt in den tropifchen Ländern die Gattung der Palmetto- 
oder Fächerblätter in die Höhe und erreicht wohl ihre größte 
Bollfommenheit in der Karatapalme am Drinoco. Die fächer- 
förmigen Blätter, ziegelartig übereinander gelegt, bilden auch 
ein leichtes, aber vollfommen regendichtes Dach und troßen 
dabei, wenn gut befeftigt, daß fie der Wind nicht abitreifen 
fann, auf lange Monde felbjt den ärgſten Tropengüſſen. So 
fommt es denn oft vor, daß ſolch ein raſch und leicht her- 
gejtelltes Dach, wenn es für eine Nacht von Wanderern benubt 
wurde, noch nah Wochen anderen die Straße kommenden als 
Dbdah dient, und genügende Feuerung Tiefert dabei Die 
Waldung aller Drten. 

Diejen Weg nun betrat Bradſhaw mit feiner Fleinen Truppe 
und hielt, nachdem ein paar vereinzelte Farmen paffirt, den 
eriten Abend in einer dicht nodh am Strom Viegenden, jebt 
aber faſt volljtändig verwüfteten Baummollenplantage, die 
nahezu verödet, mit niedergebrochenen oder zerjtörten Fenzen 
und inmitten von aufgewuchertem Unkraut lag. Sa, jelbit 
die Waldesvegetation begann fich Schon wieder hier und da im 
Feld zu zeigen, und wenn da nicht bald eine Aenderung ein- 
trat, jo konnte man berechnen, daß die jänmtlichen, einft 
unter der Cultur befindlichen Streden ſchon nad einigen 
Jahren wieder von Wurzeln durchzogen und von jungem 
Baumwuchs überwuchert fein würden. — Und wer kümmerte 
ih darum? Die Neger, die ſonſt in Schwärmen den Plat 


988 


belebt, hatten fih in alle Winde zerftreut, und nur ein paar 
alte und ſchwache Frauen und Männer, wie die Kranfen, 
waren zurücdgeblieben und frifteten jebt auf der Plantage ein 
elendes Dafein. 

Der Eigenthümer, ein Herr Cornhilt, ergriff allerdings 
ebenfalls Die Flucht, fobald nur die erjten Unionstruppen den 
Ned River überſchritten, und ließ feine Plantage im Stiche — 
jet aber, nach beendetem Kriege und nachdem er fich eine 
Weile in Teras herumgetrieben, war er, und zwar vor wenigen 
Moden, felber auf fein Eigenthum zurüdgefehrt. Aber kaum 
etwas mehr als Grund und Boden und ein paar Gebäude 
fand er dort wieder vor, und mit Haß und Ingrimm gegen 
den Norden fah er ſich all’ feines Eigenthums beraubt und, 
wie er glaubte, vollftändig ruinirt. Gapitain Bradſhaw er- 
reichte mit feinen Leuten den Platz gerade, als rollender Donner 
einen neuen Regenſchauer anfündigte. Der dicht umzogene 
Himmel drohte überhaupt mit einer naſſen Naht, und ein 
ſchützendes Obdach mußte ihnen nur willfommen fein. 

Wie öde und wüſt die ſonſt jo gut gehaltene Plantage 
ausjah! Von den zahlreihen Negerhütten, die in vier Reihen, 
. mit Eleinen Gärthen dazwifchen, einen nicht unbedeutenden 
Flähenraum einnahmen, waren nur noch drei bewohnt, die 
anderen dagegen theils eingerifjen und zu Feuerholz verwandt, 
theils verödet und Halb zerfallen, mit auögebrochenen Thüren 
und offenen Fenftern, während die Gärten ſämmtlich von 
Unkraut überwuchert lagen. Der Plab fchien wie volljtändig 
ausgeltorben, und das einzig übriggebliebene Weſen eine graue 
Kabe zu fein, die vor der einen Thür jaß und Fläglich miaute, 
als die fremden Männer, durch Fein Thor mehr behindert, in 
den Hofraum des Herrenhaufes einritten. 

Sonft Hatte fih dort allerdings eine muntere Hühner, 
Puter- und Gänfefhaar umbhergetrieben und den Raum be— 
lebt — jest war nichts mehr davon weder zu hören noch zu 
fehen, denn alles Eßbare holten fi natürlich die Neger, wo 
fie nur irgend Hand daran legen konnten. — Kein Hund 
bellte mehr auf dem Hofe, feine Blumen ſchmückten die Veranda, 
und faſt ſämmtliche Saloufien des ganzen Sons waren ges 
ſchloſſen. 


289 


„Hallo the house!“ rief Bradihaw allerdings in der üb— 
lihen Badwoodsart den wüſten Raum an, aber er erhielt, 
jelbft auf den dreimal ausgeftogenen Schrei, Feine Antwort, 
und nicht gewohnt, lange Umftände zu machen, jprang er aus 
dem Sattel, welchem Beiſpiel rajch die Hebrigen folgten, löſte 
den Gurt und trug den Sattel in das Haus hinein. "Den 
Pferden wurden Kleine Glocken umgehängt, um fie am nächften 
Morgen leicht wieder zu finden, und dann trieb man fie in 
eins der großen, jet allerdings brach liegenden Baummwollen- 
felder, wo fie Futter genug in dem aufgewucherten Gras 
trafen. 

Bradſhaw rieth indefjen den Leuten, im Hof und unter 
dem Vorbau der einen Beranda ein Feuer anzumachen, wenn 
ſie nicht irgendwo die frühere Küche entdeden fonnten, und be- 
ſchloß, ſelber das Haus noch vor einbrechender Dunkelheit zu 
unterfuchen, ob es wohnlihen Raum für ein Unterfommen 
biete. Der Regen fing richtig an einzufeben, und hielt er an, 
jo war es möglich, daß fie hier morgen für den ganzen Tag 
beiliegen mußten, denn draußen in den nafjen Büfchen hätten 
fie doch nur ein erbärmliches Reiten gehabt. 

Er verjuchte die Hausthür der einjt jo ftattlihen Herren— 
wohnung und erwartete nicht3 Anderes, als fie verichlofien zu 
finden, aber fie gab jeinem erſten Drud nah, und wo ihn 
ſonſt zahlreiche Dienerfchaft angehalten und nad) feinen Wünfchen 
gefragt haben würde, fah er jebt die unten befindlichen Thüren 
offen ftehen und die öde, leere Treppe vor fich Liegen. 

Uber oben an der Treppe Hing ein allerdings etwas mit— 
genommener Panamahut — befand fi wirklich Jemand dort 
oben, der in das Haus gehörte? Bradſhaw beſchloß, fid ohne 
Weiteres darüber Gewißheit zu verichaffen, und Flopfte auch 
raſch an die Mittelthür an. 

„Ber, zum Teufel, ift draußen?‘ lautete die eben nicht 
befonders gaftlihe Antwort als Gegenfrage; Bradſhaw aber, 
dem ed genügte, daß er da drinnen Jemanden wußte — wie 
der Empfang war, blieb fih ja vollkommen gleih —, öffnete 
die Thür und fand fich einem Individuum gegenüber, das in 
Hemdzärmeln und dunfeln Tuchbeinkleidern in einer Hänge: 
matte jhaufelte und ftatt der früheren Havanna-Cigarre aus 


90 


is kurzen, ſchwarzgebrannten Thonpfeife ſchlechten Tabak 
tauchte. | 

„Hallo!“ rief der Liegende, indem er fi in feiner Hänge: 
matte erftaunt und halb aufrichtete, denn da die Reiter durch 
die niedergebrochene Fenz des Hofraums hereingefommen waren, 
hatte er ihr Nahen gar nicht gehört, und jebt wahrſcheinlich 
erwartet, einen der noch zurüdgebliebenen alten Neger ein: 
treten zu fehen. Die aber ſuchten ihn natürlich nur auf, 
wenn fie etwas von ihm erbetteln wollten. „Wer feid Ihr, 
Fremder, und wo fommt hr her?“ 

„Smigrant, Sir!’ fagte Bradiham, indem er in's Zimmer 
trat und die Thür Hinter fich ſchloß. „Sind Sie der Eigen 
thümer des Plabes ?' 

„Isa, Sir!!! erwiderte Cornhilt, indem er aber doch jett 
aufiprang, denn der Fremde benahn fih, feinen Anfichten 
nad, faft ein wenig zu ungenirt — „und Ihr Name?’ 

„Bradſhaw aus Alabama.‘ 

„Aus Mabama? Aljo ein Südländer.“ 

‚Allerdings,‘ nidte der’ junge Mann, „hab’ e8 ſatt da 
drüben und will mir wieder ein freies Land ausſuchen.“ 

„nm — alfo fein — hielt Euch anfangs für einen 
Yankee,‘ fagte der Pflanzer, aber noch immer mißtrauiſch — 
„Seid Ihr allein ?’' 

„Allein? Damn it — nein!” lachte Bradſhaw — 
„Sure Nachbarſchaft Hier hat einen zu ſchlechten Ruf in den 
Staaten, al3 daß fich ein einzelner Reiſender hier herein wagen 
ſollte. Wir find unfere elf Mann, die fih zufammengethan, 
um eine gute und bequeme range zu finden, und bringen mir 
das fertig, jo bauen wir uns erjt eine Anzahl Blodhütten 
und holen dann die Frauen nach.‘ 

„Hm — und wo find Eure Gefährten 2 | | 

„Hier im Hof — das Wetter ſetzte jo heidenmäßig ein, 
daß wir ein Unterfommen fuchen mußten, und ich bin nur ein 
wenig recognogciren gegangen, um zu fehen, ob wir irgendwo 
etwas zu efjen finden könnten.“ 

„Da möchte id) mit Euch gehen,‘ lachte der Cigenthümer 
des Plabes finfter vor fi Hin, „denn die neue Politik unſeres 
gefegneten Landes hat aus den reichiten Leuten defjelben jo im 


591 


Handumdrehen Bettler gemacht, daß wir Hier nicht einmal 
mehr genug zum Leben übrig behalten haben.“ 

„Und giebt’s fein Wild in der Gegend?’ 

„Wilde Gänfe und Enten genug —- gleich dicht bei in 
dem einen alten Baummwollenfeld Liegen jebt vielleicht ein paar 
tauſend Gänſe.“ | 

„Hm,“ fagte Bradſhaw — „milder Gänfebraten ift gerade 
nicht meine Leidenſchaft, denn erwiſcht man eine alte, fo fol 
fie der Teufel kauen, aber ehe wir unfer Wenige an 
Provifionen aufzehren, können wir doch einmal den Verſuch 
machen. ch werde ein paar von unferen jüngften Kameraden 
auf die Jagd ſchicken. Wohinaus zu liegt das Feld?’ 

„Wenn Ihr einen von den „farbigen Gentlemen‘ bewegen 
könnt, es Euch zu zeigen,’ fagte der Pflanzer bitter, „ſo hat 
ed Feine Schwierigkeit, aud an die Gänſe anzukommen. Die 
Nigger find aber plöblich jo verdammt vornehm gemworden, 
daß es ſchwer halten wird — 8 iſt hübſch jebt hier im 
Süden!" 

Bradfham zudte mit den Achſeln. „Was iſt zu machen, 
der Norden Hat einmal die Gewalt und braucht fie — aber — 
was ih noch fragen wollte — giebt's hier nicht3 zu trinken?“ 

„Waſſer genug, brummte der Pflanzer, „aber fonft 
nichts — meinen Keller haben mir die fchwarzen Beitien 
gründlich ausgeräumt. Hätte ih nur ein paar Dutzend 
Flaſchen Gift drin liegen gehabt, dann wäre ihnen doch das 
Handwerk gleich gelegt gewejen — einer meiner Befannten 
hat e8 fo in Miſſiſſippi gemacht. — 

„In der That?" jagt Bradſ ham, „und wie hieß der 
Ehrenmann?“ 

Der Pflanzer warf ihm einen finſtern Blick zu. — 
„Kümmert Euch der Name?“ ſagte er. 

„Nicht im Geringſten,“ lachte der junge Mann — „es 
war nur eine eben hingeworfene Frage — alſo auf Wieder— 
ſehen, Miſter — will nur die Jäger auf die Fährte ſetzen,“ 
und damit verließ er das Gemach, um ſeinen Leuten die 
nöthigen Befehle zu geben. 

Dem Pflanzer war es aber auch zu ſchwül im Zimmer 
geworden. Dem Bericht des Fremden nach hatte ſich eine 


592 


Anzahl von Leuten auf feinem Grund und Boden eingefunden, 
und er mußte doch wenigitend einmal nachjehen, was jie 
trieben — trauen durfte man ja in der jebigen Zeit Keinem 
mehr. 

n Leute, die er unten traf, ſchienen fih aber gar nicht 
um ihn zu kümmern. Gie waren noch aus der lebten Zeit 
des Kriegslebens gewohnt, daß fie von jedem Haufe, was fie 
erreichten, eben Beſitz ergriffen und natürlih nicht erft um 
Erlaubniß zu fragen brauchten. Sie hatten fi in den vor: 
gefundenen Gebäuden ſchon häuslich eingerichtet — fo weit es 
nämlid die Umjtände erlaubten: in der Küche loderte ein 
mächtiges Feuer, denn Balken der eingeriffenen Gebäude lagen 
noch genügend umher, und an dem trodneten fie nicht allein 
die naßgewordenen Jacken, jondern hatten auh Töpfe mit 
Waſſer angefet, um einem möglichen Zuflug von Xebens- 
mitteln raſch gerecht werden zu können, wenn ihnen das Glück 
nämlich etwas Derartiges wirklich in den Weg warf. 

Einen der Negerjungen, die fie noch bei den alten Negern 
vorfanden, überredeten fie dabei auch wirklich — natürlich 
dadurch, daß fie ihm eine Belohnung verſprachen — fie zu 
dem Baummollenfeld zu führen, wo es jo viel Wild geben 
follte, und die Zurückbleibenden hatten Schon in der früheren 
Küche und unweit des Feuers ihre Deden ausgebreitet und 
fih behaglic darauf ausgeſtreckt. 

Der Regen ließ indeß ein wenig nad. Er kam überhaupt 
Heute nur in, aber ziemlich heftigen, Schauern nieder, und da— 
zwijchen zeigte jih dann und wann einmal wieder ein 
Streifen blauen Himmeld. Die Jäger waren ausgezogen, 
und Bradſhaw hatte fich indefjen wieder dem Cigenthümer 
der Plantage angejchloffen, der hier ein ganz eigenes Leben 
frijtete. Er erzählte dem Fremden auch jebt, daß er nur auf 
einen Mann warte, der verjprochen habe, ihm feine Plantage 
abzufaufen, feine Familie hätte er indefjen nach Little Rod 
gebracht und wolle fie dann jpäter wieder abholen, 

„Apropos,“ febte er dann hinzu, „ſollte denn nicht neu: 
li einmal wieder eine Truppenmacht gegen die fabelhafte 
Räuberbande abgehen, von der fie behaupten, daß fie hier in 
der Gegend hauſe?“ 


993 


„Ah was!" ſagte Bradſhaw — „es glaubt dort Fein 
Menih mehr daran, denn die ift jedenfalls zeriprengt und 
nah Mexiko hinunter getrieben. Hat fie denn überhaupt 
exiſtirt?“ 

Der Pflanzer lachte. „Wenn Ihr vom Süden ſeid,“ 
ſagte er, aber immer noch mit einem forſchenden Blick auf 
den Fremden, „ſo habt Ihr von der nichts zu fürchten und 
könnt ruhig Eure Straße ziehen.“ 

„Oh damn it,“ brummte Bradſhaw — „von Fürchten iſt 
überhaupt keine Rede, aber nach dem, was Ihr mir da eben 
ſagt, kommt's mir beinahe ſo vor, als ob Ihr ſie noch immer 
in der Nähe glaubtet.“ 

„Und was kümmert's uns?“ brummte der Pflanzer — 
„die Yankees mögen ſich ſelber Luft ſchaffen, wenn ſie können. 
Hol' ſie der Teufel, wir ſollen da am Ende wohl gar noch 
Polizei für ſie ſpielen!“ 

„No — fiele mir auch nicht ein,“ erwiderte Bradſhaw 
trocken, „aber der Henker traue trotzdem; woher wollen die 
Schufte wiſſen, ob ein Mann aus dem Süden oder Norden 
ſtammt, und bei der Gelegenheit ſchießen ſie Einem am Ende, 
nur aus Verſehen, eine Kugel durch den Pelz.“ 

Der Pflanzer lachte. „Wenn das die Yankees abhält, zu 
uns hier herunter zu kommen,“ ſagte er nach einer Weile, 
„deſto beſſer; wir können ſie hier ſo nicht gebrauchen und 
wollen nichts von ihnen wiſſen.“ 

„Aber Räuberei iſt doch keine ehrliche Kriegführung!“ 
meinte Bradſhaw. 

„Und haben's die Yankees im Süden etwa beſſer gemacht?“ 
rief Cornhilt heftig, „hol' ſie der Böſe — ſie ernten nur, 
was ſie geſäet, und dürfen ſich wahrhaftig nicht darüber 
wundern, wenn's ihnen da und dort wieder heimgezahlt wird!“ 

„Und wie ſtark iſt die Bande wohl?“ fragte Bradſhaw 
ruhig — „und bejteht fie wirklich noch?“ 

„Wie ſtark?“ erwiderte der Pflanzer mit einem Teifen, 
faum bemerkbaren Lächeln — „ja, wer fol das fagen? 
Einige behaupten, es wären hundert Mann, Andere wollen 
ſchon über Hundertfünfzig zufammen gejehen haben, und in 
dem Dickicht drin — wer will ihnen beifommen? Nein, dag 

Gr. Gerjtäder, Erzählungen ꝛc. 38 


94 


find unfere Grenzwächter, die wenigitens Texas von dem 
verdammten nordilchen Gefindel freihalten.‘’ 

Während die Männer mitfammen fpradhen, waren fie an 
einer Stelle ftehen geblieben, an der eine ‚alte Negerin zu= 
fammengefauert jaß und nur leife und in einem fort vor 
fih hin mit dem Kopfe nickte. Der Pflanzer achtete natür- 
lich nicht auf fie, gehörte fie Doch zu den wenigen Unglüdlichen, 
denen die neugeſchenkte Freiheit nicht zum Heil, fondern zum 
Fluche ward. Denn dieje hätten müflen, wo fie ihr ganzes 
langes Leben mit fchwerer Arbeit verbracht, jetzt von ihren 
Herren bis zum Tode erhalten werden, denn fie blieben 
fein Eigenthum. 

Bradſhaw hatte, während der Pflanzer ſprach, den Blick 
ohne befonderes Intereſſe auf die alte rau geheftet, als dieſe 
plöslih ihr Auge zu ihm auffhlug und ihn mit einem ganz 
jonderbaren Ausdrud in den Zügen anſchaute. Es war 
freilih nur ein Furzer Moment, aber er genügte, um den 
jungen Mann aufmerkffam zu machen. Mit nicht? als jeinem 
Plan im Kopfe, eben diefer Bande auf die Spur zu fommen, 
bezog er auch Mes nur auf diefen Punkt. Er wußte aber 
auch recht gut, daß er jebt, und in Gegenwart ihres früheren 
Herrn, feine Frage an die Alte richten durfte, und verfolgte 
deshalb mit diefem ruhig feinen Weg. 

Wohin fie aber famen, trafen fie auf Verwüſtung — 
feindliche Truppen hatten auch diefen Drt berührt und, mie 
ed ſchien, arg gemirthichaftet, und da auch jebt ein neuer 
Negenihauer feine VBorboten in ſchweren Tropfen zur Erde 
jandte, wandten fie fich wieder in das Haus zurüd, 

Da fnallten draußen, in kurzen Zmifchenräumen, drei 
ſcharfe Schüffe rajch hintereinander, denen bald danach noch 
ein vierter folgte, und gleich darauf hörten fie ein wahrhaft 
indianifches Jubelgeheul, daS die glüdlichen Jäger ausſtießen. 
Sie mußten Beute gemacht haben, und ihre zurücgebliebenen 
Kameraden hörten da3 faum, als fie ſämmtlich aus der Küche 
herausfuhren und den Schrei jo erfolgreih beantworteten, 
daß die alten Neger entjeßt aus ihren Hütten krochen — ſollte 
dein neues Elend über fie hereinbrechen? — Aber Heute galt 
es einen Feittag für fie, denn nach kaum einer halben Stunde, 


399 


als der furze Schauer vorüber war und die Sonne eben nod) 
vor Untergehen einen Scheideblid auf die fattfam getränfte 
Erde warf, Eehrten die Jäger, mit zwei Hirfchen beladen, 
von denen fie ein ganzes Nudel in dem Baummollenfeld an- 
getroffen, zurüd, und der Jubel war jebt allgemein — jelbit 
der Pflanzer zog ein freundliches Gefiht, denn auch bei ihm 
war in der lebten Zeit Schmalhand Küchenmeijter gemefen, 
und die alten und Franken Neger krochen Scheu herbei, und 
trauten fih doch nicht heran, denn fie wußten, daß fie, als 
Ueberbleibjel der von den Weißen verachteten Race, hier das 
Recht, das fie wirklich zugeftanden befommen, nicht geltend 
machen durften. 

Die Jäger erzählten jebt. Sie hatten das alte Baumes 
mwollenfeld glüdlih und ungefehen erreicht, fanden fich dort 
aber plößlih in einem folden Schwarm von Wildgänfen, 
daß fie gar nicht wußten, wohin fie ſich zuerſt wenden jollten. 
Ein paar einzelne ftanden allerdings ſchon in Schußnähe, 
aber fie Hofiten alle miteinander zugleih zum Schuß zu 
fommen und jSlihen zu dem Zweck gerade in das Feld 
hinein und an der Fenz Hin, als plötzlich aus dem in 
den Jahren hoch emporgewucherten Unkraut, mit alten Baum: 
wollenpflanzen untermifcht, ein Rudel Hirfche von meit über 
hundert Stüd vor ihnen flüchtig wurde, ſchräg ab gegen eine 
niedere Stelle der Fenz brah und dort mit gewaltigen 
Sprüngen hinüberfeßte, um den Wald zu gewinnen. Die 
Jäger aber, alle ohne Ausnahme richtige Backwoodsmen, die 
allerdings nie das Wild im Lauf mit der Kugel treffen, 
hatten den Moment benust, wo die Hirfche vor der Fenz 
hielten, fi auf die Hinterläufe hoben, und dann mit einem 
Sab hinüberflogen. Sowie fie’ ihnen ein feites Biel gaben, 
drüdten fie ab und trafen jo glüdlich, daß zwei der Hiriche 
gleich im Feuer blieben. — Zwei Jäger hatten auf einen 
Hirſch gemeinschaftlich geſchoſſen — aber auch der dritte mußte 
die Kugel ebenfalls gut befommen haben; er war nur nod) 
eine Strede flüchtig fortgegangen, und der eine Jäger jetzt 
mit dem Jungen auf der Schweißfährte nad). 

Das gab Leben auf dem fonft fo ftillen Hofe, und Die 
Fremden zerlegten das eine Stück Wild augenblidlih, um vor 

38* 


596 


allen Dingen ihre Mahlzeit daran zu halten. Nur der ganze 
vordere Theil des Hirfches blieb übrig, und Mr. Cornhilt 
machte den Vorſchlag, ihn in eine Art von Fellerartigem Ver— 
ſchlag zu Ichaffen, den er unter dem Haufe Hatte, damit fich 
das Fleiſch dort vielleicht einige Tage hielte. Bradſhaw aber 
widerfprah dem. „Oh damn it, Sir, jagte er, „das arme 
Niggergefindel liegt da herum wie eine Meute halbverhungerter 
Hunde.‘ 

‚Dann laßt fie die Knochen abnagen, wie e8 Hunden zu: 
kommt,“ brummte finfter der Südländer — der Andere aber 
Ihüttelte mit dem Kopfe. „Nein,“ fagte er, „wir haben Ueber: 
fluß, und da fol fein Anderer daneben darben, und wenn e3 
ein Nigger wäre. Hier, Du Alte, fomm einmal her — 
da — das ift für Euch — habt Ihr Salz?" 

„Nicht ein Korn mehr, Maſſa,“ jtöhnte die alte Frau — 
„ſchon ſeit Monaten.‘ 

„Heda, Mills — wie ſteht's mit unſerem Salz? Können 
wir der Alten ein wenig abgeben?“ 

„Denke ja, wenn's nicht zu lange dauert, bis wir wieder 
friſches kriegen.“ 

„Ihr ſeid ja verdammt —— mit dem Geſindel,“ 
ſagte Cornhilt finſter — „jabt Ihr das in Alabama ge 
lernt?“ und wieder warf er einen mißtrauiſchen Blick über 
die ganze Truppe. Bradſhaw aber achtete gar nicht auf ihn. 
„Es ſind doch immer Menſchen,“ ſagte er, und gierig fielen 
indeß die Unglücklichen über das Fleiſch her, an dem ſie doch, 
nach langer ſchwerer Zeit, wieder einmal eine ordentliche 
Mahlzeit halten konnten. 

Wieder ſetzte jetzt der Regen ein, aber was kümmerte 
das die Reiſenden! Sie befanden ſich unter Dach und Fach 
mit genügenden Lebensmitteln, um bier im ſchlimmſten Fall 
Tage lang auszuhalten. Das dritte Stüf Wild war noch eben- 
falls eingeliefert worden, und bei einem fnifternden euer in 
der Küche verbradten fie unter Lachen und Plaudern den 
Abend. Bradfham hatte fi) übrigens den Kameraden an- 
geſchloſſen, da ihm die Geſellſchaft des Pflanzers einentheils 
nicht gefiel, und er felber auch nicht den Verdacht in ihm 

weden wollte, der Führer oder Befehlshaber einer ihm unter: 


997 


geordneten Truppe zu fein. Er traute dem Burſchen nicht, 
und die Art und Weile, wie er die unglüdlichen Menfchen 
behandelte, die doch nur für ihn den größten Theil feines 
Lebens gearbeitet, gefiel ihm eben fo wenig. Daß der Pflanzer 
übrigens die Yankees hate, verdachte er ihm nicht. — Lieber 
Gott, das war leicht erflärli, denn durch die Freiſprechung 
der Sclaven hatten fie ihn ruinirt, fie durften eben feine Liebe 
erwarten, wo fie Haß geſäet — und erwarteten fie nicht. 
Das bittere Gefühl der Demüthigung und eigenen Berluftes 
mußte erft der Zeit weichen, und einer fpäteren Generation 
blieb es vorbehalten, die jebt noch frifchen und blutenden 
Wunden zu heilen und vernarben zu fehen. 


2. 
Unterwegs. 


Die Nacht verging ruhig — die Leute, an Strapazen ges 
wöhnt, jchliefen hier in ihren wollenen Deden und auf dem 
harten Boden fo fanft, als ob fie in den weichſten Betten ge= 
legen hätten, und mit der Morgendämmerung, denn der 
Himmel Hatte fi wieder aufgehellt, waren auch ſchon Zwei 
von ihnen draußen, um die Pferde einzutreiben, während die 
Anderen daran gingen, das Frühftüd für die ganze Truppe 
herzuſtellen. 

Bradſhaw war durch den Hof gegangen, um dort noch 
vielleicht etwas alten Baſt oder Seile zu finden, mit denen ſie 
das Wildpret, das ſie mitnehmen wollten, hinten auf ihre 
Sättel anſchnüren konnten. Als er an der einen Hütte vor— 
beiſchlenderte, ſah er die alte Negerin vorn darin ſitzen und 
wollte eben mit einem flüchtigen Gruß vorüber, als er be— 
merkte, daß ihm dieſe raſch, aber geheimnißvoll zuwinkte. 

„Nun, alte Frau,“ lachte er, indem er aber doch vor der 
Thür ſtehen blieb — „was iſt's? Habt Ihr mir 'was zu 
ſagen?“ 


598 
„Kommt herein!’ flüfterte aber die Alte — „Maſſa leidt's 
nicht, daß wir mit Budras reden.” 
„Sr kann e8 Euch nicht mehr verwehren.’’ 


„Kommt herein,‘ bat aber nochmals die Alte — „Ahr 
geht fort, und wir bleiben hier, weil wir alt und ſchwach 
find und nicht fort können. ‚Er behandelt uns ſo ſo ſchlecht, 
kommt herein! | 

„Und was wollt Ihr von mir,” fagte Bradſhaw, indem 
er aber doch ihrer Aufforderung Folge leiftete — „ein Stüd 
Tabak? Ich bin ſelber knapp damit, aber da ift noch ein 
Stückchen, da jtopft Euch eine Pfeife.‘ 

Die Alte griff gierig nah) dem fo lang entbehrten Genuß, 
aber faßte zugleich des jungen Mannes Hand und jagte da— 
bei leije und ſcheu: „Gott vergelt’3! Aber 'was Anderes wollt’ 
ih Euch jagen, und viel Zeit bleibt mir nicht, denn Maſſa 
Ipürt überall umher und kann jeden Augenblid kommen. 
Wißt Ihr no, wovon Ihr geitern mit Maſſa ſpracht?“ 

„Geſtern? Ja, Du lieber Gott, ich habe viel mit ihm ge— 
ſprochen.“ 

„Aber von der Räuberbande — wißt Ihr nicht?“ 

„Von der Räuberbande?“ rief Bradſhaw, aufmerkſam 
werdend. 

„Bſt — nicht ſo laut,“ warnte aber die Alte, „braucht 
Niemand zu wiſſen, von was wir hier reden — ſucht Ihr 
die Räuber?“ 

Bradſhaw ſah ihr einen Moment überraſcht und unſchlüſſig 
in das zu tauſend Falten gezogene Antlitz, in die kleinen 
ſchwarzen, aber lebhaft zwinkernden Augen — aber von der 
Frau hatte er keinen Verrath zu fürchten, ſo viel fühlte er im 
Nu, und raſch entſchloſſen mit dem Kopfe nickend, erwiderte 
er: „Ja — wißt Ihr von ihnen?“ 

Die Alte antwortete nicht gleich. Wie eine Schlange glitt 
ſie zur Thür und ſteckte den Kopf hinaus — aber die Luft 
war noch rein — ſie konnte Niemanden erkennen, und ſich 
jetzt zu dem jungen Manne wendend, flüſterte ſie mit raſcher, 
aber immer noch vorſichtig gedämpfter Stimme: „Ja!“ 


„Und wo ſind ſie?“ frug Bradſhaw und war nicht mehr 


399 


im Stande, das nterefje zu verbergen, das er an der Ant- 
wort nahm. 

„Sie?“ jagte die Alte verächtlid — „Maſſa lügt, wenn 
er meint, daß e8 Hundert wären — ein Mann iſt's — 
ein böſer, jtarker, blutgieriger Mann, und meinen Sohn hat 
ev auch erſchlagen — des Himmels Fluch über iin —“ 
ee ‚Und wo hauft er?" frug Bradſhaw raſch, denn jebt 
fürchtete er jelber eine Störung. 

„Nicht weit von hier,“ flüfterte aber die Fran zurüd — 
„in einer Stunde könnt Ihr's bequem reiten — mein Enfel 
jol Euch führen, der Knabe, der geftern mit den Männern 
auf der Jagd war — aber er muß zurüd, wenn Ihr in die 
Nähe Fommt. — Er mordet alle Neger und Yankees —“ 

„Bir find aber elf Mann —“ 

‚Wenn Jhr Alle geht, findet Ihr ihm nie,‘ mahnte die 
Frau — „ver Teufel Hilft ihm, und er ift ſchlau wie ein 
Panther.“ 

„Aber wird Dein Maſſa den Jungen mitlaſſen?“ 

Wann geht Ihr fort?“ 

„In einer halben Stunde etwa.“ 

„Er ſoll draußen Eurer harren — es führt nur ein 
Weg in's Innere, den Ihr allein nehmen könnt.“ 

„Euch geht's ſchlecht hier, Mütterchen,“ ſagte Bradſhaw, 
indem er den Blick in dem öden, troſtloſen Raum umherwarf. 

„Das weiß Gott, daß es uns ſchlecht geht,“ ſtöhnte die 
alte Frau, und ein tiefer Seufzer hob ihre Bruſt, „und wenn 
nicht mein Enkelkind bei mir geblieben wäre, läge ich jetzt 
ſchon verhungert in der kalten Erde. — Der weiße Teufel hat 
mir den Sohn gemordet, den einzigen Sohn, und ich altes 
unglückliches Geſchöpf kann jetzt nicht leben und nicht ſterben.“ 

Bradſhaw griff in die Taſche. „Könnt Ihr für Geld 
hier irgend 'was bekommen?“ frug er dabei, 

„Wenn der Junge zum Ned River läuft,’ jagte die Alte, 
„verfauft uns der Mann da drüben Mais — aber wer von 
uns Allen hat auch nur einen Gent im Vermögen!“ 

„Hier ift vor der Hand ein Silberdollar,‘' jagte der junge 
Mann, „finde ih den Verbrecher, fo nehme ih Euch mit hin- 
über nad Little Rod, wo Ihr Hülfe finden könnt — da — 


600 


fauft Euch Lebensmittel dafür — es kommen auch einmal 
wieder beſſere Zeiten.“ 

„Oh, Gott vergelt Euch, was Ihr an mir armen alten 
Frau thut!“ rief die Alte, und die Thränen ſtürzten ihr aus 
den Augen. Sie verſuchte auch, Bradſhaw's Hand zu faſſen, 
dieſer zog ſie aber raſch zurück und wollte eben die Hütte 
verlaſſen, als eine andere Geſtalt die Thür verdunkelte. Es 
war Cornhilt, der ſich aber der Begegnung nicht beſonders 
zu freuen ſchien und mit finſteren Blicken den Weißen be— 
trachtete. 

„Ihr ſucht Euch eine wunderliche Unterhaltung, Fremder,“ 
ſagte er mit zuſammengezogenen Brauen. „Wenn Ihr wirk— 
lich aus Alabama ſeid, müßt Ihr doch wiſſen, daß man das 
auf den Plantagen ſonſt nicht eben beſonders gern ſah.“ 

„Lieber Gott,“ ſagte Bradſhaw lächelnd, „die Zeiten haben 
ſich in den letzten Jahren ſo geändert, daß man der alten 
guten Sitten faſt ganz entwöhnt geworden iſt. Der Alten 
hier geht's aber ſchlecht, und ich gab ihr etwas Geld.“ 

„Und verdienen das die Beſtien?“ ſagte Cornhilt mit zu— 
ſammengebiſſenen Zähnen. 

„Nun, Miſter,“ meinte Bradſhaw, „die Alte-hat nicht 
mitagitirt, darauf könnt Ihr Euch verlafien. Ihr iſt auch 
die Freiheit kein gewonnenes Gut, ſondern eine unverdiente 
Strafe. Doch wir müſſen unſer Frühſtück eſſen,“ unterbrach 
er ſich ſelber, indem er mit Cornhilt über den Hof zurückſchritt, 
„und dann aufbrechen. Das Wetter hat ſich aufgeklärt, und 
ich möchte aus den Red River-Sümpfen hinauskommen und 
hohes Land erreichen, ehe der Fluß wieder ſteigt und die ganze 
Niederung unter Waſſer ſetzt. Es wird ſo naß und ſchwam— 
mig genug im Wald draußen ſein, und eine geebnete Straße 
finden wir wohl außerdem nicht.“ 

„Es führt ein ziemlich betretener und auch hier und da 
an den Bäumen gemarkter Pfad nah Südweſten zu,“ ſagte 
der Pflanzer, noch immer nicht in befter Laune — „Ihr könnt 
ihn nicht gut fehlen — und wenn auch — hr feid an den 
Wald gewöhnt, und an Verirren ift doch nicht zu denken.’ 

„Nein,“ lachte Bradiham, „das allerdings nicht — aber 
wollt Ihr mit uns frühftüden, Sir?“ 


® 


601 


„Danf Euch,” lehnte Cornhilt die Einladung ab — „ich 
babe ſchon meinen Kaffee getrunfen und efje erjt ſpäter,“ und 
ohne fich weiter um die eben nicht befonders willfommenen 
Säfte zu kümmern, ſchritt er in feine eigene Wohnung zurüd, 

Bradſhaw ging indefjen zu feinen Leuten hinüber und 
theilte ihnen in flüchtigen Worten mit, welche Nachricht er 
eben erhalten. Sie befanden fi demnach unmittelbar vor 
ihrem Ziel, und Alles ſchien ſich leichter und rascher zu ge 
ftalten, als fie gehofft. Nur Vorſicht mußten fie gebrauchen 
und fi) vorher einen richtigen Feldzugsplan ausarbeiten. 
Das aber konnte faum eher gejchehen, als fie das Terrain 
felber erreichten, und je früher fie jebt dorthin kamen, deſto 
befjer. Die Leute machten fih auch mit beitem Willen über 
die faftigen Stücke am Steden gebratenen Wildprets herz 
ihre Kleinen Kaffeefannen, immer für drei Mann, führten fie 
außerdem bei fih. Die Pferde waren indefjen ebenfalls ein- 
getrieben und hatten die Nacht über in vortrefflicher Weide 
geftanden, jo daß fie jebt wohl einen längeren Ritt aushalten 
fonnten, und etwa eine Stunde jpäter faß der Heine Zug 
wieder im Sattel — aber nicht etwa colonnenartig, fondern 
Bradiham mitten zwifchen feinen Leuten. 

Cornhilt war heraudgefommen, um fie abreiten zu ſehen. 
Die wenigen alten Negerinvaliden ftanden um fie her und 
dankten den Weißen mit thränenden Augen, denn diefe hatten 
ihnen noch den halben, leßteingebrachten Hirſch gejchenft. 

„Halo, Sir!“ rief Bradfhaw, als er ihn kommen ſah — 
„die Hirichkeulen Hier möchten wir Ihnen für Unterfommen 
da laſſen — das Andere haben wir Ihren Leuten gegeben, 
denn die armen Teufel ſehen verhungert genug aus — und 
nun — melde Richtung müflen wir nehmen, um den Pfad 
zu erreichen? Es liegt bier Alles fo wild durdeinander, daß 
man fih faum zurecht findet, bis man erft einmal außerhalb 
der Axtſpuren iſt.“ 

„Wenn Ihr hier gerade hinausreitet und Euch dann 
rechts haltet, könnt Ihr den Pfad nicht verfehlen — Ihr 
müßtet nur darüber wegreiten, denn beſonders deutlich iſt er 
hier in der Nähe nicht, weil ihn das Vieh früher zertreten 
hat.“ 


602 


„Denn ih Euch nicht zu langſam gehe, Gemmen *),‘ 
jagte da die Alte, die ebenfalls herbeigehumpelt war, „ſo 
will ih Euch bis zum Pfad bringen.’ 

„Wo ift denn der Junge?” rief Mr. Cornhilt umherſchau— 
end — „wo ſteckt der Schlingel? — ich brauche ihn.’ 

„Er iſt hinausgegangen, Maſſa,“ jagte die alte Frau de: 
müthig, „um mir ein wenig Laub aus dem Walde zu Holen, 
daß ich nicht mehr die Naht auf der harten Erde zuzubringen 
brauche — er wird gewiß gleich wieder fommen — jegne 
Eure Seele!’ 

Der Pflanger murmelte ein paar Worte in den Bart, die 
nichts weniger als der Ermwiderung eines Segens glichen, 
dann wandte er fih ab und ſchritt, mit einem kurzen good 
bye gegen die Fremden, in dad Haus zurüf. Cr war froh, 
die ihm unangenehmen Leute 108 zu werden. 

Der Kleine Zug kümmerte fich indefjen wenig genug um 
den mürrifchen Batron — fie hatten feines Gleichen oft genug 
im innern Land gefunden und gönnten ihm feinen Groll — 
hatte er fih doch ein Recht dazu erworben. Langſam aber, 
die Thiere feſt im Zügel, folgten fie der alten Negerin, die 
ihnen über dag Grundſtück voranſchlich, Bis fie in den Pfad 
traf, der hinein in das zum großen Theil noch wüſte, wilde 
Land führte. 

„So, Gemmen,“ jagte fie hier — „jebt könnt Ihr nicht 
mehr fehlen — die Fährten führen direct hinüber in die Sett- 
lements, aber“ — fette fie fcheu Hinzu und warf jelbit hier 
den Blick zurüd, als ob fie fürchte, daß ihr Mafla fie belaufchen 
fönne — „wenn Ihr den Jungen draußen trefft und er Euch 
den Weg gezeigt hat, ſchickt ihn zurüd! Um Gottes willen, 
Gemmen, ſchickt ihn zurüf! Ich habe den Sohn durch jenen 
furchtbaren Menſchen verloren, und wenn er mir den Enkel 
auch tödtet, jo muß ich arme alte Frau rettungslos verderben.‘ 

„Habt feine Furcht, Mütterchen,“ nidte ihr Bradſhaw 
freundlich zu, ‚dem Jungen fol nichts gejchehen, dafür bürge 
ih Euch mit meinem eigenen Leben. Und nun fort, Kame— 
vaden, denn mir fängt e8 an in den Gliedern zu zuden, daß 


*) Abbrev. für „Gentlemen“. 


603 


wir erjt einmal Arbeit bekommen,“ und nur mit einem kurzen 
Kopfniden gegen die Negerin jebte er feinen Thier die Spo- 
ven ein, und fort flog der kleine Trupp über den waldigen 
Pfad, dag das gelbe, feit langen Jahren dort liegende Laub 
weit Hinter ihnen ausftob. 

Eine halbe Stunde mochten fie etwa jo dahin getrabt 
fein, als Bradſhaw's Pferd plöblich zur Seite flog, und zwar 
mit einem jo unerwarteten Sab, daß der Reiter faum den 
Sattel behaupten fonnte. Dor ihnen aber, aus der Wurzel 
eines alten Baumes heraus, kroch Sip, der Kleine Negerburſch, 
der jo verftedt zwifchen den dunfeln braunen Ausläufern des 
Baumes gelegen, daß ihn felbit dad geübte und ſcharfe Auge 
des Jägers nicht erkannt hatte. 

„Halo! mein Junge,‘ rief Bradihaw, als er nur fein 
erichredtes Thier erjt wieder beruhigt jahb — „Du haft wohl 
die Zeit über unter der Erde gelegen, denn wie ein Maul- 
wurf Friehft Du da in die Höhe.’ 

Der Knabe erwiderte anfangs fein Wort. Nur den Finger 
legte er an die Tippen als ein Zeichen, daß der Weiße nicht 
jo laut reden ſolle, dann fagte er leiſe: „Reitet nad) Klein 
Stüfhen Sonne — dann führt diefer Weg grad’ aus — 
rechts ab aber geht ein anderer, breiterer, und Bäume find 
umgehadt — der führt auf weißen böjen Mannes Hütte zu. 
Budra hat die Bäume gezeichnet, daß die Leute glauben follen, 
gemarkter Weg führe in das Land hinein — good bye — 
Sip geht heim!’ 

„Halt, mein Burfche,‘‘ rief aber Bradihaw, wenn aud) 
jebt jelber mit etwas unterdrüdter Stimme, als der Fleine 
Busfhe, an ihnen vorüber, duch den Wald gleiten wollte, 
„halt Du jenen Gentleman ſchon einmal mit eigenen Augen 
gejehen 2" 

Sip, der ftehen geblieben war, nidte bedeutungsvoll mit 
dem Kopfe, 

Vo?“ 

„Als er meinen Vater mit der Büchſe todtſchoß.“ 

„Du warſt dabei?“ 

„Ja, Maſſa.“ 

„Und wie ſah er aus?“ 


604 


„Sroßer, Starker Mann — ſchwarzen Bart und ſchwarzes 
lofiges Haar und ſchwarze böfe Augen.‘ 

„Und fonft fann man ihn an nichts erkennen ?’' 

„An den Augen, Maſſa,“ jagte der Kleine ſcheu. „Unter 
Menge Budras wollte ich ihn heraus erfennen, und wenn 
ih nihts in der Welt als nur die Augen ſähe. Sie find 
fo ſcharf wie Meſſer.“ 

„Hm,“ brummte Bradiham, „das find verteufelt fchlechte 
Erfennungszeichen, denn Augen Hat ein Jeder, und ob fie ein 
wenig mehr oder weniger blißen, darauf hin kann man feinem 
Menihen eine Kugel durch den Kopf ſchießen. Wie heit er?“ 

„God knows, Maſſa,“ fagte der Fleine Burfche achſel— 
zudend, „hat fo viele Namen wie Tage im Monat, bald jo, 
bald jo — Sagt feinem Menfhen die Wahrheit — Tügt 
immer — aber good bye — Sip geht heim —“ Und damit 
ſchoß er jebt wirflihd — und wahrscheinlich einen etwas näheren 
Meg nehmend, mitten in den Buſch hinein. 

Bradſhaw fühlte auch wohl, daß er aus dem Negerjungen 
nichts weiter heraus befam, als was er freiwillig erzählt 
hatte — er wußte eben nicht mehr, und es mußte ihnen num 
felber überlafjen bleiben, die Spur des Verbrechers wie diejen 
felber aufzufinden. Schweigend verfolgten die Reiter auch von 
da an noch eine Strede lang ihren Weg, aber feiner dachte 
auch nur daran, zu reden, denn aller Augen fchweiften nach 
rechts und links vom Wege ab, um dort au nur das ge 
ringfte Lebende zu erkennen. Nur erft, als fie die bezeichnete 
Stelle mit den angemerften Bäumen erreichten und dort gerade 
in dem rechts abführenden Wege ein Rudel Wild ent- 
dedten, fühlten fie fich beruhigt, daß fie nicht beobachtet fein 
fonnten. Das Wild hätte fi) dort nie jo ruhig geäft, wenn 
furz vorher ein Menſch den Pfad herabgefommen wäre. Der 
Inſaſſe jener Hütte konnte auch deshalb Feine Ahnung von 
ihrer Nähe Haben, und jo mochten fie jebt ruhig berathen, 
was nun am beſten zu beginnen wäre. 

Als ſie hielten, zog ſich das Wild allerdings ſcheu zurück, 
aber keiner von all' den Jägern achtete darauf, denn jetzt 
gingen ihnen andere Dinge durch den Kopf, und Bradſhaw, 
der ſich indeſſen ſeinen Plan ſchon ſo ziemlich zurechtgelegt, 


609 


fagte endlich, indem er feine lange Büchſe über den Sattel- 
fnopf legte und beide Hände darauf jtüßte: „Kameraden — 
wenn das begründet ift, waß mir die Alte da auf der 
Pflanzung heute Morgen vertraut hat, daß wir es nämlich) 
hier keineswegs mit einer Bande, jondern mit einem einzelnen 
Menſchen zu thun haben, der dort fein verbrecheriiches Weſen 
treibt, fo iſt e8 natürlich und ſelbſtverſtändlich, daß er ſofort 
feinen Schlupfwintel aufſucht, ſowie er einen jolden Trupp, 
wie wir find, nahen fieht. Hätten wir ein paar rauen bei 
uns, fo hielt er ung vielleicht für das, was wir gern jcheinen 
wollen — ja er thut es vielleicht fo auch, aber wir dürfen 
uns einer Gefahr, daß es ander wäre, nicht ausſetzen. 
Obriſt Root hat das zu feinem Schaden erfahren, und dann 
natürlich auch Leine Bande gefunden, wo ihm der einzelne 
Menſch nur einfach aus dem Wege zu gehen braudte. Wie 
ih es mir nun gedacht, jo wollte ich jenen Gentleman aljo 
erſt einmal ganz allein aufſuchen —“ 

„Oh, hol's der Henker, Capitain!“ rief Einer der Leute, 
„das geht nicht. Ihr feid der Führer des ganzen Trupps, 
und wenn er Euch kalt macht und wir follten nachher Alle 
gefund und wohl ohne Euch in Little Nod wieder einrüden, 
was würde der General dann von uns denken?“ 

„Bah, Cooly,“ lachte Bradſhaw, „To raſch geht das nicht, 
denn wie ich jebt beftimmt weiß, überfällt er nur Yankees und 
Neger, und daß er mich für feinen von beiden halten fol, 
dafür laßt mich forgen. Einer von und muß recognosciren 
gehen, und da ich gerade fo lange im Süden gelebt Habe und 
eigentlich dort heimifh bin, außerdem aber auch Die ganze 
Berantwortung unjeres Zuges zu tragen habe, jo bin ich feſt 
entfchlofjen, den Verſuch zu maden. Fall' ih wirklih, dann 
‚mag Cooly meine Stelle übernehmen, und dann rächt meinen 
Tod. Zerſtreut Euch hier in der Nachbarſchaft, bis Ihr den 
Burschen wieder fiher gemacht Habt, und dann überfallt Nachts 
feine Hütte, ftedt fie in Brand und ſchießt den DBerbrecher 
nieder, wenn er entfpringen will — vorausgeſetzt nämlich, daß 
ihr ihn nicht lebendig befommen fünnt, denn hängen wäre ihm 
nüßlicher. 

„Dann laßt mid) wenigftens mit Euch gehen, Capitain,' 


606 


bat Cooly, „I guess*), ich fann den Südländer jo gut jpielen, 
wie ein Anderer.‘ 

Bradſhaw lachte. „Bei dem erjten I guess,“ fagte er, 
‚Höfe Euch der Burfche eine Kugel dur den Kopf. Nein, 
Mate, Ihr Eönnt den Yankee keine fünf Minuten verleugnen, 
und wenn hr nicht fonft ein jo tüchtiger Kerl mwäret, hätte 
ih Euch auch zu diefem Zug, wo wir die Südländer ſpielen 
follen, wahrlich nicht mitgenommen. Aber laßt mid) nur, id) 
bin einmal feft entfchlofjen, und Ihr könnt mich nicht mehr 
daran hindern. Alſo, Cooly, Ihr nehmt die Führung! Reitet 
mit den Uebrigen etwa zwei oder drei Meilen diefen Pfad 
entlang, dann biegt links vom Wege ab, aber nicht weiter als 
nöthig, damit Ihr einen im Pfad abgefeuerten Schuß hören 
könnt. Wo hr abbiegt, fällt Ihr einen jungen Baum und 
häuft eine Anzahl Balmettoblätter darum her, denn deren giebt’s 
genug hier aller Orten. Iſt es dann nöthig, jo folge ich 
Euch, um das Weitere zu berathen. Bin ich aber bis morgen 
Mittag nicht bei Euch,“ fette er nach einigem Zögern hinzu, 
„dann — dürft Ihr annehmen, daß ih — mid nit ganz 
wohl befinde, und dann ftürmt das Neſt — aber vergekt nicht, 
eö vorher zu umftellen. Wollt Ihr's fo machen?’ 

„Wenn's denn nit anders fein ſoll,“ brummte Cooly — 
„in's Teufels Namen, ja — aber dann gnade Gott dem 
Hund — ich reiße ihm die Glieder ſtückweis vom Leibe herunter.“ 

„Und nun good bye, boys!“ rief Bradſhaw, ihnen freund: 
Ih zuminfend — „wir dürfen uns hier nit zu lange zu= 
fammen aufhalten.‘ Und fein Pferd herummerfend, trabte er 
Yuftig vor fih Hin pfeifend die an den eingeferbten Bäumen 
leicht erfenntlihe Bahn entlang. 

Und diefen Pfad mußten faſt Alle nehmen, die des Weges 
famen, denn, wahrſcheinlich abfichtlih durch Hinundherreiten 
des dort Wohnenden, derjelbe war gerade da, wo er von der 
richtigen Straße abzweigte, jo durch Hufe zeritampft, daß es 
ausfah, ala ob er in der Nähe eines fehr belebten Platzes 
läge. Diefe Spuren wurden jedodh eine Strede weiterhin be= 





*) I guess, ich rathe — Statt: ich denke — tft ein nur in den 
einerihieh Yankeeftaaten ehr gebräuchlicher Ausdruck. 


607 


deutend ſchwächer, wenn fi) der Pfad auch noch immer deut: 
lich erfennen Tief. 

Etwa eine Biertelftunde lang mochte Bradſhaw feiner ge: 
fährlichen Bahn gefolgt fein. Das Land hier gehörte noch 
immer zur Niederung, zeigte aber doch ſchon Neigung zu wellen— 
förmigen Erhebungen, und wenn au nicht größere Bäume, 
doch mehr und dichteres Unterholz. Endlich entdedte er die 
erften Spuren menſchlicher Thätigkeit — einen mit der Art 
gefälten ftarken Baum, der vom Wege ablag und in deſſen 
Wipfel vielleicht wilde Bienen gebaut hatten. Weiterhin hörte 
er die feinen Glocken dort draußen weidender Pferde und be⸗ 
merkte auch ſpäter drei davon auf einer kleinen Waldblöße. 
Die Stumpfe gefällter Bäume wurden dabei immer häufiger, 
und jetzt, als er ein kleines Dickicht umritt, lag, eine kurze 
Strecke rechts vom Wege, eine der gewöhnlichen Blockhütten, 
wie ſie die erſten Anſiedler ſtets im Walde aus rohen Stämmen 
aufrichten. Ja ſelbſt in ſpäteren Jahren verlangen ſie ſelten 
eine größere Wohnlichkeit, vielleicht nur etwas mehr Raum, 
der dann durch eine ähnliche angebaute Hütte hergeſtellt wird. 

Faſt unmwillfürlich zügelte er aber fein Pferd ein, denn er 
fühlte, daß jeßt der Moment der Entſcheidung nahe und fein 
eigenes Leben als Einſatz galt, — aber hatte er es denn in 
den lebten Jahren niht taufendmal preißgegeben? Was lag 
daran? Die wichtige Erpedition war ihm anvertraut worden 
und feine Ehre dabei eingefekt, aljo vorwärts! Und mit einem 
trotigen Lächeln auf den Lippen gab er feinem Thier den einen, 
an den linken Fuß gefhnallten Sporn wieder, daß es im 
raſchen Trab den Weg dahinflog. 

Hunde [hlugen an. Aus der vorn offenen Umzäunung 
iprangen drei mädtige Rüden — „curs“, wie fie dort im 
Walde genannt werden — mit zottigen Körpern und ſcharfem 
Gebiß, hielten etwa hundert Schritt vor dem Hauſe und 
ſtießen dann ein wildes Geheul aus, als ob ſie jedem Wanderer 
den Zutritt ſtreitig machen und dabei auch Hülfe von drinnen 
herbeirufen wollten. Es dauerte auch kaum einen Moment 
uͤnd die Thür der Hütte wurde aufgeriſſen, aber nur eine 
kleine, ſchmächtige Geſtalt erſchien darin und blieb, als ſie den 
einzelnen Wanderer bemerkte, ſeiner harrend dort ſtehen. Das 


608 


konnte doch nicht der gefürchtete Bakker fein? Bradſhaw blieb 
aber Feine lange Zeit zum Ueberlegen, denn zögern durfte er 
niht, wenn er nicht gleih von vornherein Mißtrauen er: 
weden wollte, und fo feinem Thier die Zügel lafjend und 
fih an die Hunde wenig fehrend, folgte er noch eine kurze 
Strede dem Pfade, bog dann rechts ab und hatte die einzeln 
ftehende Hütte bald in Sprechweite erreicht. 

„Hallo, te house!“ rief er bier, in der gewöhnlichen 
Urt diefer Leute, und das galt diesmal auch zugleich als 
Anrede, denn der junge Burfche, der dort in der Thür lehnte, 
hatte die Hände in die Taſchen gefhoben und ſchien den 
Beſuch ruhig zu erwarten. 

„Hallo, stranger!“ lautete die Rüdantmort — „ſteigt ab 
und kommt herein! — Ruhig, ihr Hunde-Beitien, verdammte, 
wolt ihr Frieden geben! Kommt nur getroft zum Haus, 
Fremder — fie machen nur aus alter Gewohnheit ſolch' einen 
Heidenlärm, aber wenn fie nicht gehebt werden, fallen fie 
Niemanden an.‘ 

„Aber wenn fie gehetzt werden, thun ſie's?“ 

„te der helle Teufel!" lachte der junge Burſche in der 
Thür, „doch habt feine Furcht! Ruhig, ihr Stanaillen, ſag' 
id — ruhig, Wath — ruhig, Lion — ruhig, Bull! Hinein 
mit euch, oder ich mache euch Beine!’ 

Wie fih die Hunde einzeln bei Namen gerufen hörten, 
mußten fie, daß fie nicht angreifen durften, und ließen 
wenigſtens das laute Bellen; aber ganz zufrieden fchienen fie 
noch immer nit, und mit gefträubten Haaren und leife und 
boshaft Inurrend wichen fie nur dem Reiter aus, der auch 
mißtrauifh und die Blicke feit auf fie gerichtet zwilchen ihnen 
hindurch ritt. Das Thor war übrigens offen, und er konnte 
folcherart allerdings bis dicht an das Haus anreiten, aber be— 
haglich fühlte er fich troßdem nicht, denn es waren nicht zu 
verachtende Gegner, wenn er gezwungen wurde, jeinen Rück— 
zug zu juchen. Einen Moment zögerte er auch wirklich, ob 
er abjteigen und die Höhle des Löwen betreten jolle, oder 
nicht — aber es war audh nur ein Moment, und im nächiten 
Augenblif ſchon griff er feine lange Büchſe auf, ſprang aus 
dem Sattel und warf den Zügel feines Pferdes über den 


609 


Kopf defjelben zu Boden. Der Braune ging dann, wie er 
veht gut wußte, nit von der Stelle. 

„How do you do, stranger,“ fagte der junge Burſch, 
der indeffen feinen Blid von ihm verwandte und ihn auf- 
merffam und forfhend betrachtet hatte — „wo kommt hr 
her? wohin geht die Reife?‘ 

„Segne meine Seele, Mann," lachte Bradiham, der, jebt 
einmal mitten in der Gefahr, auch raſch feinen alten Muth 
wieder gewonnen hatte. „Ihr fragt ja gerade wie ein Yankee 
— dreimal zugleih — aber ih will Euch troßdem Rede 
ftehen: mir geht’8 gut, über den Ned River herüber komme 
ih, und wohin ih will, da bin ich, in Texag — wenn auch 
noch nicht vielleicht an der richtigen Stelle, aber ich dente, 
eine gute „Range“*) wird ſich ja wohl ſchon irgendwo finden, 
denn das Rand ift groß genug — hat no Platz.“ 

„Well, I guess,“ fagte der junge Burſch, „Ihr Teid aus 
den States da oben?’ 

Bradſhaw warf einen flüchtigen Blid über ihn hin. Es 
war eins jener merkwürdigen Geſichter, wie es ſich vielleicht 
nur allein in den Vereinigten Staaten von Amerika findet. 
Der Burſche konnte faum zwanzig oder zweiundzwangig „Jahre 
zählen, ſah aber fhon wie ein Mann von vierzig auß, mit 
icharfen, faft unheimlichen Gefichtszügen, Hohlliegenden, düfteren 
Augen und einem freden, cyniſchen Zug um die dünnen 
Lippen. Es war eine jener widerlich eklen Geſtalten, wie fie 
fi in allen weftlichen Staaten, aus dem Djften vertrieben, 
finden; Burschen, zu faul zum Arbeiten, aber I&hlecht genug 
zu jeder Schandthat, zu falſchem Spiel, Raub und — wenn 
es nit anders fein fonnte — Mord. Aber das augen- 
ſcheinlich abfichtlich Hingemorfene „I guess“, das den Yankee 
imitiren follte, täufchte ihn nit. Er hatte zu lange theils 
im Süden, theils im Norden gewohnt, um nicht den Unter: 
ſchied im Klange genau zu Fennen. Die Worte mochten nordiſch 
ſein, aber der näſelnde und faſt nicht nachzuahmende Klang 
fehlte, und es konnte ihm nicht entgehen, daß die Frage nur 
eine Maske war, um den Fremden eben ſicher zu machen, 

*) Ausdrug für Weideplatz oder Niederlaffung. 


Fr. Gerfäder, Erzählungen ze. 39 


610 


damit er, wenn er wirflih aus jenen Staaten jtammte, ſich 
verdachtlos gehen ließ. 

„Seid Ihr ein Yankee?“ frug Bradſhaw ruhig. 

„l reckon I am,“ erwiderte der junge Geſell, mit einem 
ladhenden Zug um die Lippen — „und Ihr doch auch?“ 

„Thut mir leid, mid) nit Euern Landsmann nennen zu 
können,‘ erwiderte Bradſhaw achfelzudend, „ich bin in New— 
Drleans geboren; aber deshalb brauchen wir einander nicht 
zu zürnen. Der Krieg zwiſchen den beiden Stämmen ift vor— 
über — hr Habt gefiegt, und wir müfjen’S eben tragen jo 
gut wir fünnen, oder wenn wir's nit fönnen, wie ich, eine 
neue Heimath fuchen.‘‘ 

„Hm — ſo,“ fagte der junge Burfhe, indem er den 
Fremden aber noch immer mißtrauifch betrachtete. — „Ihr 
feid alfo aus dem Süden?’ 

„Hab ih Euch nicht gejagt, daß ih auß New-Orleans 
jtamme, und da3 liegt Euch doch wohl ſüdlich genug?‘ ent— 
gegnete Bradſhaw troden. „Die „Königin“ de Südens 
ift aber, feit die Fremden ärger wie der Yellow Jack”) 
darin wirthichaften, ein zu ungefunder Plab für mich ges 
worden, und ich bin eben dabei, mir ein beſſeres Klima aus— 
zuſuchen.“ 

„Damn it, old fellow,“ ſagte da der junge Burſch, der 
überhaupt Feine drei Worte zu Sprechen ſchien, ohne einen 
Yäfterlichen Fluch hinein zu mifchen, „und feid Ihr wirklich ein 
Southerner**) mit Herz und Blut?“ 

„Denn ich’8 nicht wäre, fagte Bradſhaw finter, „dann 
hätte ich nie den heimifchen Boden verlaffen, um mein Glück 
in einem fernen Land zu ſuchen. — Uber hol's der Böje! — 
reden wir von 'was Anderem, denn Ihr könnt e8 uns nicht 
verdenfen, wenn uns die Galle noch manchmal bei al’ den 
erlittenen Verluſten in’3 Blut tritt. Es ift vorbei — der 
Frieden geichloffen, und wir wollen die alte Feindſchaft nicht 
mehr erneuern.‘' 

„Ihen give us your paw, old chap!“ rief der Inſaſſe 





*) Scherzhafter Ausdrud für das gelbe Fieber. 
**), GSüpdländer. 





611 


des Hauſes jetzt plößlich mit einem freundlichen Geſicht, indem 
er zum erften Mal dem Gaft die Hand zum Gruß hinüber- 
reichte — „aber,“ jebte er mit einem nicht zu wiederholenden 
Fluch Hinzu — „Euer Glück iſt's auch, denn wäret Ahr 
wirklich ein Yankee geweſen, jo hättet Ihr von uns gerade 
nicht viel Freundlichkeit zu erwarten gehabt.’ 

„Don uns?“ fagte Bradſhaw, anfcheinend unbefangen, aber 
das Wort war ihm nit entgangen — „habt Ihr Familie?" 

„Ich?“ rief der junge Burſch mit heiferem Lachen und 
wieder einem gemeinen Fluch — „das fehlte auch noch, aber 
einen Kameraden hab’ ich hier — einen prächtigen Kerl, und 
wenn Ihr's Euch recht überlegt, bleibt Ihr vielleicht Hier bei 
und — damn it, mate — mir führen ein flotte, vergnügtes 
Leben.‘ | 

„Mit Ned River-Waffer und Hirſchfleiſch,“ Tachte Bradſhaw 
— „kann's mir etwa denfen, denn ein Feld hab’ ich nicht ge— 
fehen, wo Ihr einen Kolben Mais ziehen könntet.“ 

Der junge Burſch antwortete nicht glei” — er war auf: 
gejprungen und horchte nach außen — es war wie der Auf 
einer der kleinen Eulen, die fih im Urwald aud manchmal 
am Tage hören lafjen, der von dort herüber drang. Dann 
trat er in die Thür, erwiderte den Schrei und fagte lachend: 
„Da fommt mein Mate — aber ih habe Euch noch nicht 
gefragt, wie Ihr heißt, Kamerad.“ 

„Braucht Ihr einen Handgriff zu mir? — nennt mid) 
George Furzweg, das thut’3 vollfommen — und Ihr?“ 

„Bil, wenn Euch damit gedient iſt —“ nidte der junge 
Mann — „Ihr habt Recht — wozu Namen nennen, wenn 
man ſich nicht gerade verheirathen will, daß ihn der Friedens- 
richter in fein Buch ſchreibt.“ 

Draußen ſchlugen die Hunde an und winjelten gleich 
darauf vor Freude — e8 war ihr Herr, der nahte, und 
Bradſhaw fühlte, daß jebt der entſcheidende Moment ges 
fommen ſei. 


39% 


612 


8 
Der Herr der Hütte. 


Bradſhaw mußte ſich wirklich mit Gewalt zufammennehmen, 
um gleihgültig zu erfcheinen, denn das Herz Elopfte ihn fieber: 
haft in der Bruft — und war er nit am Ende ein Thor? 
Durfte er fo feft auf das Wort der alten Negerin bauen, und 
jah der junge, eingefchrumpfte Burſch etwa jo aus, als ob 
er gemwaltthätig gegen irgend einen Menfchen auftreten könne? 
Auch die Hütte, ärmlich und leer wie alle übrigen im Walde, 
glih nit dem Schlupfwinkel eines Mannes, der fi lange 
Zeit vom Raube genährt und viele und werthvolle Beute ge= 
madt. Ein ärmliches Lager, nothdürftig mit einer wollenen 
Dede verjehen, war fait das einzige Ameublement im ganzen 
Haufe, einen alten Tiſch, einen roh zufammengezimmerten 
Stuhl und ein paar mit Rinde bededte gums*) ausge— 
nommen, die ebenfall3 noch zu Siten dienten. Ein Jagdhemd 
und ein paar befjere Kleidungsftüde hingen in der einen Ede, 
und ein paar Satteltajchen, die jedenfalls dem jungen Burfchen 
gehörten, lagen darunter. Das war Alles. 

Aber feine Zweifel follten bald gelöft werden, denn Die 
Schritte draußen famen näher — jebt konnte er ſchon durch 
die offenen Spalten der Hütte die Geſtalt des Nahenden er— 
fennen, und wenige Secunden fpäter ftand der Neugefommene 
auf der Schwelle jeineß eigenen Haufes, und fein Blid haftete 
feft und wie erftaunt auf dem Gafte. 

Es war in der That eine große, fräftige, breitfchulterige 
Geitalt, wie ein Badwoodsman gekleidet, die lange Büchſe 
auf der Schulter, das breite Mefjer an der linken, die Kugel— 
tafhe mit dem daran befeftigten Pulverhorn auf der rechten 
Seite, die Füße aber, anjtatt in Mocaſſins, in groben, derben 

*) Gums — nad dem Gumbaum genannt, der ſehr oft voll: 


fommen hohl wächſt und dann abgejägt und im Walde zu ver- 
ſchiedenen Zweden benugt wird. 


613 


Schuhen ftedend. Nur von feinem Geſicht Tieß fi wenig 
oder gar nicht? erkennen, denn ein voller, dichter, Fraufer und 
rabenſchwarzer Bart dedte den untern Theil deſſelben voll- 
fommen, während der breite, arg mitgenommene und zer- 
Initterte Filzhut den obern beſchattete. Nur die Kleinen 
dunfeln Augen blitzten darunter hervor und jchienen fid in 
den Fremden feit hinein zu bohren, 

„How do you do, Sir?“ fagte Bradſhaw fait unmillfür- 
lich, denn daß der Mann, dem doch ficher dies Haus gehörte, 
fein Wort ſprach, Sondern ihn nur fchweigend anjtarrte, wurde 
ihm zuletzt unheimlich. — „Ich weiß Euren Namen noch nit, 
aber ich glaube, Ihr feid der Herr vom Haufe hier und könnt 
mir vielleicht über Manches Auskunft geben, was ih Euch 
über das Land hier fragen möchte.” 

„George Bradſhaw!“ fagte da der Schwarzhaarige mit 
ruhiger, unbewegter Stimme. „Was zum Teufel führt Die 
bier in den Wald von Teras herein? — man jollt’ es doch 
wahrhaftig nicht denken!“ 

Bradſhaw fühlte, wie e8 ihm bei Nennung feines Namens 
eisfalt den Rüden hinunterlief, und fein erfter Gedanfe war 
fein Revolver, denn er hielt fich für verloren und wollte fein 
Leben wenigitens fo theuer al3 möglich verkaufen. Glüdlicher 
Meife aber fam der Eintretende gerade aus der vollen Sonne 
heraus und mochte davon wohl noch etwas geblendet jein, 
denn fonft Hätte ihm der raſche Wechfel in der Gefichtäfarbe 
ſeines Beſuchs faum entgehen dürfen. Aber nur ein ſpöttiſches 
Lächeln zudte durch feine bärtigen Züge, als Bradſhaw, der 
fih gewaltſam fammelte, ausrief: „Das iſt merkwürdig! 
hätt’ ich doch nicht geglaubt, daß Jemand in Teras hier meinen 
Namen wüßte — und woher kennt Ihr mich ?' 

„Merkwürdig?“ lachte der Mann, der ſich aber voll- 
fommen ſicher zu fühlen ſchien, denn er legte ohne Weiteres 
feine lange Büchſe auf die dafür beftimmten Pflöde über der 
Thür, ſchnallte, während er ſprach, fein Jagdmeſſer ab und 
legte fogar, zu feines Begleiters oder Compagnons Eritaunen, 
feinen Revolver auf den Tifch, der ihm am Körper wahrſchein— 
ih zu ſchwer wurde. „Merkwürdig ift, daß Du mid nicht 
fennft, oder habe ich mich wirklich in den ſechs Jahren, die 


614 


wir ung jebt nicht gefehen, jo auffallend verändert? Hm — viel: 
leicht der Bart — nun? — Eennft Du mid noch nit?‘ 
Und damit griff er feinen alten grauen Filzhut an der Krämpe 
und jchleuderte ihn auf den Tiich. 

Bradſhaw war durch die Worte „ſeit ſechs Jahren“ wohl 
für den Augenblick ficher, daß der Fremde nicht wußte, in 
welcher Eigenſchaft er fich jebt hier befand, aber die DBe- 
ſchreibung der alten Negerin paßte auf diefe Geftalt genau, 
und nun felber neugierig geworden, wer von jeinen älteren 
Defannten e3 fein könne, der da vor ihm ftand, flog fein 
Blick forfchend über die Züge de8 Mannes und haftete plötz— 
lich auf der ſchon etwas hohen Stirn, an welcher eine nicht 
jehr große, aber eigenthümlich dunkel gefärbte Narbe fichtbar 
wurde. Ein jäher Schreck zudte ihm durch's Herz. 

„Markham!“ rief er aus — „John Marfham? ift es 
denn möglih und denkbar ?’ 

„Simps,“ fagte der Bärtige mit ſpöttiſcher Höflichkeit, indem 
er fi zu feinem Begleiter wandte und auf den Fremden 
deutete — „ich habe die Ehre, Euch Hier meinen leiblichen - 
Schmager, George Bradiham, Esquire, aus New-Orleans vor— 
zuftellen — Mr. Bradihaw, Mr. Simps aus Süd-Carolina.“ 

„Il’ be damned!* rief Mr. Simps ftatt jeder weiteren 
Introduction, indem er aber doch dem alſo Eingeführten die 
Hand hinüberreichte, ‚will. aber verbrannt werden, wenn ih 
ihn nicht anfangs für einen verdammten Yankee hielt. How 
do you do, Mr. Bradſhaw?“ 

„Dank Euch,” jagte Bradiham ganz zeritreut — „aber 
Markham, um Gottes willen, in diefer Wildniß habt Ihr 
Euch niedergelaffen — und Euer Kind?’ 

Des Mannes Brauen zogen fi düſter und wild zufammen. 

„Ihr wißt, wie Eure Schweiter ſtarb,“ fagte er mit feit- 
geprekten Zähnen. 

„Ich weiß es,‘ ſagte Bradſhaw leiſe. 

„Jene Negerkanaillen tödteten fie, während id vom Haufe 
fern war, und nur feine Amme, die mit Suſan von New: 
Orleans gelommen, rettete den Knaben. Dann erreichte der 
Krieg auch unfer Land — unfere Pflanzungen wurden zerjtört, 
unſer Eigentum uns genommen. Wir führten einen ver- 


615 


zweifelten Kampf bis zum lebten Augenblide, aber — unfere 
Kräfte waren aufgerieben, unfere jungen Leute getödtet, unfere 
Geldmittel erfhöpft, und da — mit Feiner Möglichkeit, die 
jebt vollfommen werthlofe Plantage zu verkaufen, ftellte ich fie 
unter die Auflicht eines Freundes und zog nach Weiten. — 

‚Und das Kind?‘ 

„nat der Nämliche zu fi genommen — Du fennit ihn 
jelber, glaub’ id — Tom Hutter von Georgien.’ 

„Der falſche Spieler?’ rief Bradſhaw entfekt, 

„Bah, er hat eine geſchickte Hand,’ lachte Markham, 
„und — hol's der Teufel! bleibt es fich nicht gleich, wie ein 
Mann fein Geld gewinnt, wenn er’3 nur eben gewinnt? — 
Aber was führt Dich in den Wald?’ 

„Daflelbe, was Did in die Welt getrieben,‘ ſagte 
Bradſhaw, aber zeritreut, denn taufend Gedanken ftürmten 
ihm dur das Hirn, — „der Zuftand im Süden, der zuleßt 
unerträglich wurde.‘ 

„Und Deine Eltern?" 

„Wieder in New-Orleans, aber Vater hatte Pläne, nad) 
Yukatan überzufiedeln, um nit mehr unter der Regierung 
de3 Nordens zu leben. Die Schweitern find ebenfalls, wie 
Du ja recht gut weißt, mit Xeib und Leben Südländerinnen.‘ 

Markham ſchwieg, aber jein kleines dunkles Auge haftete 
jo feſt und forfchend auf dem Schwager, daß Diefer anfing, 
fih nicht wohl zu fühlen. Hatte er Verdacht auf ihn ge— 
Ihöpft? aber wie war dad möglih ? — fein eigener Ber: 
dacht überhaupt? Wie konnte der Gatte feiner verftorbenen 
Schweiter, ein Mann, der früher zu der geadhtetiten Ariſto— 
fratie des weiten Landes gehörte, zu einem gewöhnlichen und 
gemeinen Straßenräuber und Mörder herabgefunfen fein — 
es ließ fich nicht denken, Doch Markham vermochte vielleicht 
ihm felber Auskunft zu geben, ob eine Bande geſetzloſen Ge— 
findel8 hier überhaupt eriftirt habe und wie viel Wahres an 
alle den Märchen fei, die man fich in den Staaten darüber 
erzählte — und doch fürdhtete er fich, mit diefer Frage direct 
heraus zu kommen — aber Markham Tam ihm auf halbem 
Meg entgegen. 

„Halt Du allein den Ned River gefreuzt oder in Gefell- 


616 


ſchaft?“ frug der Bärtige nach einer längeren Baufe, in der 
er ſtill und nachdenfend vor fich nieder gefehen. 

„ein, erwiderte Bradſhaw, — die Möglichkeit war da, 
daß fein Schwager die Truppe draußen im Wald bemerkt 
oder wenigitend ihre Spuren gefunden hatte, und er durfte 
ihm nicht durch eine Lüge gegründete Urſache zu Mißtrauen 
geben. — „Ich traf drüben auf der andern Seite eine An- 
zahl von jungen Leuten, die alle nach Terad einwandern 
wollten, und hielt mich zu ihnen, bis wir die Stelle erreichten, 
wo fih die Wege kreuzen. Einestheils gefielen fie mir nicht 
befonderd, anderntheil3 aber glaubte ich auch auf diefem Pfade, 
den die eingeferbten Bäume anzeigten, früher wieder Menjchen 
anzutreffen.‘ 

„And wo find fie jebt?‘ | 

‚Dem Pfad weiter gefolgt, aber fobald fie den Sabine 
erreichen, wollen fie lagern und zwei Tage jagen, um Pro: 
vifionen einzulegen. Wenn ich hier feinen bejjeren Drt finde, 
fol ich mich ihnen in der Zeit wieder anſchließen.“ 

„Sm — und wenn Du einen befleren Ort fändeſt?“ 

„Dann warten fie nicht länger auf mich, ſondern ziehen 
weiter.“ 

Markham ſchwieg wieder — endlich ſagte er: „Ich will 
Dir einen Vorſchlag machen, George — aber nicht jetzt,“ 
ſetzte er mit einem faſt unwillkürlichen Blick auf Simps hinzu, 
„es muß auch Eſſenszeit ſein. Wie iſt es, Simps? — wie 
ſteht's mit der Küche?“ 

„Mit der Küche?“ rief dieſer, der bis jetzt den beiden 
Männern nur zugehört und unter der Zeit, aus Mangel einer 
beſſeren Beſchäftigung, mit ſeinem langen Meſſer einen 
tüchtigen Span aus dem Tiſche, vor dem er ſaß, heraus— 
geſchnitzt hatte — wie ein wirklicher Yankee — „mie ſoll es 
mit der Küche ſtehen? Habt Ihr 'was mitgebracht? Ihr 
wißt doch, daß wir geſtern Abend das letzte Stück Fleiſch ge— 
kocht haben, was da war, und was da im Kamin hängt, iſt 
der Reſt.“ | 

„Da kann ich vielleicht aushelfen,“ ſagte Bradſhaw. 
„Wir haben geſtern Abend in dem einen Baumwollenfeld drei 
Hirſche erlegt und genug Proviſionen dadurch auf den Weg 


* 


617 . 

\ 
befommen. Wild muß es ja hier vollauf geben, und ich 
werde Schon wieder mehr bekommen.“ 

„Dann ift’8 recht," nickte Markham zufrieden mit dem 
Kopfe. „Wild giebt’s in der That, aber heute Morgen 
fonnte ich trotzdem nichts vor’3 Rohr befommen. Wir wollen 
heut Abend zufammen ausgehen, George , und werden ſchon 
genug mit heimbringen, um Vorrath für die nächſten Tage 
einzulegen. Uber was ich Dich fragen wollte — was waren 
das für Leute, mit denen Du über den Strom kamſt — 
Nordländer?“ 

Bradſhaw ſchüttelte mit dem Kopfe. — „Nein,“ ſagte 
er, — „ein paar aus Arkanſas, vier aus Tenneſſee und die 
anderen, ich weiß nicht woher, Sie ſchienen mir großen— 
theil8 aus Lee's Armee und mochten nicht länger in den 
- Staaten bleiben.’ 

„Aber Dein Pferd fteht noch draußen gefattelt, George,’ 
fagte Marfham, der einen Blick vor die Thür geworfen hatte; 
„mach's ihm bequem und laß e8 laufen — es zieht fi doch 
gleich zum Wafler hinunter und findet dort die anderen. Den 
Sattel hänge nur nebenan unter den Schuppen. Simps, 
nehmt einmal das Fleiſch herein, was Hintendran angebunden 
it — Honig muß auch noch im Gum fein, und da unter 
dem Bett liegt eirie Krufe mit Whisfy, fo daß wir wenigftens 
feine Noth zu leiden brauchen. Wildes Leben, was wir bier 
führen, George, wie?’ 

„Ein Leben in den Wäldern, worauf ich ebenfalls gefaßt 
bin,‘ antwortete diefer achjelzudend. „Wer kann's ändern! 
Wir müfjen eben tragen, was wir un? felber eingebrodt haben.’ 

Markham knirſchte die Zähne zufammen, und feine Kleinen 
düfteren Augen blisten, aber er erwiderte fein Wort, fondern 
ftand nur auf und trat jet felber vor die Thür, um dem 
Schwager zu helfen, fein Pferd abzufatteln. 

Bradſhaw fand fih in einer eigenthümlichen Tage. Er 
fonnte die Gaſtfreundſchaft feines Schwagers nicht zurückweiſen, 
ohne augenblicdlich Verdacht zu erregen, wenn diejer wirklich 
Ihuldig war — denn ließ es fich denken, daß ein naher 
Berwandter, der den andern fo lange Nahre nicht gejehen 
und mit ihm zufällig in einer Wildniß zufammentraf, jo 


618 


raſch von ihm ſcheiden würde, wenn er nicht ſeine ganz be— 
ſonderen Gründe dafür hatte? Blieb er aber, jo kamen morgen 
feine Leute wieder angeritten, und bis dahin mußte alfo die 
Sache jedenfalls entjchieden fein. Aber was Fonnte er jebt 
thun, als eben dem Ganzen ruhig feinen Lauf lafien? Ein 
Plan war da gar nicht zu machen, irgend eine nothwendige 
Handlung nicht vorher zu beftimmen. Er wußte ja noch nicht 
einmal, ob fein Schwager und jener Bandit wirkli ein und 
diefelbe Perfon wären — ja er konnte es ſich nicht denken, 
und Stand da zu erwarten, daß diejer fich jelber verrathen 
würde? Und was dann, wenn feine Leute anrüdten? — Er 
Tgüttelte die Gedanfen von fih — was half ihm aud das 
Grübeln, und wenn e3 ihm auch nicht ganz recht war, fein 
Pferd jebt von fich zu lafjen, denn er wußte ja nicht, wie 
raſch er e8 vielleicht gebrauchen würde, fah er auch Feine Mög— 
lichkeit, einen Vorwand zu finden, es hier zu behalten. So 
denn Sattel und Zaum abnehmend, Tieß er es frei, und luſtig 
aufmwiehernd trabte das treue Thier mit gehobenem Kopf und 
weit ausfliegender Mähne der wohlgemerkten Stelle zu, mo 
e3 die anderen Pferde vorher entdeckt hatte. 

Indeſſen wurden im Haufe die Vorbereitungen für eine 
gewöhnliche Backwoodsmahlzeit getroffen, die gerade feiner be— 
ſondern Kunft bedurften. Kaffee, das eigentliche Labſal des 
Jägers, hatte Markham, wie es fchien, zur Genüge — wilder 
Honig vertrat die Stelle des Zuders, das jaftige Fleiſch ſtak 
an kleinen Spießen über dem Teuer, und bald ſaß die Fleine 
Geſellſchaft an dem roh zu jammengehämmerten Tiſch, um ihr 
—* zu verzehren. 

Simps führte übrigens faſt allein die Unterhaltung und 
erzählte meiſt Scenen aus ſeinem eigenen Leben, die aber doch, 
ſo jung er noch ſein mochte, düſtere Blicke in ſein verworfenes 
Treiben geſtatteten. Es waren meiſt pikante Epiſoden aus 
ſeiner Spielerlaufbahn, wie er Den und Jenen überliſtet, und 
wenn auch das Meiſte erfunden ſein mochte, ſo zeigte doch 
das Ganze, in welchen Ideen und Wünſchen ſein Herz ſchwelgte. 
Er war, wie er ganz aufrichtig erklärte, feſt entſchloſſen, ein 
reicher Mann zu werden, und wie er das wurde, ſchien ihm 
vollkommen gleichgültig. 


619 


Markham blieb ſchweigſam — er brütete jedenfalls über 
irgend etwas, denn wenn ihn Simps plößlid) anredete, gab 
er ganz verkehrte Antworten und ſchien abweſend und zerftreut. 
Bradſhaw war dabei ebenjo mit den eigenen Gedanken bejchäf- 
tigt, und fo konnte ſich denn der Spieler ungeftört feinen Er- 
innerungen überlafjen. 


Bradſhaw ſah fih durch den jungen Burfchen jedenfalls 
geitört. Er hätte gern mit Markham allein gejproden, um 
nur erſt zu erfahren, woran er fei, und er hoffte jeßt nur, 
daß er wenigftens nach dem Eſſen dazu Gelegenheit befommen 
würde; aber auch darin jah er fich getäufcht. Es fehlte in 
der That jo an Propifionen, daß die Männer nothgedrungen 
hinaus in den Wald mußten, um einen Hirih oder ein paar 
wilde Truthühner zu erlegen, und Simps, der ein erbärmlicher 
Schütze fein follte, hatte indeß das Haus zu hüten. Da Jeder 
von ihnen aber einen andern Diſtrict nahm, um deſto ficherer 
Wild zu finden, war es natürlich, daß fie fich nicht zufammen 
ausſprechen fonnten, und Bradſhaw jah fi) genöthigt, feine 
weiteren Forſchungen auf den Abend zu verichieben. 


Er ſelber fehrte etwas vor Sonnenuntergang nad Haufe 
zurüd. Hirſche hatte er nicht angetroffen, aber dafür zwei 
feifte Truthühner gefhofen, doch fand er Marfham nidt. 
Diefer war, wie. Simp3 erzählte, etwa vor einer Stunde da 
geweſen, um ein Pferd zu Holen und feine Jagdbeute heim 
zu Ihaffen. Er wollte einen Hirſch gleich erlegt und einen 
andern angeſchoſſen haben, und hoffte auch diefen noch zu 
finden. 

Bradſhaw fühlte fih in der Geſellſchaft des widerlichen 
Burſchen nicht wohl, nahm nochmals feine Büchle, und ging der 
Richtung zu, die ihm Simps als die von Markham genom- 
mene angab. &3 war ja möglich, daß er diefen unterwegs 
‚traf. 

Eigenthümlich Fam ihm dabei die Tage der Hütte vor; denn 
wie er heute Nachmittag zuerft nah Oſten zu gejagt hatte 
und am Rande einer mächtigen Dickung Hineingebürjcht war, 
jo jah er jebt, daß fich diefelbe Baummildnig auch nad Welten 
außdehnte, und gerade unmittelbar an dem ſüdlichen Rand 


620 


derfelben, ja man konnte faft jagen mit der Hintern Wand 
in fie hineingebaut, lag dad Haus. 

Diefe „Baumwildniß“, wie man fie recht gut nennen fonnte, 
mar ein jogenannter alter „Hurricane — d. h. ein Platz, 
wo vor längeren Jahren ein jogenannter „Hurricane“ oder 
riefiger Wirbelfturm geweht hatte, der dort die alten Wald: 
riefen zu Boden warf, als ob Halme von einer Senje gemäht 
werden. Mit den Zweigen und Xeiten brachen dieje aber 
auch die unter ihnen ftehenden Schößlinge und jungen Bäume 
um oder bogen fie doch mit den Wipfeln nieder, dazwifchen 
wucherte dann mit der Zeit neues Unterholz empor und wanden 
ſich wilde, meiſt ftachlige Nanfen, als saw- und greenbriar 
und DBrombeere, hinein und bildeten dadurch ein Dickicht, das 
wirklich nicht allein undurchdringlich ſchien, fondern an den 
meiſten Stellen aud) war. 

Mie weit fih diefer Platz nad) dem Innern zu außdehnte, 
ließ ſich allerdings von hier aus nicht überfehen, aber gewöhn— 
lich dedt ein folder Hurricane einen Strih, der felten über 
eine engliſche Meile breit, aber manchmal vierzig bis fünfzig, 
ja noch mehr Meilen lang ift. 

Welcher Backwoodsman nun lehnte fein Haus mit dem 
Rüden an ein folches Chaos von übereinander hingejtürgten 
Stämmen, wo er nie hoffen fonnte, den Grund und Boden, 
auf dem fie lagen, urbar zu machen — der Erbauer mußte 
alfo jedenfalls dafür einen andern Grund gehabt haben. 

Markham kehrte an dem Abend fpät nah Haufe zurüd, 
brachte aber nur einen Hirfch mit, da er den andern erſt mit 
Sonnenuntergang fand. und nur aufbrah und an einen Baum 
hing. Simps fannte den Plab, wie er meinte, und follte 
am nächſten Morgen bingehen und ihn holen. Hatten fie 
doch ja jebt auch Lebensmittel genug, um auf eine ganze Woche 
damit auszureichen. 

Un dem Abend wurde nicht3 weiter verhandelt, Markham 
Ihien müde, und Bradiham fühlte fi) zu feinem Geſpräch 
mit dem Spieler aufgelegt. Er Hatte den in Grund und 
Boden hinein verdorbenen Burfchen längſt durchſchaut. Lange 
warf er fi aber raftlos, fchlaflos auf feinem Lager umher, 
und ftarrte dann wieder halbe Stunden lang in die noch glim- 


621 


menden Kohlen des Kamins, von denen manchmal eine kleine 
Flamme emporftieg, die dad Haus im Innern dann hell er: 
leuchtete, um, fobald fie wieder erlofch, es auf's Neue völlig 
dunkel zu laſſen. 

Maerkwürdig! Auch nah der Rückſeite des Haufes, alfo 
direct in den Hurricane hineinführend, denn man fonnte die 
Hütte nicht einmal umgehen, befand fich ebenfall3 noch eine 
Thür, die fih nad) außen zu öffnen ſchien. Es ift das außer: 
dem bei Blodhütten etwas ganz Ungewöhnliches, denn dieſe 
haben durhaus nur einen Cingang, dem gegenüber fich 
dann gewöhnlich der Kamin befindet. Die Thür fonnte des: 
halb nur allein dazu angebracht fein, um den Inſaſſen der 
Hütte, falls fie fi einmal durch eine größere Macht bedroht 
jahen, einen Weg zur Flucht zu öffnen, und daß dort hinein 
Niemand im Stande war ihnen zu folgen, wußten fie wahr: 
Icheinlih gut genug. Sonſt aber zeigte allerdings nichts in 
der Hütte auch nur dad geringfte Verdächtige, ald ob die In— 
ſaſſen derjelben einen andern Zweck fuchten, als eben der Jagd 
obzuliegen. Nur zwei Büchſen ruhten auf Pflöden, die eine 
über der Thür, die andere über dem Bette oder vielmehr 
Lager Markham's, alfo Waffen, die jeder Backwoodsman in 
feinem Haufe führte. Keine Schießſcharten waren in den 
Holzwänden angebracht, wie man es in den nördlichen terani= 
ihen Diftricten und in der Nähe feindlicher Indianerſtämme 
ziemlich Häufig findet. Nur ein Fleiner Ausschnitt neben der 
Thür, der vielleicht ein Fenfter vorjtellen ſollte, aber noch 
feine Glasfcheibe befommen hatte, zeigte eine Deffnung außer 
den beiden Thüren, und jelbjt diefe waren nicht ftärfer oder 
anders gearbeitet, al3 alle übrigen im Walde — nur allein 
mit einem Hölgernen Vorſtecker als Schloß. 

Bradſhaw lag noch Stunden lang und grübelte über den 
Charakter de8 Mannes, über die eigenthümliche Lage, in der 
er fich jelber feinem Schwager gegenüber befand, nah, und 
doch mußte der morgende Mittag die Entfeheidung bringen, 
alio er bis dahin auch Gewißheit haben. Aber wie das be- 
wirken? Die Augen fielen ihm endlich zu, und tolle Träume 
nahmen die Stelle der Gedanken ein. 

Sp jhlief er, von dem langen Tagemarſch ermüdet, bis 


622 


die Sonne ſchon Hell durch die Spalten der Hütte fiel und 
Markham an feinem Lager jtand und ihn medte, 

„Halo, George — Du verträumft ja den ganzen Morgen !‘‘ 
rief diefer Tachend. „Auf, Mann — der Kaffee ift fertig 
und Simps ſchon binausgezogen, um den gejtern erlegten 
Hirſch herein zu holen. Du bift noch an fpäte Stunden ge- 
mwöhnt? — Wir bier im Walde find mit der Tagesdämmerung 
munter.‘ 

Bradſhaw fuhr wirklich erfchredt empor — mie falbe 
Schattenbilder zudten ihm noch feine Träume dur) das Hirn, 
und er war im erften Augenblid wirflid faum im Stande, 
Wahrheit und Traum von einander zu fondern. Aber raſch 
fammelte er feine Gedanken. Das lange Leben im Feld und 
von Gefahren umgeben Hatte ihn daran gewöhnt, und empor— 
Ipringend rief er aus: „Bless my soul! ich habe wahrlich in 
den Tag hinein geſchlafen.“ 

„Das Haft Du,” fagte Markham, „aber fteh auf, geh 
draußen an den Bad und waſch Dir die Augen aus, und 
dann komm und nimm Dein Frühſtück. Ich habe überhaupt 
mit Dir zu reden, und möchte das thun, ehe mein ‚Partner‘ 
zurückkommt.“ 

Bradſhaw ließ ſich nicht zum zweiten Mal nöthigen. 
Raſch war er in feinen Kleidern und draußem am Bad), 
aber das Herz klopfte ihm wie ein Hammer in der Bruft. 
„Ich habe überhaupt mit Dir zu reden‘, hatte Markham ge: 
fagt — alfo ftand er vor der Enthüllung, und die nädjte 
Stunde vielleicht ſchon machte feinen Zweifeln ein Ende. 

Er verzehrte auch gleich darauf an Markham's Seite fein 
Frühſtück, aber er ſchmeckte kaum, was er aß, die Zunge klebte 
ihm am Gaumen, eine eigenthümliche Unruhe Hatte ihn erfaßt, 
und fein Schwager mußte e3 bemerken, wäre er nicht jo voll: 
fommen mit feinen eigenen Gedanken befchäftigt geweſen. 

Markham ſchien in der That mit fich jelber zu Rathe zu 
gehen und noch unentſchloſſen zu fein, wie er handeln folle; 
während des Frühſtücks war au faft Fein einziges Wort ge- 
ſprochen worden, ohne daß einer der Männer das auffällig ge 
funden. Aber die Stunden flogen; wurden feine Leute un— 
geduldig oder beforgt um ihn, fo mußte Bradſhaw fürchten, 


623 


daß fie noch vor der von ihm beftimmten Zeit eintrafen, und 
was konnte er felber dann thun, wie fich verhalten? Hatte 
er auch nur die geringiten Beweiſe feines Verdachts? — 
Nichts, gar nichts, und deshalb mußte diejer Ungemißheit — 
und ohne weiteres —— ein Ende gemacht werden. 


4. 
Zur That. 


Mit dem Entſchluß gewann er aber auch ſeine ganze 
Faſſung und Kaltblütigkeit wieder, und ſich an ſeinen Schwager 
wendend, ſagte er vollkommen ruhig und ſo unbefangen als 
möglich: „Was ich Dich fragen wollte, John. Drüben über 
dem Red River erzählten fie tolle Geſchichten von einer Räuber— 
bande, die hier eriftiren follte und wunderbarer Weiſe den 
Südländern gar nichts zu Leide thäte, fondern e8 nur auf 
Nordiihe und Neger abgejehen habe. Du aber lebſt gerade 
in der Nachbarſchaft, die man drüben als den Gib dieſes 
Raubgefindels bezeichnet, und Du vor allen Anderen müßteft 
doch darum wiſſen, wenn etwas Wahres an der Sache 
wäre.“ 

Markham ſah ihm feſ in's Auge, endlich ſagte er mit 
halblauter Stimme und einem leiſen Lächeln in den Zügen: 
„Du nimmſt mir das Wort von den Lippen, George, denn 
merkwürdiger Weiſe wollte auch ich gerade mit Dir über dieſe 
Bande ſprechen.“ 

„Alſo exiſtirt ſie wirklich?“ rief Bradſhaw raſch. 

„Laß mich ein bischen weiter aushblen,“ ſagte Markham 
ruhig, ohne die Frage ſelber direct zu beantworten. „Du biſt 
im Süden geboren, alle Intereſſen Deiner Eltern wie die 
Deinigen liegen dort — oder lagen vielmehr dort — bis die 
übermüthigen Yankees, die Gott verdammen möge, in unſer 
Land einbrachen und und — zu Bettlern machten.‘ 


624 


‚Aber, Markham, der Süden begann den Streit,‘ fagte 
Bradſhaw. 

„Willſt Du ſie noch vertheidigen?“ fuhr Markham auf — 
„doch fort mit den über und über beſprochenen und mit rothem 
Blut bekämpften Thatſachen. Die Nigger, von denen die 
heilige Schrift ſelber ſagt, daß ſie zu Sclaven beſtimmt ſeien — 
Geſchöpfe, mehr Thier als Menſch, mit kräftigem Körper, aber 
leerem Hirn, wurden für frei und uns ebenbürtig erklärt, 
unſere Pflanzungen zerſtört, unſere Brüder in heißer Schlacht 
getödtet, unſere Flagge beſchimpft, unſer Volk über die Erde 
zerſtreut, und Onkel Sam“), während er uns die Kehle zu— 
ſammenpreßte und unſere Taſchen wie ein richtiger Straßen— 
räuber ausleerte, erklärte, daß wir Alle ſeine Kinder wären 
und er die nur züchtige, die er liebe. — Peſt und Tod!“ 
unterbrach ſich der Sprecher, indem er von feinem Sitz empor: 
ſprang und mit blitenden Augen vor George Bradſhaw ftehen 
blieb — „ſie find Sieger geblieben, ja, aber fie haben noch 
nicht gefiegt, und wenn Alle jo dädhten und — handelten 
wie ich, jo wollten wir die — Brut bald von der Erde ver: 
tilgt haben.“ 

„Die meint Du das, Markham?“ ſagte Bradiham jebt 
vollfommen ruhig und feinen Blid von dem Schwager ver: 
wendend — „ich veritehe Dich nicht.‘ 

„Ich werde deutlicher reden,‘ achte diejer bitter — „haben 
Deine Eltern nit das Nämliche erduldet, wie taufend Andere? 
St Dir nit felber das Eigenthum, das einft in Deine Hände 
übergehen follte, zerſtört worden? Mir zündeten fie am hellen 
Tage das Haus an und brannten meine Fenzen nieder, und — 
ih habe einen furchtbaren Schwur gethan, nicht eher die 
Waffen aus der Hand zu legen, biß ich volle, überfatte Rade 
an diefen Räubern und Dieben genommen habe. f! 

‚Uber, Markham,“ jagte Bradſhaw, „was kannſt Du 
allein gegen ein Volk ausrichten? War denn die ganze Armee 
der Südſtaaten im Stande, das Vordringen des Nordens zu 
verhindern? Doch wir gerathen auf ein ganz anderes Capitel. 
Du haſt mir meine Frage noch nicht beantwortet.“ 


*) Uncle Sam, nach ven Anfangsbuchſtaben U. S. —- United States. 


A — 625 


„Hab' ich nicht?" lachte Markham, und feine kleinen 
Augen zogen fih mit einem fpöttifhen Lächeln fo dicht zu— 
jammen, daß die Pupillen nur wie zwei Strahlen zwiſchen 
den halbgeſchloſſenen Lidern hervorblitzten. „Nun denn, 
George, jo will ih nod deutlicher zu Dir reden, denn Du 
darfit mich nicht verrathen, und fhon daß Du nad) Teras ge- 
fommen bift, zeigt mir, wie au) Du, des nordifchen Ueber— 
muths müde, ſelbſt unjere Heimath verlafien Haft, um jenen 
Sefindel aus dem Wege zu gehen. Du fragft mich, ob eine 
Bande eriftirt Habe, die diefe Gegend unfiher machte 
und der Opfer nah Opfer gefallen? — Sieh mid an — 
die Bande, gegen welche Die Yankees ſchon ein ganzes Truppen 
corps ausgefandt haben, um fte aufzureiben oder zu zerftreuen, 
die Bande, die den Boden hier herum mit Blut gedüngt — 
fie jteht vor Dir, und dieſe eine Hand Hat den Krieg fort- 
geführt und wird ihn fortführen, jo lange fie noh Kraft 
genug behält, ein Mefjer zu halten oder eine Büchſe abzu= 
drücken.“ 

„Markham!“ rief Bradſhaw, entſetzt von ſeinem Stuhl 
aufſpringend, denn der Verdacht, der ihn hierher geführt, den 
er aber noch immer, ſeit er den Mann erkannt, faſt gewalt— 
ſam von ſich abgehalten, war zur furchtbaren Wahrheit ge— 
worden — „Markham, es iſt nicht möglich, daß der Gatte 
meiner Schweſter —“ 

„Bah,“ unterbrach ihn Markham lachend, „haſt Du mir 
etwa nicht den Muth zugetraut, den Feinden bis zum letzten 
Blutstropfen das Meſſer zu zeigen? — Aber höre mich an,“ 
ſetzte er mit halbunterdrückter Stimme und raſcher hinzu, 
„denn ich wollte Dir einen Vorſchlag machen. Drei volle 
Monate faſt habe ich dieſen Platz allein inne gehabt, allein 
meine Rache verfolgt, und welcher Yankee, welcher Nigger 
durch ſeinen Unſtern in meinen Weg geworfen wurde, ſah nie 
den Norden wieder. Dann traf ich mit meinem jetzigen 
Partner, mit Simps zuſammen, und er bot mir wenigſtens 
eine Art Geſellſchaft, und war mir von Nutzen, die Leichen 
aus dem Weg zu ſchaffen. Aber er iſt ſonſt ein widerwärtiger 
Geſell, feige dabei und nicht im Stande, einem Manne entgegen 
zu treten, ja, ich — traue ihm ſelber nicht einmal und bin 

Fr. Gerſtäcker, Erzählungen :c. 40 


626 


fejt überzeugt, er würde mich, wenn er feinen Vortheil dabei 
fähe, mit fo ruhigem Blute verrathen, als ob er irgend ein 
Pferd oder ein Rind an einen Nachbar verkaufte.‘ 

„And in folder Geſellſchaft magit Du leben, John?’ 

„Ich ſage Dir ja, daß ih ihn fatt habe, und ich kann 
ihn entbehren, ſobald Du Dich entfchließt, bei mir zu bleiben.‘ 

„Und er würde im nächſten Augenblid hingehen und Dich 
verrathen.‘' 

„Dagegen gäbe ed ein Mittel,’ lachte Markham heijer 
vor fi Hin, und feine Augen blitten in unheimlichem Feuer. 

„Menſch!“ rief Bradſhaw entfebt, „haft Du denn menſch— 
lies Blut in den Adern oder den Lebensſaft einer Hyäne, 
eines Tigers?“ 

Markham fcehwieg, aber der lauernde Blid, den er auf 
jeinen Schwager jchoß, verrieth, was in diefem Augenblid in 
feinem Innern vorging, denn Mißtrauen und QTüde lag 
darin. Bradſhaw date in diefem Moment aber wirklich 
mehr an die Schande feiner Familie, als an feine eigene 
Sicherheit. 

„Um Gottes willen, John,’ rief er aus, „gieb dies vers 
zmweifelte Leben auf; unſer ſchönes Land iſt groß und weit,’ 
und überall öffnet fich dem fleißigen Manne ein einträglicher 
Schauplaß für feine Thätigfeit. Du bift dem Geſetz ver: 
fallen, aber noch weiß Niemand um Dein Verbrechen oder 
hat Verdacht auf Dich, ala ich und Dein Begleiter, der aber 
jelber wohl aus guten Gründen ſchweigen wird. Kehre in 
die Staaten zurück, oder gehe nah Merifo, Yucatan, 
Brafilien — wohin Du willſt, nur febe dies Leben nicht 
länger fort, oder glaube, daß die Regierung der Vereinigten 
Staaten e8 dulden würde.‘ 

Markham lachte. Seins Schwager Worte hatten ihr 
wieder beruhigt. Er glaubte nicht mehr von diefem verrathen 
zu werden, aber ein unheimlicher Strahl blitte aus feinen 
Augen. 

„Du haft den Plab getroffen,‘ rief er, „den ich mir zu 
meinem fünftigen Aufenthalt auserfehen: Braftlien — aber 
vorher muß ich hier fo viel verdienen, daß ich mir dort wieder 
eine Anzahl Neger kaufen kann, und glaube mir, ich bin dazu 


627 
auf dem beiten Wege. Aber nicht im Schmeiße meines An— 
geſichts will ich den Boden eines Herrn adern, wo ich felbjt 
früher Herr war, Nein, die verdammten Dankfeed jollen mir 
jelber da Geld dafür hierher in die Wildniß tragen und 
mit ihrem Leben das meines Weibes bezahlen. Tod und 
Hölle! fünfunddreißig Habe ich Schon, feit ich mich Hier nieder: 
gelafjen, Falt gemacht — aber nicht eher gehe ich von der 
Stelle, bis das Hundert voll iſt.“ 

„Markham!“ rief Bradſhaw. 

„Da haſt Du mein Programm für die nächſte Zeit,“ 
lachte der Bandit. „Zu fürchten habe ich von Simps ſelber 
wohl kaum etwas, denn trotz ſeiner ſonſtigen Feigheit klebt 
doch das Blut von drei Yankees an ſeinen Händen, denen er 
von hinten beizukommen wußte. Andere Zeugen aber gegen 
mich,“ ſetzte er höhniſch lachend hinzu, „leben eben nicht mehr, 
um etwas gegen mich auszuſagen.“ 

„And wenn fie Dich hier aufſpüren und Deine Hütte um— 
zingeln,“ rief Bradſhaw, „weißt Du, daß dann nichts Ge: 
ringeres als der Strid Dich erwartet 2 

„Die Hütte umzingeln?“ Tächelte der Berbrecher, „und 
glaubſt Du, daß das, mit dem Hurricane im Rücken, möglich 
wäre?“ 

daſſelbe Dickicht ſchneidet auch Dir jeden Weg zur 
Flucht ab. 

„Meinſt Du,“ ſagte Markham ſpöttiſch, „daß ich mich in 
ſo plumper Weiſe fangen ließe?“ Er trat zu der hintern 
Thür, zog den Pflock heraus und öffnete ſie. „Siehſt Du 
da meine Nothröhre?“ lachte er dabei — „laß da hinein mir 
folgen, wer Luſt dazu verſpürt, aber er wird nie zurückkehren, 
um das, was er entdeckt hat, weiter zu erzählen. Da hin— 
durch liegt nicht allein die Bahn zur Freiheit — nein, Wochen 
lang könnte ich mich dort drinnen in aller Ruhe halten und 
jeder Verfolgung ſpotten — wenn es mir eben paßte, das zu 
tyun. Hahahaha! — Du follteft die Windungen und Wege 
da drinnen, die ſich nach allen Richtungen auszweigen, nur 
einmal jehen, und würdeſt es dann begreiflich finden, daß ich 
jeder DVerfolgung mit leichter Mühe troten Tann. Dort 
drinnen liegt auch meine Schabfammer, Die aber Simps natür- 

40* 


628 


lich nicht Fennt, ſonſt hätte er mir ſchon lange heimtüdijch 
eine Kugel durch den Kopf geſchoſſen, der Lump. Nein, 
George, ich bin hier nicht lebendig zu fangen, und verdammt 
will ich ſein, wenn ich von meinem Poſten weiche, bis ich 
meinen Schwur gelöſt. Willſt Du alſo —“ er horchte auf, 
denn die Hunde draußen knurrten und ſchlugen gleich darauf 
laut an, und als er einen Blick durch eine der Spalten der 
Hütte warf, erkannte er Simps, der, das Pferd am Zügel, 
den gefundenen Hirſch über den Sattel gebunden, auf das 
Haus zukam und gleich darauf, von den Hunden angeheult, 
den Platz erreichte. Aber er nahm ſich nicht einmal Zeit, 
ſein Pferd anzuhängen, ſondern ließ es einfach vor der offenen 
Pforte ſtehen — er wußte, es lief doch nicht fort, bis es 
nicht ſeine Laſt los geworden, und ſprang dann ohne Weiteres 
in's Haus. 

„Damn it!“ rief er hier, wie er nur die Schwelle betrat 
— „was ift denn im Wind, John? Wie ich eben über low 
branch fan — Ihr kennt den Plab, wo der alte Maulbeer- 
baum ſteht — und dann gleich hier herüber biegen wollte, 
hörte ih nad dem ‚Weg‘ zu Stimmen und Pferdejchnauben. 
Mich Fonnten fie von dort nicht fehen, denn die niedere Hügel: 
reihe mit den Palmettobüfchen Tiegt dazwiſchen, und als ich 
die hinankroch, um zu fehen, was e8 da gebe, hielt ein Trupp 
Reiter im Weg und ſchien fich über irgend 'was zu berathen. 
Das dauerte aber nicht lange, denn gleich darauf feßten fie 
fih wieder in Marſch, und verdammt will ich fein, wenn fie 
nicht ganz joldatenmäßig ritten; einer, wie ein Dfficier voran, 
dann zwei und zwei und zuleßt wieder ein einzelner; zufammen 
waren e& zehn Mann.‘ 

„Und welche Richtung nahmen ſie?“ frug Markham. 

„Nach dem Fluß zu —“ 

„Nun, was dann?“ 

„Ja, aber nach einer kleinen Weile hielten ſie wieder. 
Der Weg dort iſt doch deutlich genug kennbar, daß ſie ihn 
nicht verfehlen konnten, aber ſie ſchienen über etwas nicht recht 
einig zu ſein, denn einer von ihnen ſprengte den Hügel hin— 
auf, wo der Baum ſteht, den der Blitz neulich getroffen hat, 
und ſchien ſich dort nach etwas umzuſehen. Dann ritt er 


629 


wieder zurüd in Reih und Glied, und langſam verfolgten fie 
von da an ihren Weg. 

„Wer weiß, was fie wollen,’ fagte Markham, mit den 
Achſeln zudend, indem er hinaus vor die Thür trat, den auf: 
gebundenen Hirſch losſchnürte, mit Simps' Hülfe in das 
Haus trug und dann dad Pferd frei ließ. Aber die Sache 
ging ihm doch im Kopfe herum, denn was hatte ein militärifch 
geordneter Zug hier im Walde zu thun und wo fam er her? 
Zufällig vielleicht nur fiel fein Blid dabei auf feinen Schwager, 
und ein eigener Verdacht ftieg rafch in feinem Herzen auf — 
wußte er ja doch, daß er ein völlig vogelfreies Leben führte, 
und er fonnte deshalb feinem Menſchen trauen. 

Bradſhaw Hatte auch in der That mit der gefpanntejten 
Aufmerkſamkeit den Worten ded jungen Verbrecher gelaujcht. 
Das waren die Freunde, die zurüdfehrten und, pünkllich der 
gegebenen Drdre folgend, jehen wollten, was aus ihn geworden. 
Und was jebt, wenn fie heranfamen? Faſt unwillkürlich 
trat er in die Thür, und fein Blid fuchte der Richtung zu, 
von welcher der Pfad, den er jelber gefommen, zum Haufe 
führte. Markham fing den Blid auf. 

„Halo, George, fagte er — „weißt Du etwas von den 
Burſchen, die Simps da draußen gefehen hat? — Damn it, 
Du ſcheinſt fie beinah von dort her zu erwarten. Sit das 
etwa Deine Begleitung, die Dich ſucht?“ 

„Hol's der Teufel, Markham,“ rief Simps, der kreide— 
bleich geworden war, ‚laß uns Lieber unfer Verſteck fuchen, 
bis das Gefindel vorüber ift, Dein Schwager felber wird 
Dich doch wahrhaftig nicht verrathen, und wenn er Luft da= 
zu hätte —“ er griff unter die Weite, jedenfall nach einer 
— Waffe, wie um ſeinen Worten Nachdruck zu 
geben. 

Der entſcheidende Moment war gekommen. Bradſhaw 
fühlte, daß wenige Minuten vielleicht ſchon ihn zum Handeln 
drängen konnten; denn erreichten ſeine Leute die Stelle, wo 
der Pfad mit den eingekerbten Bäumen nach dieſem Hauſe zu 
abzweigte, ſo kamen ſie auch in ſcharfem Trab heran, und 
daß er, den Markham in alle ſeine Geheimniſſe eingeweiht, 
nicht ungeſchädigt — nicht lebendig in dem Hauſe zurückge— 


630 


loffen wurde, um jpäter al3 Zeuge gegen fie aufzutreten, 
wußte er. 

Er hatte die Arme auf der Bruft gefreuzt, aber fo, daß 
er jeinen unter dem Rod verborgenen Nevolver faffen Konnte, 
jein Antlib war auch wohl bleicher als fonft geworden, aber 
jein Falter Muth verließ ihn feinen Augenblid, | 

„Don den Burſchen, die Simp3 draußen gejehen, Mark: 
ham,‘ jagte er, indem er in das Haus zurüdtrat und fid 
gegen jeinen Schwager wandte, „weiß ich allerdings. Es ift 
eine Abtheilung DVereinigter-Staaten-Soldaten, die nah Texas 
gefommen find, um das Land bier von einem Fluch zu be- 
freien, der die lebten Monde auf ihm gelegen.’ 

„Teufel!“ jchrie Simpd und riß feinen Revolver aus 
dem Gürtel, „ob ich's mir nicht gedacht habe, Markham, und 
das ift Euer Schwager ?'’ 

„Der Dfficier der Truppe !’' jagte Bradſhaw mit eiferner 
Ruhe, indem fein Auge den Spieler ftreifte, daß diefer einen 
Icheuen Blick nad) der Thür warf, die in dag Didicht führte. 
Während aber Bradſhaw von dem vordern Kingang zurüd- 
trat, um mit Marfham zu’ fprechen, hatte er wie zufällig jeine 
Stellung ſo genommen, daß er die Inſaſſen des Hauſes ver- 
Hindern konnte, durch die Hinterthür zu entkommen. 

Markham überfah im Nu die Gefahr, in der er fich be- 
fand. Es unterlag feinem Zweifel mehr, daß Bradſhaw als 
Spion zu ihm gefommen — aber wußte er denn damals, daß 
er in ihm den Schwager finden würde, und konnte er ihn 
jebt verrathen wollen? Und doch — wie düjter- haftete fein 
Blick auf ihm! 

„George, rief er mit vor innerer Bewegung faft er: 
jtiter Stimme, ‚wa3 haft Du vor? Du weißt, daß Du in 
meiner Gewalt biftz das geringite Zeichen einer feindlichen, 
verrätherifchen Abficht gegen mich, und Grant's ganze Armee 
fönnte Dir nicht lebendig über diefe Schwelle helfen.“ 

„Da kommen fie — bei Gott!!! fchrie Simps — „Mark— 
ham, e8 ift Euer Schwager, aber er muß Sterben !'' 

Markham antwortete feine Silbe; Bradiham war in der 
That unmittelbar vor die Thür getreten, die ihnen allein einen 
Ausweg bot. Ein Blick hinaus überzeugte den Räuber, 


631 


daß die jebt Deutlich erkennbaren Reiter wenigſtens noch 
Minuten gebraudten, ehe jie das Haus erreichen konnten. 
Mit der Bewegung feines vorgeftredten Armes dröhnte aud) 
ſchon der Schuß ſeines Revolvers dur den engen Raum, 
aber er wurde faſt in demjelben Moment beantwortet, und in 
den Pulverdampf, der jo rajch feinen Ausweg fand, hinein 
ſtürzte er, eine Leiche, unmittelbar vor Simps zur Erde nieder. 

Mit dem Knall aber auch faft und ehe der junge Spieler 
in feigem Entjegen einen Entſchluß faflen fonnte, fühlte er 
eine eiferne Hand’an jeiner Kehle. 

„Beſtie, auf die Kniee!“ donnerte ihm Bradiham zu, 
indem er ihm die Waffe mit voller Wucht gegen die Stirn 
jtieg — „Du wenigſtens ſollſt hängen!“ 

„Gnade, Erbarmen!“ fehrie der Verlorene, von dem Stoß 
Halb betäubt, indem er feinen Revolver fallen Tief. 

Draußen donnerten die Hufe heran — die Reiter hatten 
die Schüffe gehört — die Rüden fprangen gegen fie an, aber 
von fünf, ſechs Kugeln zu gleicher Zeit getroffen, waren fie 
bald unihädlih, und in die Thür der Hütte ftürmte die 
wadere Schaar. 

„Bradſhaw!“ ſchrie Cooly in wilder Verzweiflung, als er 
in dem Pulverrauh nur undeutlich die auf dem Boden aus— 
geftredte Geftalt und die andere Gruppe erkennen Fonnte. 

„All right!“ rief ihm aber der Führer lachend entgegen — 
„wir haben das Neſt — hier den Burfchen bindet — der 
Andere hat feinen Lohn.‘ 

„Damnation !* ſchrie Cooly aufjubelnd, ‚aber die Jammer— 
gejtalt hier ift doch nicht der Räuber?“ | 

‚Da liegt er,“ fagte Bradiham düfter — ‚sohn Mark— 
ham, der blutige Bandit diefer Wälder — doch die Schande 
iſt wenigſtens der Familie erfpart, daß er in Little Rod den 
Salgen ziert — hinaus mit dem Cadaver!“ 

Bradſhaw erzählte jebt den Seinen mit kurzen Worten 
das Gefchehene, und er und Cooly, während Simps mit ges 
bundenen Händen und Füßen unter ficherer Bewachung zurüd- 
blieb, verfuchten nun, jenen Hurricane zu durchforſchen, von 
dem ihm Markham gejagt, daß er jeinen Raub dort ge: 
borgen — aber vergebend. Nur zu deutlich fahen fie, wie 


632 


vergeblih, ja unmöglich Hier eine Verfolgung geweſen wäre, 
wenn der Flüchtige nur felbjt zehn Schritt Vorfprung gehabt. 
Zwei, drei möglichen Pfaden folgten fie, fanden ſich jedoch 
jedesmal zulebt in einem undurhdringlichen Gewirr von zu— 
fammengeftürgten und gebrochenen Aeſten und Stämmen; unter 
welchen von diejen Hin aber vielleicht ein geheimer Pfad lag, 
hätte Wochen gebraucht, um e8 zu erforfchen, und wer jollte 
hier nad) verborgenem Gelde fuchen? 

Bradſhaw Fehrte zu dem Haufe zurüd, und feine Ordre 
war bald gegeben. Für die Leiche feined Schwagers gruben 
die Leute mit ihren breiten Jagdmefjern in dem weichen Boden 
ein Grab aus, tief genug, um den Körper oben mit Erde zu 
bededen. Dann fcehleppten fie niedergebrochene Aeſte herzu 
und häuften fie darüber, damit die Wölfe den Cadaver nicht 
wieder außfcharrten, und drei Uhr Nachmittags etwa, nachdem 
ein paar der Soldaten die in der Nähe meidenden Pferde 
herbeigetrieben und zufammengefoppelt hatten, fette fich der 
feine Zug wieder in Bewegung, um die Nacht in feinem alten 
Quartier, der Plantage, zu verbringen. 

Mr. Cornhilt ſchien allerdings fehr unangenehm überrajcht, 
als er jebt fah, welche Säfte er damals beherbergt und welches 
Ende feine Grenzwächter genommen, durfte aber natürlich 
jeinen Gefühlen feine Worte geben und duldete ſelbſt ſchweigend, 
daß Bradſhaw den Negern erklärte, er wolle Jeden von ihnen, 
der nicht hier zu bleiben wünsche, mit nach Little Rod nehmen, 
wo wenigſtens die Alten und Kranken ein Unterfonmen 
finden ſollten. Faſt alle nahmen auch fein Anerbieten an, 
mit Ausnahme eines Einzigen, der früher Hausdiener gemejen 
und jebt von Cornhilt gut bezahlt wurde. Das wenige Ge: 
päd, was die Unglüdlichen befaßen, wurde dann auf die er— 
beuteten Pferde geladen, und zwiſchen diefen, von zweien der 
Leute ſcharf bewacht, ging mit auf den Rüden gebundenen 
Händen der gefangene Spieler. — Simps murde fpäter im 
Little Rod gehangen. 

Bon da an hatte aber auch das Treiben der jogenannten 
Raubbande am Ned River ein Ende, und es ift eine eigen- 
thümliche und für die Vereinigten Staaten höchſt wichtige und 
ehrenvolle Thatſache, daß nah dem Friedensſchluß fein ein- 


633 


ziger Verſuch gefeßlofen Geſindels mehr gemacht wurde, die 
Sicherheit der Bewohner oder Keifenden zu ſtören. Gefindel 
giebt e3 ja in allen Ländern, jo auch hier, und einzelne Raub: 
anfälle und Morde fallen in den civilifirteiten Städten Europas 
vor, ja gehören dort nicht einmal zu den Seltenheiten; aber 
hier bot das weite, reiche Land überall den entlafjenen Soldaten 
einen fichern Broderwerb, und beide Armeen, die des Nordens 
jowohl wie die des Südens, verſchmolzen kaum aufgelöft 
auch ſchon wieder mit dem DBolfe, aus dem fie genommen 
worden, 


Ein Kunſtſtück. 


Francisco Coutinho war der Sohn eines fehr reichen 
Facenderos oder SKaffeepflanzer® aus dem Innern, der fi) 
jedoch mit dem abgejchlofjenen Leben da draußen gar nicht be: 
freunden fonnte und von feinen Eltern endlich zu feinem 
Onkel in die Hauptitadt gefandt wurde, um dort ein wenig 
erzogen zu werden. Da draußen war fon gar nicht mehr 
mit ihm auszufommen, 

Sein Onkel in Rio follte aber nicht viel Freude an ihm 
erleben; er war wohl ein hübſcher Burſche und aufgewedter 
Kopf, aber zu Feiner Arbeit zu bringen, dafür jedoch defto 
gemwifjenhafter bei allen tollen Streichen, die in Nio ausge— 
führt wurden, und fo Fed und öffentlich gab er fich feinen 
üblen Neigungen hin, daß ihm alle anftändigen Familien bald 
den Zutritt verfagten oder ihm doch ſoviel als möglich aus— 
wichen, und Mütter ihre Töchter nicht weniger forgfältig vor 
ihm hüteten, als die alte Henne ihre Küchelhen vor dem in 
der Luft feine Kreife ziehenden Habicht. 

Der Onkel in Rio, einer der reichiten Kaufleute der Haupt— 
ftadt, correfpondirte endlich über den unverbejlerlihen Neffen 
in das Innere mit feinem Bruder, und es wurde beichlojjen, 
den ungerathenen und faſt verwilderten jungen Mann auf 
ein paar Jahre unter die ftrenge Aufficht eines dritten Bruders 
in Liffabon, des Generals Coutinho, zu ftellen. 


639 


Francisco Coutinho ſchiffte fich wirflih auf dem allmonat— 
Lich abgehenden franzöfiihen Dampfer nach Liffabon ein, und 
die Hauptſtadt athmete förmlich auf, als diefer junge Stören- 
fried erft draußen in offener See ſchwamm und Meile auf 
Meile zwijchen fi und Rio de Janeiro legte, 

So vergingen drei volle Jahre, und man hatte den wilden 
und wüſten Menſchen längft vergefjen — oder doch wenigſtens 
erwartet, ihn nie wieder in Brafilien zu fehen. 

Da durchlief plöblih das Gerücht die Stadt: Francisco 
Coutinho tft mit dem lebten Dampfer zurüdgefehrt! In der 
Paflagierlifte jtand auch wirklich fein voller Name; man fonnte 
alfo nicht mehr daran zweifeln. Natürlich lebte er dabei in 
dem Gedächtniß der Brafilianer noch genau fo, wie er fid 
damals verabjchiedet hatte, und es läßt fi denken, daß Die 
Freude über feine Rückkehr Feine befonders große war. 

Allerdings hieß es bald darauf — mvielleiht durch Die 
Familie jelber verbreitet — in der Stadt, Francisco jei ein 
ganz anderer Menſch geworden und habe fih von Grund aus 
gebefjert, aber — man traute doch nicht recht, denn Die Jahre 
waren zu rafch vergangen, und die Leute hielten, bei einen 
fo verdorbenen jungen Menſchen, eine vollftändige Befjerung 
für überhaupt unmöglich. 

Uebrigens ſah man anfangs wenig von ihm, und die eriten 
Wochen hielt er fich meilt zu Haufe. Höchftens machte er auf 
einem prachtvollen Kappen, den er von Europa mitgebracht, 
Spazierritie in der wundervollen Nachbarſchaft der Stadt. 
Uber das Leben mochte ihm doch wohl auf die Länge zu 
monoton vorkommen, und er begann nad und nad Beſuche 
zu machen, um alte Verbindungen wieder anzufnüpfen. Da 
freilich follte er bald genug erfahren, daß man fein früheres 
Treiben hier noch nicht vergeffen hatte und ihm deshalb aud) 
nicht zutraute, es jo raſch und entfhieden abgejchüttelt zu haben. 
Bei den meiften Familien fand er die Damen, nach denen er 
frug, nie zu Haufe Sie waren audgegangen oder in der 
Kirche oder auf dem Lande oder oben in San Pedro, Furz 
überall, nur gerade da nit, wo er fie Haben wollte, und 
das wiederholte fich fo oft, daß er zuleßt ärgerlich darüber 
wurde und feinem Vater rundheraus ſchrieb, Rio de Janeiro 


636 


fei nichts als ein großes Dorf, und er denke gar nicht daran, 
fein Leben länger hier zu verbringen. Er wolle wieder nad) 
Liſſabon oder Paris gehen; Brafilien könne jeinetwegen der 
Henker holen. 

Seine Eltern, die den Sohn nicht wieder miſſen mochten, 
thaten ihr Möglichites ihn zu überreden, und er ließ fich denn 
auch wirklich bewegen, e3 noch eine Weile mit anzufehen und 
feine Berfuche, wieder Fuß in der Geſellſchaft zu fallen, zu 
erneuern — aber er hatte leider Feinen beſſeren Erfolg als 
früher, denn nur zu bald ſprach es fich in der Stadt herum, 
daß er fein altes Leben von Neuem — wenn auch noch etwas 
im Geheimen — beginne, von einer Befferung alfo feine Rede 
fein fünne Die Thüren blieben ihm verfchloffen, und er er: 
Härte jebt feiner Tante ganz beftimmt, daß er nicht länger 
in der Hauptftadt bleiben wolle. 

Der Onkel jedoch, von feinem Bruder dringend dazu auf- 
gefordert, konnte fih no immer nicht an den Gedanken ge 
mwöhnen, ihn wieder fortzulaffen, und beſchloß deshalb, ein 
„letztes Mittel‘! zu verfuchen, um Francisco mit der Gefell- 
Ihaft von Rio de Janeiro auszuföhnen und derfelben zu zeigen, 
daß er, wenn auch vielleicht in der Jugend ein wenig wild, 
doch jebt ein tüchtiger Mann geworden fei und wohl verdiene, 
in ihre Reihen aufgenommen zu werden. 

Er arrangirte in feinem ſchönen Haufe, das unmittelbar 
an der Stadt gelegen die ganze herrliche Bai überfchaute, einen 
. großartigen Ball, zu dem die erften Familien der Stadt ge 
laden waren und natürlich weder abfagen fonnten noch wollten. 
Dort traf denn aud in der That die Elite von Rio zufamnen, 
und was an Glanz und faft feenhafter Pracht, von diefem 
Klima begünftigt, aufgeboten werden konnte, war in der That 
geſchehen. 

Francisco war dabei die Liebenswürdigkeit ſelber und ſchien 
die bisherigen, fo zahlreich empfangenen Zurückweiſungen total 
vergefjen zu haben, aber — es iſt die alte Geſchichte: gebt 
einem Hunde einen böfen Namen, und die ganze Welt läuft 
mit Knüppeln hinter ihm drein, und Francisco war trotz 
feines Reichthums, was gewiß viel jagen will, von den jungen 
Damen nun einmal gewiffermaßen in den Bann gethan. 


637 


Wenn fih aud Einzelne vielleicht gern ihm genähert hätten, 
hielt ſie doch die Scheu vor den Uebrigen zurück, denn ſie 
wußten, wie Aller Augen darüber wachten; und es blieb 
deshalb ſtets nur bei einem ſchüchternen Verſuche. 

Man durfte natürlich nicht unartig gegen den Neffen des 
Haufes fein, aber man vermied ihn Doch, wo man nur irgend 
konnte, und natürlich merkte das der ohnehin ſchon mißtrauifche 
Francisco bald und zog fich endlich felber, düſter brütend, in 
eine Fenfternijche zurück. Uber er blieb da nicht lange, fondern 
johritt dem Ausgange des Saales zu, wo ihn fein Onkel traf 
und bejorgt anredete, weil er glaubte, Francisco wolle die Ge— 
jelichaft verlafjen — und dann wäre der Bruch unheilbar 
gemeien. 

„Hab' keine Angſt, Onkel,“ Tachte aber dieſer, „weshalb 
auh? Ich amüſire mich vortrefflich, aber ich fürchte, viele 
der geehrten Herrſchaften — alle Die wenigjtens, die nicht 
am Tanze theilnehmen, langweilen fih, und ich möchte doch 
auch etwas zur Unterhaltung beitragen, die Leutchen glauben 
fonjt wahrhaftig, ich hätte mich ganz umfonft drei Jahre lang 
auf dem Eontinent bewegt.” 

„Aber was willft Du thun?“ 

„rap mich nur,‘ Tächelte Francisco,‘ ‚ich habe eine Fleine 
Ueberrafhung für Alle und gebe Dir mein Wort, daß morgen 
die ganze Stadt, für die ich bis jebt fo gut als gar nicht 
eriftirt habe, von weiter nichts al3 meiner unbedeutenden Perſon 
ſpricht. Aber ich brauche dazu einige Vorbereitungen.‘ 

Damit glitt er feinem Dnfel unter den Händen meg. 

Der Tanz dauerte indefien fort — die jungen Damen 
flüfterten und kicherten mitfammen, wo der junge Coutinho 
wohl jo plöblich Hingefommen fei. Sie fürdteten fich vor ihm, 
ja, aber fie hätten es troßdem lieber gehabt, wenn er dageweſen 
wäre — ein ſolch wunderliches Ding ift ein Mädchenherz. 

Dicht an den Saal grenzte ein kleines Cabinet, das durch 
einen jchweren feidenen Vorhang von jenem getrennt war und 
in welchem bei Eleineren Geſellſchaften gemöhnlid das Büffet 
‚aufgeftellt wurde. Heute aber genügte der Raum dort nicht, 
und man hatte e& deshalb Teer gelaffen, um jpäter einige 
Spieltifche für ältere Herren hinein zu feben. 


638 


Dort war Francisco, von Niemand bemerkt, emfig be= 
Thäftigt, mit Hülfe einer Anzahl von Negern einen großen 
Tiſch und allerlei wunderliche Apparate herbei zu fchaffen, die 
er von Liſſabon mitgebracht, aber bis Heute noch nicht einmal 
ausgepackt hatte, 

Die Vorbereitungen dauerten indeffen nicht übermäßig lange, 
und eben war wieder einer der dort beliebten Tänze, eine Art 
Tandango, beendet worden, als plößlich ein einzelner, auf 
einen chineſiſchen Tam-Tam oder Gong geführter Schlag wie 
ein Kanonenfhuß Durch den Saal fchmetterte und in demfelben 
Augenblid der grüne Vorhang nach beiden Seiten hin aus— 
einander glitt. 

Die Damen fchrafen wohl im eriten Moment zufammen 
und drängten ein wenig von dem plöblich geöffneten Geheim— 
niß zurüd — aber nicht lange, denn im Nu erkannten fie 
Francisco Coutinho, der in bunter, phantaftifcher Tracht wie 
ein wirklicher Gaufler auf einem mit einem großen weißen 
Tuch überlegten Podium ftand und von mehreren Tifchen, 
auf denen eine Menge blinfender, merfwürdig geformter Ge- 
fäße ftanden, wie einem wahren Lichtmeer aufgeſteckter Kerzen 
umgeben war. 

Sebt wollte Alles jehen, was da vorging, die Herren 
mußten natürlich den Damen Raum geben, und wenige Minuten 
jpäter jah fi Francisco — fo ſehr und auffällig ihn die 
Señoritas von Rio bis dahin gemieden — von einer jungen, 
blühenden Mädchenſchaar umdrängt, die auf das Aeußerſte ge: 
ſpannt fchien, was er wohl beginnen würde. 

Endlih legte fih der erite Anſturm, und Francisco be— 
gann mit feiner volltönenden, melodifhen Stimme: 

„Meine verehrten Herrichaften, wenn ich mir heut Abend 
erlaube, Ihnen einige außergewöhnliche Kunftjtüde der alten 
Welt zu zeigen, jo gejchieht dies einestheils, um Sie zu amüfiren, 
anderntheils aber auch wieder, um Ihnen zu beweiſen, daß 
ich meine Zeit in Europa doch nicht jo ganz unnüb vergeudet 
babe, als hier und da der Verdacht aufgetaucht zu jein 
Tcheint. — 

. „Glauben Sie an Zauberei, meine jhönen Damen? — 
Ich will verfuchen, Ihnen einige Dinge vorzuführen, die ftark 


639 


an Zauberei zu grenzen feheinen, und erſuche Sie nur freund: 
lichſt, mir fharf auf die Finger zu fehen. Wie Sie bemerfen, 
habe ich meine Aermel aufgeftreift und kann alfo unmöglich 
etwas darin verbergen — bitte, pallen Sie jebt auf; das 
‚Spiel beginnt.’ 

Auf ein Zeichen von ihm hoben die ſchon inftruirten Mufict 
wieder mit einem Tuftigen Walzer an. Indeſſen traf er einige 
Borbereitungen, indem er mehrere Gefäße vorholte und an die 
betreffenden Stellen ſetzte. Dann famen die verjhiedenen, 
bei und ſchon befannten Kunftftüde, Punſch aus Baummolle 
fabriciren, der Fleine Vogel, die Taube, Geldverfchwinden, 
Ringe öffnen und viele andere mehr, die aber in Rio de Janeiro 
damals zum großen Theil noch unbekannt waren. Er jelber 
führte dabei die verfchiedenen Piecen mit einer wirklich be- 
mwundernöwerthen Leichtigkeit aus — dazu hatte er ganz ent- 
Ichiedene8 Talent, und die brafilianifhen Damen waren in 
der That entzüdt. 

Vrancisco aber lächelte nur, wenn wieder ftürmifcher Bei- 
fall losbrach, und ging anſpruchslos zu einem neuen über: 
raſchenden und oft faft räthfelhaften Kunftftüd über, bis er 
endlich fagte: 

„Aber, meine verehrten Herrihaften, die Zeit vergeht — 
ich jehe, daß da hinten Schon die Zeichen zum Souper gegeben 
werden, und ich möchte Sie doch unter feiner Bedingung lang: 
weilen. So erlauben Sie mir nur noch, daß ich Ahnen mein 
lebte und fchwierigftes Experiment zeigen darf, und damit 
wollen wir heut Abend jchliefen. BDürfte ich Sie bitten, 
meine Damen, mir einige von Ihren Schmudjahen für einen 
Moment anzuvertrauen. — Sip! hierher!“ — und während 
er winkte, brachte einer der Hausſclaven, ein breitfchultriger 
Neger, einen großen Meffingmörfer angefchleppt und ftellte 
ihn vor ihn Hin. | | 

„So, Señoritas,“ fagte Francisco dann mit freundlichen 
Lächeln, indem er heruntertrat und mit einem Körbchen in 
der Hand vor den Zufchauern herumging, „ich erfuhe Sie 
befonders um einige Uhren — aber Damenuhren — fie dürfen 
nicht zu groß fein — fehr ſchön, meine Damen — ad, da 
ift ein prachtooller Kleiner Chronometer — jehr ſchön — nur 


640 


nicht zu viel, meine Damen, bitte — ich habe ja, glaub’ ich, 
ſchon die Uhren der ganzen Gefellihaft — auch einige Colliers 
und Ketten dürfen dabei jein — jo — ſehr ſchön — ſehr 
ſchön. Sie beſchenken mich ſo reichlich — 

Er hatte in unglaublich kurzer Zeit das Körbchen mit den 
werthvollſten Schmuckſachen gefüllt, denn gerade in Rio wird 
ein ungeheurer Luxus mit ſolchen Dingen getrieben. Wie er 
eben nach oben ſteigen wollte, bot ihm noch ein kleines, aller— 
liebſtes junges Dämchen von kaum dreizehn Jahren mit 
ſchüchternem Lächeln ihre Uhr. Francisco nahm ſie, ſah das 
junge Mädchen und dann ſein Körbchen an und ſagte, die 
Uhr zurückgebend: 

„Ich muß bedauern, mein liebes Fräulein, aber für dies— 
mal, fürchte ich, bin ich ſchon zu reichlich verjehen und werde 
wohl noh Einiges zurüdlaffen müflen. Das nächſte Mal 
‚bitte ich Sie zuerft darum.” | 

Er ftieg jebt wieder auf feinen etwas erhöhten Stand hin- 
auf, und während die Blide Aller an ihm hingen, padte er 
die fämmtlichen erhaltenen Gegenftände mit der äußerften 
Vorſicht und Stüf für Stüd in den Mörfer. 

Alles war jebt geſpannt, was er damit vornehmen werde, 
und es jchien dabei faft unmöglid, daß eine Täuſchung ftatt- 
finden fönne, denn der Mörfer ftand unmittelbar vor dem 
Bublitum, und man konnte deutlich fehen, wie er mit zwei 
Vingern jeden einzelnen Gegenftand faßte und Hineinlegte. 
Zum Ueberfluß hob er auch noch, damit fertig, den Mörfer 
in die Höhe, um zu zeigen, daß er auch nicht ein Stüd da- 
Hinter verborgen habe. 

Sp," fagte er jebt, indem er die ſchwere Mörſerkeule 
nahm, die ihm der Neger ebenfalls brachte, „nun, meine ver— 
ehrten Herrſchaften, bitte ich Sie, ganz genau aufzupaſſen, 
denn jetzt kommt der entſcheidende Moment!“ Und damit ſtieß 
er die Mörſerkeule erbarmungslos auf den koſtbaren Inhalt 
nieder, ſo daß man deutlich die Uhrgläſer und ſchwächeren 
Gegenſtände in dem ſchweren Gefäß konnte klirren hören. 

Ein paar Damen ſtießen einen leiſen Schrei aus, denn 
das Alles war ſo natürlich gemacht, daß ſie ſchon für ihr 
Eigenthum in Sorge geriethen; Francisco aber, während 


641 


er feine Mörferarbeit unverdroffen fortjeßte, Tächelte und 
fagte: 

„Buchten Sie nichts, meine Damen, alle dieje jett zer: 
ſtörten ©egenftände werden auf ein Zauberwort von mir 
wieder unverfehrt vor Ihren Augen liegen — das ilt ja 
gerade meine Kunſt; haben Sie nur Acht!" 

Wohl fünf Minuten ftieß er fo mit aller Gewalt in den 
Mörſer hinein, endlich warf er den Stößer von fih, richtete 
ih auf und holte tief Athem. 

„So, meine Damen,‘ fagte er dann, während er den 
Mörfer nahm, um ihn umzudrehen, „ich Hoffe, ich habe Ihnen 
heut Abend doch ein Eleines Vergnügen bereitet, und das war 
nicht mehr als meine Schuldigfeit, denn ich bin, als ich aus 
der Fremde zurücdfehrte, gar fo lieb und freundlich von Ihnen 
Allen aufgenommen worden. Jetzt aljo paffen Sie auf —“ 
Damit wandte er das ſchwere Gefäß und fehüttete den In— 
halt, ein Durcheinander von blitenden Gegenftänden, deren 
Form nicht mehr zu erkennen war, auf ein weißes Tuch vor 
ſich aus. 

Alles drängte näher Hinzu, und ein lautes, erfchredtes 
„Ach“ entfuhr den Lippen mander Schönen, als fie die furcht- 
bare Berwüftung Jah. Uber Francisco lächelte, feiner Kunft 
fih bemußt, noch immer. 

„Erſchrecken Sie nit, Señoritas — jebt kommt das 
Zauberwort, und bitte, Heften Sie Ihre Augen feit auf Die 
Mafje da, denn während ich es ausſpreche, entjteht die Ver: 
wandlung vor Ihren Augen.‘ 

Bon dem einen Tifch ergriff er jetzt einen Kleinen Stab, 
nahm ihn in die rechte Hand, und fi zu jeiner vollen Höhe 
emporrichtend, blieb er wohl eine halbe Minute in dieſer Stel: 
lung, während auf ein Zeichen von ihm die Mufif wieder 
luftig einfeßte. 

Plötzlich hob er langſam die linke Hand zu feiner Stirne 
empor — mit ftieren Blicken mujfterte er die VBerfammlung. 

„Heilige Jungfrau!“ rief er aus, „ih habe das Wort 
vergeſſen!“ — und wie wahnfinnig ftürzte er nach dem 
Hintergrunde und verfhmand Hinter einem eine Tapetenthür 
verdedenden Vorhang. 

Fu Gerftäder, Erzählungen ꝛc. 41 


642 


Die Zufhauer blieben noch regungslos eine ganze Weile 
in faft peinliher Spannung — es war jedenfall3 ein Scherz 
von ihm — eine neue Ueberrafhung, wie fie fi jebt Schlag 
auf Schlag gefolgt. Die Mufik fuhr indefjen mit ihrer luſtigen 
Weile fort. 

„Das ift eine neue Schledhtigfeit von Coutinho,“ Freifchte 
da eine alte Dame auf, die ſich nach vorn zu drängen ſuchte, 
„er hat meine neue prachtvolle Uhr in einem Mörſer zer- 
ſtoßen!“ 

Gefürchtet hatten es ſchon Viele, aber Niemand wagte 
dem Gedanken Worte zu geben, aus Angſt, vielleicht ſpäter 
ausgelacht zu werden; jetzt aber war das ſtarrkrampfähnliche 
Gefühl explodirt, der Damm gebrochen, und mit ſtieren Blicken 
ftürzten fi die Nädhjiten auf den Trümmerhaufen von ver: 
einzelten Diamanten, Olasfplittern, Uhrrädern, verbogenem 
und zerftampftem Goldſchmuck. 

Der Sturm, der jebt losbrach — und es koſtete vorher 
Mühe, endlich die raufchende Muſik zum Schweigen zu bringen 
— mar ganz unbejchreiblih, nnd die jüngeren Herren ftürze 
ten nach verjchiedenen Seiten ab, um den Uebelthäter aufzu- 
finden — aber wo war Francisco? 

Die Hauddiener fagten, ſcharf verhört, aus, dag er ſchon 
früh am Morgen feine Koffer auf ein kleines Fahrzeug habe 
Ichaffen lajlen, das zum Auslaufen fertig draußen an der Mün— 
dung des Hafens lag und möglicher Weife nur auf ihn no 
gewartet hatte. Ein Brief in feinem Zimmer aber, den er 
fhon an dem Nachmittag gejchrieben, ließ Keinen Zweifel über 
die vollite Abficht, mit der er den Streich ausgeführt. 

Alles, was man erfahren konnte, war, daß der Schooner, 
der mit Tagesgrauen die Rhede verlafjen habe, nah New-York 
bejtimmt gewejen fei, und fo hatte fi) Francisco Coutinho 
an den Schönen Rios, die ihn mit Geringſchätzung behandelt, 
gerächt. 


Ein Beſuch. 


Es ift feit langen Jahren mein Schickſal geweſen, daß ich 
eine leider jehr große Anzahl von Briefen befomme, die — 
ſämmtlich, ohne Ausnahme mit der Form beginnen: „Ent: 
Ihuldigen Sie, wenn ein gänzlich Unbekannter’ — ꝛc. — 
Es find das jedesmal oft ſehr lange und ausführliche 
Schriftſtücke, die zuerft die Lebensgeſchichte des Betreffenden 
erzählen, dann die Verſicherung enthalten, daß fich derfelbe 
vor Feiner Arbeit ſcheue, und zulebt um einen kurzen Ueber— 
bi der Verhältniffe fümmtlicher Welttheile, wie um Nennung 
eines bejtimmten Punktes bitten, wohin fi) der Auswanderungs— 
Iuftige wohl wenden fünne, um eine feinen Fähigkeiten ent- 
Iprechende Stellung zu finden. — a nicht felten wird jogar 
von mir verlangt, ihnen eine folche möglicher Weiſe nachzu= 
weiſen oder ihnen doch wenigſtens Empfehlungen nad) Amerika 
oder Auftralien mitzugeben. 

Sch Iebe nur von dem, was id) mir mit der Yeder ver- 
diene, und wollte ich nur bie Hälfte jener Briefe beantworten, 
fo müßte ich die Schriftſtellerei vollkommen aufgeben, mir ein 
paar Secretäre halten und meine Zeit ausſchließlich auf dieſe 
Correſpondenz verwenden, aber das kann ich nicht. Was ich 
über Auswanderung weiß, habe ich in meinen letzten Reiſe— 
werken dem Publikum vorgelegt. Wer wirklich auswandern 

41* 


644 


will, mag die meinigen und Anderer Schriften darüber leſen, 
um fih ein eigenes Urtheil darüber zu bilden. Außerdem 
Ichiee ich grundfäßlich nie einen Fremden nad einem beſtimm— 
ten Punkt der Erde, weil ich die große Verantwortlichkeit 
dafür nicht übernehmen mag. Schildert man auch noch jo treu 
und gewillenhaft, die Bhantafie der EuropaMüden malt 
fih die Sache do ganz anders au, und wozu fih unnüber 
und unnöthiger Weile Vorwürfe holen ! 

Eine andere Klafje von Auswanderungsluftigen find ſolche, 
die unglücklicher Weiſe in der Nähe wohnen und uns in der 
eigenen Wohnung überfallen. Oft treibt ſie noch nicht ein— 
mal ein feſter Entſchluß, ſondern erſt ein unbeſtimmter Drang 
— ſie wollen erſt Erkundigungen über alle möglichen Welt— 
theile einziehen und ſich dann erſt entſcheiden — oder viel— 
leicht auch nicht. Daß ſie mir dabei mitten in meine Arbeits— 
zeit hinein gerathen und mir einen ganzen Vormittag ver— 
derben, fühlen ſie nicht. Wie der gute Mann, der ſich ein— 
mal zu mir hinſetzte und mir mit der größten Gemüthlichkeit 
ſagte: „Ach bitte, erzählen Sie mir einmal jetzt etwas über 
Amerika — ich habe g'rade Zeit —“ ſo haben ſie immer 
Zeit, und ich muß darunter leiden. 

Man will doch nicht gern grob gegen ſolche Beſucher 
ſein — lieber Gott, es iſt ja auch für ſie oft, wenn ſie wirk— 
lich mit ihren Familien auswandern wollen, eine Lebensfrage, 
und ich habe noch Niemanden fortgeſchickt, aber — ich ſitze 
dabei oft Stunden lang auf der Folter, und was ich dabei 
verſäume, vergütet mir Niemand wieder. 

Manchmal freilich — leider nur ſelten — kommt aber 
auch ein Lichtblick in dieſen Beſuchen. So erinnere ich mich 
eines, der mir ewig unvergeßlich fein wird. 

Ich ſaß in Gotha an meinem Schreibtifch, mitten in einem 
Roman, „Eine Mutter’, und hatte den Kopf gerade voll 
genug, als das Mädchen herein Fam und mir jagte, es jei ein 
Herr draußen, der mich zu Sprechen wünſche. — Er hätte nicht 
gut ungelegener fommen können. 

„Wer ift es?“ 

„Ich kenne ihn nicht — er ſagt, er wäre ein Buchbinder 
und müſſe Sie ſprechen.“ 


645 


Ein Buchbinder — da war noch Hoffnung und die Sache 
vielleicht in zwei Minuten abgemaht — er jolle nur fommen. 

Es dauerte einige Minuten, bis er die Treppe herauf ftieg 
— ich ſchrieb indefjen weiter, als es plößlich ehr entſchieden 
an die Thür Hlopfte und diefe, ehe ih nur „Herein“ fagen 
fonnte, auch jchon geöffnet wurde, und herein trat ein junger 
Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren, anftändig, wenn 
auch ein wenig auffallend gekleidet, mit einem Tichtblauen 
Frack und einer kirſchrothen Cravatte, beide etwa mitgenom= 
men; dazu blonde gelodte Haare und ein äußerſt vergnügtes 
rothes Gefiht, mit dem er mir einen fo gutgemeinten und 
fröhlichen „Guten Morgen’ entgegen rief, daß ih unmwillfürlich 
lächeln mußte. Es fah genau fo aus, als ob er jagen wollte: 
„Da bin id), haben Sie ſchon lange gewartet? aber jebt ſoll's 
los gehen!” Es war jedenfalls ein komiſcher Kauz. 

„Guten Morgen!’ fagte ich, „mit wen habe ich das Ber: 
gnügen?“ 

„Bitte,“ ſagte mein fideler Beſuch, „ich bin Herr Fried— 
rich Wilhelm Raſſel — Buchbinder meinem Beruf nach — 
aus Eiſenach —“ 

Ich mußte jetzt wirklich an mich halten, daß ich nicht ge— 
rade hinaus lachte; Herr Friedrich Wilhelm Raſſel ſchien 
aber mein vergnügtes Geſicht ganz in der Ordnung zu finden 
und dadurch gar nicht außer Faſſung zu kommen. 

„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ frug ich und deutete 
auf einen neben mir ſtehenden Stuhl. 

„Gewiß!“ ſagte Herr Friedrich Wilhelm Raſſel mit der 
größten Ruhe und war im Begriff, ſeinen Hut auf den ihm 
nächſten Gegenſtand abzulegen, als er dort etwas Außergewöhn— 
liches bemerkte. 

„Jemine!“ rief er, den Gegenſtand genauer betrachtend — 
es war ein Tigerſchädel — „iſt das ein Hundekopf? Bomben— 
element, was der für Zähne gehabt hat —“ 

„Es iſt ein Tigerſchädel —“ 

„Ih, nun ſehen Se 'mal an — und der war von einem 
lebendigen Tiger? den haben Sie wohl mitgebracht? — Und 
was ſind das Alles für curioſe Dinger?“ fuhr er, an der 
Wand herumblickend, fort. „Hören Se, was iſt denn das da?“ 


646 


Da ich Feine befondere Luft verjpürte, die doch nuklofe 
Arbeit zu beginnen, ihm meine ganze ethnographiihe Samm- 
lung zu erflären, jo unterbrad ich ihn und frug ihn, was 
ihn zu mir geführt. Die Gegenftände aber, von deren Eri- 
ſtenz im Allgemeinen er überhaupt wohl noch feine Ahnung 
gehabt, intereffirten ihn viel zu jehr, um ſich indirect und 
mit Artigfeit davon abbringen zu laſſen. Er frug nach jedem 
einzelnen Stüd und hörte faum, daß das indianiihe Waffen 
ſeien, als er mit der größten Bereitwilligfeit auf die indianifchen 
Berhältniffe überfprang. „Wie fehen fie aus?” „Freſſen fie 
Menihen? „Sehen fie immer nackt?“ Auh im Winter?‘ 
„Sind fie bös?“ und Taufende von derartigen wahnfinnigen 
ragen mehr. 

„Mein lieber Herr Raſſel,“ fagte ich endlih, „ich bin 
ſehr beſchäftigt — ich Habe nothwendig zu thun und ſehr 
wenig Zeit — eigentlich gar feine. Womit kann ih Ihnen 
dienen 2" 

Herr Raſſel warf noch einen verlangenden Blick auf Die 
Sammlung. „Ah ne, jehn Se ’mal, das ift ja wohl eine 
Lanze?“ 

„Ja — aber was hat Sie zu mir geführt?“ 

„Und da ſtechen ſie damit?“ 


Den beſten Menſchen können ſolche Fragen zur Ver— 
zweiflung bringen, und ich hätte ärgerlich werden können; 
Friedrich Wilhelm Raſſel ſah aber ſo vergnügt bei dem Allen 
aus und war ſo ſtill in ſich befriedigt — ich konnte ihm nicht 
böſe ſein. 

„Nun kommen Sie, mein guter Herr Raſſel,“ ſagte ich, 
„ſetzen Sie ſich jetzt einmal auf den Stuhl — rauchen Sie?“ 

„Ich habe keine Cigarre bei mir.“ 

„Hier haben Sie eine — da ſtehen Schwefelhölzer — ſo 
— wenn Sie mich wieder beſuchen, erkläre ich Ihnen jedes 
Stück,“ (ich war feſt entſchloſſen, dem Mädchen ſtrenge Ordre 
zu geben, daß ich nie wieder zu Hauſe wäre) „und nun 
ſagen Sir mir, was Sie eigentlich von mir wollen, denn ich 
muß ſelber gleich ausgehen.“ 

„Ja, ſehen Sie," ſagte Herr Raſſel, indem er ſich die 


647 


Cigarre anzündete, das Schwefelhölzchen in meine halbgeleerte 
Kaffeetaffe warf und fih dann, den Hut neben fih auf die 
Erde ftellend,, in dem Armftuhl behaglich nieberlieh, „ich bin 
eigentlich Buchbinder — mein Bater war auch Buchbinder 
und wohnte früher in Eiſenach, da aber fein Geſchäft dort 
nicht fo recht ging — wiſſen Sie, es waren zu viel Buch— 
Binder dort, und er hatte eine große Familie. Ich habe 
noch drei Brüder und vier Schweitern, und wenn wir Alle 
zujammen waren —“ | 

‚Aber, lieber Herr Raſſel, id muß wirklich gleich fort 
und möchte doch fo gern vorher —“ 

„Wo gehen Ste denn hin?“ frug Friedrih Wilhelm Raſſel 
mit der größten Unſchuld. 

„Ich — babe Geſchäfte zu beforgen, log ih in aller 
Verzweiflung. N 

Herr Raffel fah mich von der Seite an — als ob es 
ihm jelber fonderbar vorkomme, daß ich vorgab, in Gotha 
Geſchäfte zu haben, aber er äußerte nichts darüber. 

„Ja,“ bemerkte er nad einer Heinen Paufe, „eigentlich 
wollte ich nach Amerika, und — da Sie doh ſchon einmal 
ein Buch darüber gefchrieben haben, fo willen Sie gemiß, 
wie es dort außfieht. At da eine gute Stelle für Buchbinder?“ 

Amerifa — oben im Norden deden weite Eisflächen das 
Land; dort breiten fich die weiten Seen und Prairien; auf 
ihäumendem Roß jagt der Wilde den Büffel; rege Städte, 
reges Treiben; Sümpfe; wildverwachſene Balmendidichte; end— 
loſe Llanos und riefige Ströme; Wildniß jo weit das Auge 
reiht; fruchtbare Hänge und Triften; weite Pampas mit zahl- 
loſen Viehheerden und Nudeln von Wild bedeckt; und wo er 
in's Meer ragt, der ewige Fels, da ſchäumt die Brandung 
Dagegen und ftürmt ihn vergebend mit den eifigen Rieſen— 
wogen. 

„Iſt da eine gute Stelle für Buchbinder?“ 

„Platz genug haben Sie, erwiderte ih ihm, „ich wüßte 
Länder, wo Sie auf hundert Meilen keinen Concurrenten 
finden.‘’ 

„Donnerwetter,“ fagte Herr Rafjel, „und mo tft das?“ 

„Wohin in Amerita wollen Sie denn eigentlich ?'' 


648 


„Ja, dad weiß ich felber noch nicht,‘ Tautete die Antwort, 
„wenn ich nur gleich irgendwo einen Meifter wüßte! Bei den 
Sndianern ift wohl niſcht?“ 

Ich warf ihm einen mißtrauifhen Blick zu, denn unmill- 
fürlih fam mir der Gedanke, dag er mich zum Narren haben 
wolle — aber Friedrih Wilhelm Raſſel war „eine Seele von 
einem Menſchen“, er trug Fein Falſch in feinem Herzen. 

„ein, fagte ich, „bei den Indianern ift nicht? zu vers 
dienen. Sie müßten fih wohl einen civilifirteren Theil der 
Erde ausfuchen, vielleiht Rußland.‘ 

„Hm, fagte Herr Raſſel, „daran habe ih auch Schon ge 
dacht, aber meine Sehnfucht zieht mich nad) Amerika. Glauben 
Sie, daß ich feefranf werden würde?’ 

SH bejahte diefe Frage auf das Entſchiedenſte. Der 
Mann machte mir den unabweisbaren Eindrud, als ob er in 
diefem Augenblid Schon ſeekrank wäre, oder wirbelte nur mir 
der Kopf jo? 

„Hm,“ fagte er, „Amerika ift das Land der Freiheit und 
Brüderlichkeit. Jeder kann hingehen und dem Präfidenten die 
Hand geben, und fie ſchmeißen ihn nicht hinaus — und id) 
fann arbeiten und verzehren, was ich will, und die Polizei 
nennt alle Leute Sie. Nordamerika, mein’ ih, wo die Deuts 
ſchen alle über Bremen und Hamburg binfahren. Dort möchte 
ih ein Geichäft gründen, dann braudt man fih von feinem 
Meifter mehr ſchinden zu laffen, aber erft möcht’ ich eine Stelle 
haben, damit man fi) vorher ein bischen umfehen und Kunz 
den finden kann, und darum wollte ic) Sie bitten, mir eine 
hübſche Stadt in Amerika aufzufhreiben, wo noch fein Bud) 
binder iſt.“ 

„Aber dort finden Sie dann auch keinen Meiſter.“ 

„Hm — ja — das iſt wahr — aber das ſchadet am 
Ende nichts; dann fange ich gleich ſo an.“ Er nahm dabei 
ſeine Brieftafel aus der Taſche, um ſich die betreffende Adreſſe 
zu notiren. — 

„Aber, lieber Freund, was hilft Ihnen das? wo kein 
Buchbinder iſt, läßt auch kein Menſch Bücher einbinden, und 
Sie bekämen doch keine Kundſchaft!“ 

„Ueberlaſſen Sie das mir,“ ſagte Herr Raſſel, mit ſeinem 


649 


vergnügt lächelnden Gefiht, „darin kenne ih mid aus — 
fennen Sie feinen Ort?" 

„Ich Lönnte Ihnen Hunderte nennen, aber in Ihrem Ge: 
Ihäft finden Sie dort auch Feine Beihäftigung — wer läßt 
in der Wildniß binden?" 

„Bitte nur um eine foldhe Stadt — das Uebrige ift 
meine Sache.“ 

„Schön, lachte ih, „dann gehen Sie nach Perryville in 
Arkanſas, dort ift nicht allein Fein Buchbinder, jondern ich 
fann Ihnen auch die Verficherung geben, daß feiner daran 
denkt dorthin zu ziehen.’ 

„Perrywill,“ jchrieb Herr Raſſel nieder — „ſchreiben Sie 
„will“ mit einem f oder einem w?“ 

„Mit einem v.“ 

„Schön — in Arkanſas — wo liegt das?“ 

„Weit im Weſten.“ 

„Sehr ſchön,“ ſagte Herr Raſſel, ſchob die Brieftafel zurück 
und ergriff ſeinen Hut, „ich bin Ihnen ſehr dankbar. Wiſſen 
Sie, Herr Gerſtäcker, ich werde Ihnen über Alles ſchreiben — 
einſtweilen leben Sie wohl!“ Dann machte er die Thür von 
draußen zu und ſtolperte die Treppe hinunter. 

Ob er nach Perryville gegangen iſt? ich weiß es nicht, 
jedenfalls wird er nicht mit Beſtellungen auf Brockhaus' Con— 
verſations-Lexikon oder Geibel's Gedichte überſchwemmt worden 
ſein. 





Der Macaſſar-Hengſt. 


&3 mar einer jener wundervollen Abende, wie man fie 
eigentlich nur in den indifchen Tropen, und zwar in der Regen: 
zeit kennt. | 

Wir bemitleiden an recht heißen Sommertagen wohl zu: 
weilen die unglüdlihen Menſchen, die in einer folchen Zeit, 
wo wir uns ſchon in unferem nordifchen Klima vor Gluth 
nicht zu laſſen wifjen, auch noch unter der Linie wohnen und 
dort alfo wahrfcheinfich in der Sonne braten, und doch mie 
behaglich verleben fie gerade diefe Zeit im DVergleih zu ung, 
denn die Bauart ihrer Häufer ift nicht nur darauf berechnet, 
die Hite zu vermindern, während wir uns allein gegen Die 
Kälte hüten müffen, fondern die Tage find auch dort viel 
fürzer als bei und. Die Sonne geht regelmäßig um ſechs 
Uhr auf und um ſechs Uhr unter, und während bei uns 
noch das Tagesgeſtirn unerbittlic) auf die Erde niederbrennt, 
det dort Schon fühle Dämmerung den Boden, und die er- 
friſchenden Nahmittagsregen haben die Luft jo abgekühlt, daß 
Abends um fünf Uhr ſchon, was bei uns noch zu der heißen 
Zeit gehört, das Thermometer nie über 17 oder 18 Grad 
Réaumur zeigt und ein Balfamduft aus den Büfchen herüber- 
weht, der jeder Beſchreibung fpottet. 

An einem ſolchen Abend ftanden vor einem ber reizenden 


61. 


„Erbes“ oder Gärten von Cramat — einer der DVorftädte 
von Java, die Hinter Weltenreden Tiegt — einige Herren in 
europätfher Tracht, denen ſich auch mehrere elegant gefleidete 
Damen zugejellt hatten, auf der breiten und prächtigen, von 
mächtigen Laubbäumen beſchatteten und von Cocospalmen 
eingefaßten Straße, und betrachteten fich ein Pferd, das ihnen 
von einem Malayen zum Kauf angeboten war. 

Es war ein prahtvoller Macaſſar-Hengſt von für dieſe 
Race ungewöhnlicher Größe, mit buſchiger Mähne, feurigen 
Augen und einer Haltung, wie man fie fonft eigentlich nur 
bei Arabern findet. Die Haut war dabei fpiegelglatt, das 
Thier jedenfall3 noch jung, voll Feuer und Leben; der Malaye 
forderte auch einen ziemlich hohen Preis dafür. 

Die Herren, der eine ein Engländer, der andere ein 
Holländer und beides Kaufleute, Hatten hier ihre Befibungen 
neben einander, und der Engländer beabfichtigte das Pferd zu 
faufen, konnte aber noch nicht über den Preis einig werden, 
und traute auch dem Malayen nicht recht, der fich feines Vor— 
theils ficher ſchien. Die glatte, blanfe Haut de Hengites 
fam ihm nämlich bedenflih vor, und er fürdhtete, daß der 
ſchlaue Burſche dem Thiere vielleicht Arſenik gegeben habe, 
um e8 für kurze Zeit in vollem Glanze erjcheinen zu lafien, 
während es dann nachher um fo mehr zufammenfallen würde. 

Der Malaye Hatte das Pferd auch ſchon hin- und herreiten 
müſſen, und e8 ging unter ihm vortrefflich, während e3 jedoch, 
wenn fih ein junger Mann aus dem Geſchäft de Engländers 
darauf feste, nicht fo reht von der Stelle wollte und fi 
mehr unartig und ftörrifch zeigte. 

„Mein lieber Herr," fagte der Holländer zu feinem eng- 
lifhen Freund, dem da3 nicht befonders behagte, „die Ein- 
geborenen willen nun einmal mit diefen einheimiſchen Thieren 
auch befjer umzugehen. Sie verftehen einander bejjer, und jo 
fejt ich überzeugt bin, daß der Burfche da mit einem eng- 
liſchen Pferde gar nichts auszurichten wüßte, fo iſt er hier 
im Sattel Meifter und fann mit dem Thiere machen was 
er will.’ 

„Ja,“ nickte der Engländer, „das iſt's aber gerade, was 
ih fürdte. Der Halunke, der den Hengſt gern zu einen. 


692 


enormen Preis losſchlagen will, hat vielleicht, wie wir es ja 
auch bei den Beduinen finden, feine Kunftgriffe, mit denen er 
ihn für den Moment in Feuer und Erregung hält, und wenn 
ich das Thier gekauft habe, entdede ich in ihm eine gewöhn— 
lihe Schlafmüße, mit der ich nicht$ anfangen kann. Ich bin 
in der Sache eben nicht mehr grün und fchon zweimal ange- 
führt worden.” 

‚neuer Hat er genug,‘ meinte der Holländer lachend, 
„und wenn ich mir ein Pferd ausfuchte, nähme ich ein 
ruhigeres!“ 

„Haben Sie Keinen unter Ihren Leuten, der zu reiten ver— 
ſteht?“ frug der Engländer, ohne auf die Bemerkung etwas 
zu erwidern. „Wenn ich mich felber auffeße, kann ich das 
Pferd nicht fehen, und foll es denn ein Cingeborener fein, 
fo ift doch einer fo gut wie der andere.‘ 

Mynheer jehüttelte mit dem Kopfe. „Meine Leute,‘ Tagte 
er, „kommen das ganze Jahr in feinen Sattel, und wenn fie 
nur meine Thiere zur Tränfe führen, benehmen fie fi unge: 
ſchickt genug dabei — aber da fommt ein Javane,“ ſetzte er 
hinzu, „die halten nie mit den Malayen zufammen, und für 
ein paar Deut reitet der und das Pferd vielleicht vor.’ 

„Und verfteht er zu reiten?’ 

„Wir können ihn fragen.‘ 

Die Straße herauf, von Batavia, Fam die Schlanke, fait 
ftolge Geftalt eines der Eingeborenen, die ihre Heimath in 
den Bergen haben. Er trug den gebadeften”) Sarong um 
die Hüften, eine kurze Jade, ging natürlich barfuß und hatte 
an der Seite, wie alle diefe Leute, feinen Klewang. Diefe 
Waffe ähnelt in der Form oder Größe einem Hirihfänger, 
ift vorn aber dicker, und ſchwerer in der Klinge als am Heft, 
fo daß man einen wuchtigen Hieb damit führen kann. Gie 
brauden diefe Wehr auch befonders dazu, um fi im Innern 
des Landes durch die Büſche Bahn zu hauen. 

Auf dem Kopfe trug der Burfche einen wohl zwei Fuß im 


*) Badek ift eine eigene Art der Eingeborenen, um ihr Zeug zu 
färben, indem fie die Zeihnung darauf erft mit Wachs bededen, 
wodurch jene überzogenen Stellen dann licht und zum Theil von der 
Farbe unberührt bleiben. 


693 


Durchmeſſer haltenden, badjchüfjelähnlihen Hut aus Bambus- 
ftreifen geflochten. Als er die Europäer an der Straße be- 
merkte, zog er den Hut jo weit herunter, daß er feinen halben 
Körper verdedte, wandte dann wie fcheu den Kopf halb zur 
Seite und von den Weißen ab, und wollte fo vorüberziehen. 

Bei und zu Lande würde man nun glauben, der Mann 
habe ein böjes Gewiſſen gehabt, fo daß er fein Geficht nicht 
wolle jehen laſſen, aber dort, wo man die Eingeborenen feit 
im Zaum Hält, gilt das als ein Zeichen der Ehrfurcht, wie 
denn auch ingeborene, die an der Straße ftehen, wenn 
Europäer vorüberfahren oder reiten, fih eben fo ſcheu am 
Wege niederfauern und den Kopf demuthsvoll abwenden, ob- 
Thon fie die Weißen oft genug recht bitter hafjen mögen. 

„Heda, mein Burſche!“ rief ihn der Holländer an, als er 
fih der Gruppe gerade gegenüber befand, ‚Komm einmal 
hierher.‘ 

Der Javane mußte den Anruf jedenfall3 gehört, aber 
wohl faum geglaubt haben, daß er ihm gelte, denn was fonnten 
die Wolandas von ihm wollen. Er jebte feinen Weg ruhig 
fort, aber einer der malayifchen Diener fprang ihm nad und 
machte ihm begreiflih, daß die Tuwans oder Herren ihn zu 
ſprechen wünſchten, wonach er dann ftehen blieb und fich er— 
ftaunt umſah. 

„Kannft Du reiten, mein Burſche?“ frug ihn der Hol: 
länder. 

Der Fremde fhien die Frage nicht gleich verjtanden zu 
haben, und fie mußte wiederholt werden. Sebt erſt fiel fein 
Blick auf das für feine Anfprüdhe wirklich prachtvolle Pferd, 
und er betrachtete e3 einen Moment mit Bewunderung. Sein 
großes dunkles Auge blitte dabei, und er fagte endlich, Tang- 
fam mit dem Kopfe nidend: „Gewiß kann ich — weshalb ?'' 

„So ſetze Did einmal auf das Thier da und reite es 
ein paar Mal auf und ab — erft langſam und dann 
raſcher — Du befommft einen Gulden, wenn Du Deine Sade 
gut machſt.“ 

Durch des Javanen Züge blitzte es und feine Augen 
funkelten — ein Gulden war für dieſe Art Leute viel Geld, 
und er konnte eine Woche davon leben. Ohne Weiteres ſetzte 


654 


er feinen Hut wieder auf, zog das breite rothe Band, das 
ihn gegen den Wind jhübte, unter fein Kinn, und jchritt 
langfam gegen das Pferd vor, daS einer der malayifchen 
Diener hielt. 

„Tuwan,“ flüfterte da der Eigenthümer des Pferdes oder 
wenigſtens der Verkäufer dem Holländer zu, „das ift ein Drang 
gunung *), laßt ihn nicht auf das Pferd ſteigen!“ 

„And warum nicht, mein Burſche?“ 

„Beil ih ihm nicht traue.‘ 

Der Holländer betrachtete fi) den Malayen und lachte. 

„Du denkſt wohl, daß er es nicht jo reitet wie Du, heh? 
Das ift wohl möglih, aber gerade deshalb möchte ich e8 
haben !‘' 

„Den Drang gunungs iſt nie zu trauen,‘ verfeßte der 
Malaye ſcheu, „fie veritehen auch eine Menge Zauberfünite.‘‘ 

„Unſinn!“ ſagte Mynheer kopfſchüttelnd, „ich jtehe Dir 
für das Pferd, und wenn etwas damit geſchieht, zahle ich es 
Dir.“ 

„Saya, Tuwan!“ ſagte der Malaye demüthig, denn er 
wußte ja doch, daß ihm jetzt keine weitere Einrede mehr half. 
Der Javane ſaß auch ſchon im Sattel, und wie er im Nu 
mit den bloßen Füßen“**) die Steigbügel gefaßt hatte, fo 
Tieß er das jebt munter unter ihm tanzende Pferd langjam 
an den Europäern vorübergehen, und dann erjt, während er 
auf und ab ritt, in einen leichten Trab fallen. 

Es war mirflih ein ausgezeichnetes Pferd, mit voller 
pechſchwarzer bufchiger Mähne, und unter dem vollen Wulft, 
der ihm zwiſchen den Ohren durch nach vorn quoll, funfelten 
und blitten die großen Augen muthig hervor. 

„Jetzt reite einmal Galopp!’ rief ihm der Holländer zu, 
al3 er gerade wieder zurüdfam und der Stadt zuhielt. 

Der Javane berührte das Pferd kaum mit dem einen 





*) Drang gunung: Bergmenſch, wie die Bewohner der Gebirge 
von den Malayen genannt werden. 

**) 63 ift merkwürdig, welche Gelenfigfeit dieſe Eingeborenen jo- 
wohl wie auch die Malayen in ihren Zehen haben, mit denen fie 
ſelbſt die Heinften Dinge von der Erde aufheben, fait wie der 
Elephant mit jeinem Rüſſel. 


659 


bloßen Haden, als e8 auch ſchon gehorſam einſetzte. Etwa 
hundert Schritt davon bielt er, parirte, wandte und fam 
wieder zurüd. 

„Jetzt ein bischen ſchneller!“ 

Der Javane febte dem Thier beide Haden ein, nahm aber 
dabei jeinen Hut ab, daß fih der Wind nicht zu fehr darin 
fing — und wie ein Pfeil von der Sehne flog e3 dahin. 

„Samos! rief der Engländer — „das Thier ift mein — 
ich behalte es!“ 

„Ale Wetter!’ Tegte jebt der Holländer los, als der 
Javane immer weiter die Straße dahin flog und jekt, in be- 
trächtlicher Terne, um eine Biegung ihren Bliden entſchwand; 
„ich glaube, die Beſtie geht mit dem Burschen durch.“ 

„Oder der Burſche mit der Beſtie!“ rief der Malaye; 
„der kommt nicht wieder !'' 

„Thorheit, Mann,‘ fagte der Holländer, „wo fol er denn 
hin damit? was will er mit dem Pferd in den Dergen? 
Es ift mit ihm durchgegangen, und er wird Mühe haben es 
wieder einzuzügeln.“ | 
Die Herren waren bis an die andere Seite der Straße 
hinüber gegangen, um dort einen etwas weiteren Weberblid zu 
befommen — Minuten peinliher Ermartung vergingen — 
aber der Reiter Fam wahrhaftig nicht zurüd. 

„Bless my soul!“ fagte der Engländer, der erjtaunt feinen 
holländiſchen Freund betrachtete; ‚das ift ja merfwürdig! Hat 
ihn vielleicht das Pferd abgeworfen?“ 

„Den? gewiß nicht!" verficherte Mynheer, der jetzt felber 
unruhig wurde — „es wäre aber doch eine Nichtswürdigkeit 
ohne Gleichen —“ 

Die Herren blieben wohl noch eine halbe Stunde mitten 
auf der Straße ſtehen, und die Nacht war indeſſen vollkommen 
eingebrochen. Jetzt durften ſie nicht mehr zweifeln, daß der 
„rothe Schuft“, wie ihn der Holländer nannte, mit dem 
Pferde alles Ernſtes durchgegangen ſei, und als man nur 
erſt den Malayen, der ganz außer ſich ſchon eine weite Strecke 
auf der Straße hinausgerannt war, beruhigt hatte, daß er 
ſein Pferd jedenfalls bezahlt bekommen ſollte, wurde augen— 
blicklich auf das Telegraphenamt geſchickt, um wenigſtens nach 


656 


Buitenzorg Meldung zu machen, wenn er etwa nach dort 
jeinen Weg genommen hätte — aber e3 half nichts. Tag 
um Tag verging, und von dem Diebe war feine Spur auf: 
zufinden; er mußte fich jedenfalls mit feiner Beute nad) 
Tjipanumpis zu in die Berge gefchlagen haben; das Pferd 
kam nicht wieder zum Vorſchein, und da fich der Engländer 
weigerte, etwas zu bezahlen, das er gar nicht befommen hatte, 
fah fi der Holländer genöthigt, in den jauern Apfel zu 
beißen, ſchwur aber, daß er mit feinem Pferdehandel je wieder 
etwas wolle zu thun haben. 


Eine Stunde in einem Lager der Siour. 


Am Abend des nämlichen Tages, an welchem die erfte 
„Berathung“ zwiſchen Weißen und Indianern am North 
Platte in Nebraska ftattgefunden, befuchte ich das nicht weit 
von der Fleinen Stadt entfernte Lager der Siour wieder, und 
zwar zu dem Zweck, um eine Friedenspfeife und einen 
Tomahawk zu erwerben. Das erwies fi) aber ala gar nicht 
jo leiht, denn diefe Wilden haben ſchon zu viel von den 
Yankees gelernt und find keineswegs mehr jene fchlichten 
Naturmenfchen, die fich bei einem Tauſch mit einer Hand vol 
Glasperlen oder einem kleinen ZTafchenfpiegel begnügen. 
Bon ihren Agenten auf das Nihismwürdigite fortwährend be— 
trogen, haben fie den Werth des Geldes ſchon viel zu gut 
fennen gelernt, und wenn man etwas von ihnen befommen 
und zum Andenken haben will, jo fann man fih auch darauf 
verlaffen, daß man den doppelten und dreifachen Werth der 
Sade dafür zu zahlen hat. 

Heut bot fich übrigens vielleicht beffere Gelegenheit, denn 
zu der Berathung war eine ziemliche Zahl von Brule Siour 
und Dgellalla Sioux, wie auch einige Shyennes eingetroffen, 
und das Nager ſchwärmte von ihnen. 

MWunderliches Ding in der Welt, dag die tollite Mode ſich 
auch felbit bis zu den Wilden ihre Bahn bricht, und das 
„ſchöne Geſchlecht“ beſonders fich ihren Einwirkungen ent: 
weder nicht entziehen kann, oder will. 

Sr. Gerftäder, Erzählungen ıc. 42 


658 


Links vor den Zelten, oder vielmehr in dem innern Kreife, 
da fie einen folchen von etwa hundert Schritt im Durchmeſſer 
bildeten, fpielte eine Anzahl Halb und ganz nadter Finder, 
besten fi umher oder fuchten mit Fleinen, harmlofen Wurf— 
lanzen einen engen Faßreif, den fie fih aus der Anfiedelung 
geholt, im vollen Lauf zu treffen. An dem Spiel betheiligten 
fih aber auch einige ſcheinbar nie gewafchene junge Damen 
von vierzehn bis ſechzehn Jahren, in langen, ebenfall® nie 
gewafchenen Kattunfleidvern, die aber troßdem eine ganz an— 
ſehnliche Schleppe Hinter fih her fchleiften und bei allen 
Sprüngen oft mit Stolz zurüdblidten, ob der alte Schmuß= 
lappen noch immer hinter ihnen her fäme. 

Su ihrer nationalen Tracht, leicht geſchürzt in den Fleid- 
famen kurzen Nöden und weich gegerbten und mit Fleinen 
bunten Perlen verzierten Fellen, und dann natürlich gewaſchen, 
mit den langen wehenden Haaren und den ſchwarzen blikenden 
Augen, müßten die jungen, prächtig gewachſenen Dinger auch 
in der That bildhübfch ausgefehen haben, fo aber waren es 
nur angehende junge Megären, wie einige alte — mahre 
Schrekbilder menschlicher Wefen, in ihrer Nachbarſchaft um— 
herkrochen. 

Bor dem einen Zelt ſtand ein Krieger der Brulé Sioux, 
mit feiner Pfeife im Arme IH ging zu ihm und madte 
ihm durch Zeichen begreiflih, daß ich fie ihm gern abfaufen 
möchte. Sie hatte nur einen einfachen und fehr ſchmutzigen 
Holzitiel, aber der Kopf war ächt, aus dem berühmten, von 
den Indianern. heilig gehaltenen rothen Stein gejchnitten, 
deſſen Brüche fih nur am Miflouri finden. Der Grund dort 
it für alle, auch ſelbſt feindlihe Stämme als neutral erflärt, 
und ein Jeder von ihnen hat das Recht, fi feine Pfeife dort 
zu holen und auszufchneiden. 

Der Indianer ſchien Feine rechte Luft zu dem Handel zu 
haben, wollte aber doch. wohl mifjen, was ich für den Tauſch 
mitgebracht. 

Ich hatte verſchiedene Sachen bei mir, ein weißleinenes 
Hemd, Tabak, Silberdollars, Glasperlen, Indigo und ver- 
ſchiedene Dinge, die fie recht gut gebraudhen können. Um 
meine Hände frei zu befommen, legte ich das zufammengefaltete 


659 


Hemd neben mich auf den trodenen Grasboden der Prairie 
und zeigte ihm verfchiedene Dinge. Er betrachtete fie auch 
aufmerkjam und mit ungerftörbarer Ruhe, wollte ſich aber doc 
nicht von der Pfeife trennen und fchüttelte nur immer, wenn 
etwas Neues vorfam, mit dem Kopfe. 

Die Kinder waren ebenfalls herangefommen,, auch einige 
von den alten Weibern; da ich aber ſah, daß der Burfche auf 
meine Anerbietungen nicht einging, wollte ich mich mit dem 
langmeiligen Gefellen nicht aufhalten. Sch padte meinen 
Waarenporrath wieder ein und ſah mich nad dem kurz vorher 
auf die Erde gelegten Hemd um — weg war ed. Ich be— 
tradptete mir die Umftehenden — überall jehr erjtaunte Ge— 
fihter, denn fie hatten alle gefehen, wie ich es hingelegt, und 
ihienen nun fein Derfhmwinden gar nicht zu begreifen. — 
Lumpenvolf! Auch eine Errungenfchaft ihrer weißen Be— 
fannten und Freunde — des vermworfenften Geſindels der 
Welt natürlich, das fich zmifchen ihnen herumtreibt, und von 
dem fie alle ſchlechten Eigenschaften abjehen. 

Das Hemd war weg, und ich befam e3 auch nie wieder. 

In ein benahbartes Zelt mit der gewöhnlichen Begrüßung 
Hau Hau eintretend, oder vielmehr einfriechend, denn das ovale, 
zwifchen den weißgegerbten Büffelfellen gelafjene Loch ift zu 
niedrig, um aufrecht hindurch zu gehen, traf ich dort fünf 
Krieger, die fih mwahrfcheinlih über die heutige Berathung - 
unterhielten und mich nicht eben mit. fehr freundlichen Ges 
fihtern anblidten. Hübſch waren fie überhaupt nicht; zwei 
von ihnen, die beiden Shyennes, waren gerade bejchäftigt, 
ihre Toilette zu machen, oder vielmehr zu verändern, während 
dabei die Pfeife im Kreis herumging und von dem Wirth des 
Zelte, dem alten Häuptling Itchonka der Ogellalla Siour, 
immer wieder gefüllt wurde. 

Die Indianer rauchen übrigens im Allgemeinen nicht 
viel, Erftlih ift der Kopf. der Pfeife ziemlich Elein und der 
mit Weidenrinde gemifchte Kinnefinik leicht, dann thun fie 
nur zwei oder drei Züge in langen Zwifchenräumen und blafen 
dabei den eingezogenen Rauch wieder dur) die Naſe aus, wo— 
nach die Pfeife an den Nachbar weitergeht. 

Itchonka, ob ihm nun mein Beſuch angenehm mar oder 

42* 


660 


nicht, beſaß Artigfeit genug, mir ebenfalls die Pfeife anzu- 
bieten, und ich mußte, wohl oder übel, der Einladung Folge 
leiften. Appetitli war die Sache aber keineswegs, die alten, 
grimmen Häuptlinge mit ihren bemalten Gefihtern ſahen 
wenigſtens nicht jo aus, und der eine von ihnen, Wagalikſchu 
Huka oder Truthahnbein, hatte auch außerdem vor ganz kurzer 
Zeit verſchiedene Weiße erfchlagen und fcalpirt. 

Doch um auf die Toilette der beiden Shyennes zurüd zu 
fommen, jo muß ich dieſe Doch mit ein paar Worten erwähnen, 
denn fie war wirklich eigenthümlicher Art. 

Sie Hatten ſich heut über Tag beide gelb gemalt ge- 
habt — ein ganz eigenthümliches Gelb dabei, mit einer etwas 
grünlihen Mifhung, die ihren Geſichtern ein faft leichen- 
ähnliches Anfehen gab, während einige hellblaue Punkte das 
Unheimlihe nicht mildern konnten. Jetzt ſchienen fie fih zu 
ihrer AUbendtoilette eine dunklere Färbung ausgejudht zu 
haben — indigoblau mit roth, und bewundernswerth war 
die Sorgfalt, mit der fie ſich ſchminkten. 

Jeder der beiden Häuptlinge hielt einen kleinen Taſchen— 
jpiegel in der Hand, vor dem er fein Geficht herüber und hin— 
über drehte; beide tupften dann mit den Fingern auf die in 
feinen Lederſäcken zwiſchen ihnen liegenden verjchiedenen 
Farben und rieben ſich dieſe dann vorfidhtig, um die Malerei 
nicht zu verderben, und mit ziemlich viel Ausdauer auf die 
Haut. Die gelbgrüne Farbe war, noch während ih mid 
dort befand, nur mit irgend einem alten Lappen abgerieben 
worden, und ein Waſchen des Gefichts fchien jelbit für 
ſolchen Fall nicht nothwendig befunden zu fein. 

Truthahnbein befonder zeigte viel Geſchmack, indem er 
ih Stirn, Schläfe und den obern Theil der Naje und 
dann auch das Kinn mit dem untern Theil der Baden 
dunkelblau anjtrih und nur am Kinn eine runde Stelle offen 
ließ. Diefe, wie das mittlere Geficht, wurde dann zinnober: 
voth gefärbt und bot einen ſcheußlichen Anblid, Sein Ge 
fährte malte fi) genau jo, aber nur umgekehrt; mas bei 
jenem blau war, machte diejer voth. 

Beide hatten fehr hübfche Pfeifen, ließen ſich aber durch 
nichtS bewegen, auf einen Handel einzugehen. Truthahnbein 


661 


machte mir fogar begreiflih, daß ich eine kurze Pfeife habe, 
aus der ich rauche, — ih Hatte fie nämlich vorgezogen und 
geftopft, um nicht fortwährend daſſelbe Mundſtück gebrauchen 
zu müfjen, das jene zwiſchen den dicken Lippen hielten — 
fie dagegen rauchten eine lange, und Beides „wäre gut für ung”. 

Damit war die Sache abgemadt. 

Der „Haußrath‘ in dem Zelte gehörte wohl nod in 
manchen Stüden dem alten indianifchen Leben an, und zu 
diefem konnte man die flahen, mit Perlen geſtickten Leder- 
tafchen, ein paar ebenfoldhe Pfeilfücher und ein auf der Rück— 
feite buntbemaltes Büffelfel zählen. Viele andere Dinge 
enthielt es aber auch, die ſich wunderlih genug in folder 
Umgebung ausnahmen und welche die Shyennes aller Wahr: 
icheinlichfeit nah auf einem ihrer Raub: oder Kriegszüge er: 
beutet haben mochten. Dahin gehörte unter Anderem ein 
feines, jehr elegant gearbeitetes Nähkäſtchen, ein gefchliffenes, 
aber oben am Rande ausgebrochenes Trinfgla® und ein 
breiter Ledergürtel, der neben dem einen Köcher an der Zelt: 
ftange hing und augenfcheinlich zwei filberbeichlagene Re— 
volver trug. 

Da ich hier übrigen? meinen Zweck nicht erreichen Fonnte, 
To hielt ih mich auch nicht lange in dem Zelte auf, Wie ich 
dafjelbe aber verließ, bemerkte ich, daß irgend etwas Außer: 
gewöhnliches im Werke fein müfje, denn von allen Seiten famen 
Grauen mit Süden oder gegerbten Fellen herbei, und felbit die 
Kinder Hatten ihre Spiele verlaflen und drängten fich der 
Mitte des Zeltlager zu, wo ein großes Büffelfell, die Fleiſch— 
fette nach oben, ausgebreitet lag. Es dauerte auch nicht lange, 
fo kam einer der Dolmetscher in Begleitung von zehn oder zwölf 
Amerikanern, die jeder einen Sad auf der Schulter trugen, 
und ih fand bald, daß ih einer Nationenvertheilung bei- 
mohnen jollte. 

Den zur Berathung hergefommenen Häuptlingen war nämlich 
ihre Beföftigung felbitnerftändlich zugefichert worden, da fie ihre 
Zeit verfäumten und nicht jagen konnten. Da fie aber als 
Säfte von den verfchiedenen Zelten der Ogellalla Sioux auf: 
genommen worden, jo waren die Frauen derfelben jebt her: 
befhieden, um die für fie beftimmten Gaben in Empfang zu 


662 


nehmen, und ih befam dadurd) das ganze ſchöne Geſchlecht 
mit einem Mal zu fehen. 

Der Dolmeticher brachte übrigens bald Ordnung in die 
fih noch wild durcheinander drängende Schaar. Sie wurden 
zuerft nah ihren verfchiedenen Zelten aufgerufen — und zwar 
für jedes Zelt nur eine, damit nicht mande Wohnung doppelte 
Nationen erhielt, und dann mußten fie fih rund um das Fell 
her auf die Erde niederfauern. 

Nun nahm er einen von den Säcken und fehüttete ihn auf 
dad Fell aus. Er enthielt Kaffee, den fie leidenſchaftlich Lieben 
ſollen und mit Zuder trinken, dann nahm er eine Calabaſſe, 
{hob fte in den Kaffee, füllte fie und gab nun der Reihe nad) 
jeder erjt eine, und als er dur war, auch noch eine zweite 
Portion. 

Nun Fam Zuder, der auf die nämliche Weile vertheilt 
wurde, dann Mais — alles auf dafjelbe Fell — hiernach 
Bohnen und zulebt noch etwad Salz. Andere Frauen, Die 
dahinter ftanden, befamen nachher das DVertheilte und trugen 
ed in die verfchiedenen Zelte, wo danı gleich darauf in allen, 
ohne Ausnahme, ein Kefjel beigefeßt und ein tüchtiger Kaffee 
gebraut wurde, der ihnen auch ohne Taſſen, nur aus Blech— 
bechern getrunfen, ganz vortrefflih zu munden ſchien. 

Meinen Handel ſchloß ich aber doch noch ab, und zwar 
mit zwei verjchiedenen Indianern. Tokuisca wi, die weiße 
Muſchel, wie er genannt wurde, ein ſchlanker Hübjcher Indianer, 
hatte wahrjcheinlih von Anderen gehört, daß ich eine Pfeife 
faufen wolle. Er trug eine folde mit einem gewöhnlichen 
rohen Rohr, aber mit ächtem, glatt polirtem Kopf in der Hand 
und hielt fie mir entgegen. 

SH fragte, was er dafür forderte. 

„Dollar! silver !“ fagte er in ziemlich verſtändlichem Englifch, 
denn die Burfchen nehmen allerdings auch dann und wanı 
Bapiergeld, das fie bei den Händlern wieder verwerthen können, 
wifjen aber recht gut den höheren Werth, den das Silber hat, 
und während er das fagte, fpreizte er die Finger feiner rechten 
Hand aus und Shlug damit dreimal durch die Luft. 

Fünfzehn Silberdollars verlangte er für die alte Pfeife, 
für die Hier in Deutfchland ein Trödler kaum zwei Groſchen 


663 


geben würde. Ich wußte aber auch, dag er mit fi — nun 
einmal mit dem Gedanken vertraut, feine Pfeife wegzugeben — 
würde handeln laſſen, und hatte mich darin nicht geirrt. Sch 
faufte die Pfeife endlich mit Herüber- und Hinüberreden für 
fünf Silberdollars und einen „bloc* Kautabak. 

Noch ſchwieriger war es fat, einen Tomahamf zu bekommen. 
Die Indianer, zu einer Friedensverſammlung berufen, hatten 
gerade ihre Tomahawfs, dad Symbol des Krieges, daheim ge— 
laſſen, und nur ein einziger Krieger der Brule Sioux, Munkaka 
cuchela, das niedere Pferd, der, wie ed ſchien, in der Ver— 
fammlung der erjten Häuptlinge feine Stimme hatte, den 
jeinen mitgebradt. Aber auch er verlangte einen enormen 
Preis für die Waffe, und ich zahlte ihm endlich vier Silber- 
Dollars, etwas Tabaf, einige Glasperlen und ein Eleines Beil, 
das allein jo viel werth war als der ganze Tomahamf, und 
jedenfalls beſſer. Sie trennen fich aber nicht gern von einer 
Waffe, die fie lange geführt und die vielleicht mande Er— 
innerung beitandener Kämpfe trägt, und diefe Erinnerungen, 
ohne jelbit den geringiten Nuben davon zu haben, muß man 
eben bezahlen. 

Sebt aber bilden diefe beiden, in meiner Stube aufge: 
hangenen Stüde auch einen Theil meiner eigenen Erinnerungen — 
Erinnerungen an das damalige Leben in der wilden Prairie 
von Nebraska, und jo viel intereflanter find fie mir ſchon 
deshalb, weil gerade wieder in allerneuefter Zeit diefe nämlichen 
Indianer auf's Neue zu ihren Waffen gegriffen haben. 

Wagalifihu Huka, der wilde und gefürdhtete Shyenne-Häupt- 
ling, mit dem ich damals die Friedenspfeife geraucht, überfällt 
wieder einmal an der Spibe feiner Banden die Anftedelungen 
der Weißen und jucht den Weiterbau der Eifenbahn zu ver- 
hindern. 

Arme, verblendete Menfchen! Bon der Stunde an, wo fie 
den Tomahamf wieder aufnahmen, beginnt der Vernichtungs— 
fampf gegen fie, und ihr jet unabmwendbares Schidfal iſt leicht 
voraus zu jehen. 


Unberufene Gäfte. 





Su feinem Lande der Welt wird fräftiger für die Er— 
ziehung des jung aufwachlenden Volkes geforgt, als in den 
Bereinigten Staaten von Nordamerika, denn der Amerikaner, 
in jeder Hinficht praftifch, weiß, daß gerade durch den Schul: 
unterricht aus feinen Kindern Männer werden, während bei 
uns auf den Dörfern die Bauern denfelben als eine Laſt be- 
trachten, der ihre Jungen von der Arbeit abhält. 

Seder Staat der Union ift in unregelmäßige Counties 
oder Grafſchaften, noch eine altenglifche Benennung, abgetheilt, 
jedes County aber wieder in townships, die jedes aus 16 im 
Duadrat liegenden Sectionen — jede Seetion von 640 Ader, 
beftehen. Jede 16. Section nun gehört, nad gejeblicher 
Beltimmung in der ganzen Union, der Schule, und ein 
Theil davon darf allerdings verkauft werden, aber nur zu 
Schulzweden, und die Nachbarn wachen forgfältig darüber, 
dag auch nicht ein Baum darauf von unbefugten Händen ge 
ſchlagen wird. 

Nun lebt aber noch heutigen Tages eine Menfchenklafje in 
Nordamerika, die dort unter dem Namen von Rafters oder 
Flößern allgemein befannt ift und ein gar wildes, aben- 
teuerliches Leben führt. 

Sie befteht größtentheil$ aus jungen, im Walde auf: 


665 


zogenen Leuten, die etwas Aderbau und fonft Jagd getrieben 
haben und nun einmal in rajcherer Weile Geld verdienen 
wollen. Allerdings eriftirt ein Gefeb in den DBereinigten 
Staaten, das nur Denen geftattet, Bäume auf Regierungs— 
land zu fällen, die wirklich die Abficht Haben, fi Dort nieder 
zu lafjen — aber wer Fehrt fih daran! Alle die Taufende von 
Holzverfäufern, die ſich am Miſſiſſippi und deſſen Neben: 
ftrömen niederlaffen, um für die zahlreichen Dampfer Holz zu 
fällen, bauen fich allerdings wohl eine Hütte für fih und 
ihre Familie, denken aber gar nicht daran, in den ungefunden 
Sümpfen länger auszuhalten, als bis ihr Ziel erreicht, d. 5. 
eine kleine Summe baares Geld verdient haben, mit dem 
fie dann entweder nach Norden oder in die Berge ziehen und 
fih dort anfaufen. 

Diefe Leute haben meift Familie und leben dort in ihrer, 
wenn auch noch fo dürftigen Häuslichkeit. Anders dagegen 
die Flößer, die allerdings ebenfalls auf Onkel Sam's *) Boden 
Bäume fällen, fi aber dazu ein bequemeres Ufer als das 
des Milftifippi, gewöhnlich an ‚irgend einem Kleinen Beiſtrom 
juchen, ihre Stämme in’3 Waller bringen, mit Pflöcken und 
Reben oder Hickorybaſt zuſammen befejtigen, und dann Hun— 
derte von-Meilen mit riefigen Flößen ftromab gehen, um diefe 
unten in Louiftana oder Mijfiifippi an irgend einer Säge: 
mühle zu verfaufen. 

Diefe Leute find nie verheirathet, oder fie lafjen doch ihre 
rauen zu Haufe Sie fuchen fi) audy immer das wildefte 
Terrain aus, um dort nicht beläftigt zu werden — denn der 
Farmer liebt fie nicht in feiner Nachbarichaft, weil fie ihm 
gewöhnlich alles gute Holz wegſchlagen und die Wipfel und 
Hefte wild zerftreut auf dem Grunde zurüdlaffen. Außerdem 
leben fie ausfchlieflih von der Jagd; Hirfhe und milde 
Truthühner giebt e8 an ſolchen Orten immer; manchmal läuft 
ihnen Sogar ein alter Bär in die Hände — denn Hunde 
führen fie jtet3 bei fih, jo daß ſie ihn heben können, und 
Heine Wafchbären und Dpofjums oder Beutelragen amüftren 


*) U. 8. United States — Uncle Sam, ſcherzhafter Tauſchname 
für die Union. 





666 


den Jäger dann noch nebenbei. Ein raſch aufgefchlagener 
und mit ſelbſtgeſpaltenen Schindeln gededter Lagerplab bietet 
ihnen Schub gegen jchlechtes Wetter, feine wollene Dede führt 
Jeder bei fih, und mit einem eiſernen Kochkefjel, einigen 
Diechbechern und einem Fleinen Sack Kaffee und Salz find fie 
gerüftet, oft ein Vierteljahr im Walde zu lagern, ehe fie an 
die Ernte, d: h. die Einſchiffung gehen. 

Sp hatte fih auch am White River, unfern der Stelle, 
wo die beiden Arme audzmweigen, von denen der eine in den 
Miſſiſſippi, der andere in den Arkanfas geht, ein folder Zug 
von Rafters eingefunden, und damals Tief noch fein Dampfer 
auf dem Fleinen Strom und dachte Fein Menih an eine 
Eiſenbahn, die, auch jebt freilih noch nicht einmal beendet, 
durh die Sümpfe nah der Hauptitadt von Arkanſas, nad 
Little Rod, führen ſollte. Es war noch wildes, einige Mo- 
nate im Jahr Sogar überfhwemmtes Land und ein präcdhtiger 
Sagdgrund, von mächtigen Bäumen beftanden. Das Ufer 
des White River eignet fih dabei, beſonders an einzelnen 
Stellen, vortrefflid dazu, die gefällten Stämme in das Waſſer 
zu bringen und zu flößen, wie dann auch hinaus in den 
Miſſiſſippi zu jchaffen. Die Leute gingen deshalb rüftig und 
mit Erfolg an die Arbeit. 

Es iſt fat wunderbar, mit welcher Geſchicklichkeit und 
Schnelle der an den Wald gewöhnte Amerikaner einen Baum 
falt. Wie Spielend handhabt er dabei feine breite, haarſcharfe 
Urt; die Späne fliegen, fein Streich fällt vergeblich, ſondern 
genau auf die Stelle, auf die er bejtimmt ift, und Bäume 
von drei, vier Fuß im Durchmefjer wirft ein einzelner Mann 
in unglaublich kurzer Zeit zu Boden. Ih weiß, daß gute 
Holgihläger an einem Tage nicht allein ihre Bäume gefällt, 
fondern auch zwei Klafter Holz, acht Fuß breit, vier Fuß 
hoch und vier Fuß tief, Cords genannt, aufgejtellt haben. 

Das ijt aber auch nur mit der amerikanischen Art mög- 
lich, die breit, aber ſchlank, ſchwer und ſcharf ihren Höchiten 
Bunft nur auf einer kleinen Stelle in der Mitte, etwa zmei 
Zoll von der Schneide hat. Noch fo tief eingefhlagen, wird 
fie alfo dort allein von dem Elemmenden Holz feitgehalten, 
und ein einziger leifer Ruck macht fie wieder frei. Trotzdem 


667 


it es nicht möglich, diefe Art bei uns einzubürgern, dent 
was unjere deutfchen Didföpfe nicht von Jugend auf fennen, 
nehmen fie nit an. Sa ſelbſt die Auswanderer, die nad 
Amerika kommen, laſſen fih Jahre lang von ihren Nachbarn 
verhöhnen, bis fie endlich dur Schaden Flug werden — was 
aber bei einem deutfchen Bauer jehr lange dauert — und 
ihre alten Werte in die Ede werfen. 

Die Flößer mochten etwa dreißig Stämme gefällt, in der 
gehörigen Länge abgehauen und in den Fluß geihafft haben, 
ohne daß die Nachbarſchaft bis dahin auch nur eine Ahnung 
von ihrer Nähe gehabt. Die alten Barmer waren in Diefer 
Hinfiht überhaupt fehr duldiam und felber nicht befonders 
rüdfihtsvoll in Allem, was Onkel Sam’3 Eigenthum — alfo 
Eigenthum der Regierung, betraf. Außerdem lag diefe Stelle 
gerade jo abgelegen, daß Fein anderer Menſch, ald vielleicht 
einmal ein Jäger, hierher Fam, und die fieben Fräftigen Bur— 
Ichen, die hier die Arbeit begannen, und von denen jeder 
außerdem feine lange Büchfe und fein breites Jagdmeſſer bei 
fi führte, fümmerten fi auch wenig genug darum. 

Drei von ihnen waren heute Morgen auf die Jagd ge 
gangen, um wieder friihen Proviant herbei zu ſchaffen, denn ein 
Hirſch reichte für die fieben Fräftigen Männer und ihre vier 
Hunde nit bejonderd lange, noch dazu, da fie die Keulen 
räucherten, um einestheil® auf der Reife den Strom hinab 
felber davon zu leben und den Reſt dann weiter unten gut zu 
verfaufen. 

Die vier Zurüdgebliebenen hatten eben wieder zwei Bäume 
gefällt und waren damit bejchäftigt, den untern Theil der 
Wipfel zu Fappen, um dann den Stamm oben bequemer ab- 
hauen zu können — was fie mit der Art eben fo glatt fertig 
bringen, als ob es von einer Säge abgejchnitten wäre. Eifrig 
mit ihrer Arbeit befhäftigt, Hatten fie das Nahen eines 
Fremden auch gar nicht bemerkt, bis plößlich ein alter, weiß— 
haariger Mann, ein Eleines Pony reitend, die Büchfe auf der 
Schulter, ein paar Hunde an der Seite, bis dicht an fie heran- 
ritt, wo er ihnen fein laute: 

„Hallo! how do you do?“ entgegen rief. 

„Hallo, old fellow, how are you?“ rief ihm der Eine 


668 


zurüd, während fi alle Bier zugleich raſch emporrichteten; 
„Where do you hail from ?“. 

„Oh,“ meinte der Alte, indem er das Kleine graue Auge 
überall ſcharf und raſch umbergleiten Tieß, „wohne am Fluß, 
ein paar Meilen weiter aufwärts, und mwundere mich ſchon 
lange, wer das viele Pulver hier herum verpufft. — Uber, 
boys, wißt Ihr, wo hr arbeitet ?’' 

„Wir?“ jagte der Eine, ein langer, grobfnodiger Ken— 
tuckier. „Am White River, und das ift auch etwa Alles, was 
uns fümmert.” 

„Aber Ihr feid hier auf der Schulſection,“ fuhr der alte 
Mann ruhig fort, „‚gleich etwa Hundert Schritt dort drüben 
fteht der Eckbaum mit dem Zeichen daran, Habt hr das 
nicht geſehen?“ 

„Wohl nicht darauf geachtet, brummte der Kentudier; 
„wir wollen auch Euer Schulland nicht mwegtragen, fondern 
bier nur noch ein Halbhundert Bäume ſchlagen und zu Thal 
ſchwemmen, und Holz ift hier ja in der Nachbarfchaft genug — 
dem Schulmeifter erſparen wir nachher die Arbeit.‘ 

„Hm — ja,‘ nidte der alte Näger langſam mit dem Kopfe, 
„Holz ift wohl allerdings genug da, wenn Ihr Euch au 
hier da8 beſte herausgefchlagen habt. Das Alles möchte 
noch fein, wenn’ nicht gerade Schulland wäre, und da — 
wißt Ihr wohl — leiden wir’s eben niht, daß eine Anzahl 
Rafters fi darauf niederläßt und es abholzt.“ 

„Ihr leidet's nicht?’ fagte der Kentudier und jah ihn 
groß von der Seite an, „aber wie wollt’ Ihr's hindern?‘ 

„Ih nun,‘ meinte der Alte troden, „da gäb’S vielleicht 
verjhiedene Wege, der beite ift aber immer der, in Frieden 
aus einander zu kommen. So ſchafft denn den Fluß hinunter, 
was Ihr eben einmal im Wafjer liegen habt, wir wollen Euch 
nit daran hindern, und da wir es felber jebt für Schul⸗ 
zwecke nicht einmal gebrauchen können, würde es doch nur im 
Fluß verfaulen.“ 

„Ihr ſeid unendlich gütig!“ lachte der Kentuckier auf; „da 
wir Eure Meinung über die Sache aber noch gar nicht ver— 
langt haben, fo war Euer guter Rath auch ganz unnöthig — 
woher follen wir wifjen, wo das Schulland liegt?“ 


669 


„Woran Ihr das wiſſen follt, Mann?“ bemerkte der Alte 
mit der größten Ruhe; „ei, ich denke, Ihr habt Euch doch 
unjere Bäume genau genug betrachtet und könntet das Dop- 
pel-S an den Eden wohl erkennen. Daß aber S. S. School 
section heißt und daß Ihr die Hände davon laſſen müßt, 
wißt Ihr ebenfalls, alſo madt, dag Ihr mit dem, was Ihr 
nun einmal habt, davonfommt, rührt aber feinen der Bäume 
mehr an, die auf diejer Section ftehen.‘‘ 

„Ihr wollt und nicht daran hindern?‘ Tachte da der 
eine der Burſchen laut auf; „nun feht einmal, was es doch 
für gute Menfchen auf der Welt giebt — haha, hahaha! — 
Geht heim, alter Mann, und legt Euch zu Bett. Wir find 
bier unſer Sieben und Fein einzige® Fleines Kind da- 
runter — wenn Ihr alfo wißt, was Euch gut ift, fo ver— 
brennt Ihr Euch nicht noch einmal da3 Maul! — Schul-Sec- 
tion? — Blödfinn, wo fih der Hirſch und der Waſchbär im 
Walde begegnen und die Wölfe Nachts ihr Abe abheulen. — 
Geht zu Gras, aber laßt uns hier ungeſchoren!“ 

„Halo, Bill,“ rief ein derber Burfche, der eben mit einent 
erlegten jungen Spießer auf der Schulter aus dem Walde 
trat und feine Beute neben daS Feuer auf den Boden warf. 
„Bas giebt’S da? Wer ijt der Alte?‘ 

„Der weiß es und wen kümmert's?“ rief der Kentudier 
troßig; „aber er will uns verbieten, hier Holz zu fällen, weil 
e8 zur Schul-Section gehöre! — Derdamm’ mich, wenn das 
nicht das Tollfte ift, was ich in meinem Leben gehört habe!‘ 

„Hoho!“ rief der eben Angefommene, „iſt's vielleicht der 
König von Arkanſas, der uns hier die Ehre ſeines Bejuches 
giebt und herum geht, um den Genfus unter den Wölfen auf: 
zuftellen? Fahrt ab, alter Burfche, Hier ift nichts zu holen, 
als höchſtens ein Budel voll Prügel, und dazu ſeid Ihr doch 
zu tief in den Jahren.“ 

er iſt hier der Baas von Euch?‘ frug der Alte, der 
fih durch die Höhnifchen Worte nicht im Mindeften außer Faſ— 
fung bringen ließ. 

„Der bin ih, Mifter,‘‘ ſagte der Kentufier, „wenn Ihr 
nichts dagegen habt.‘ 

„Gut denn,“ nickte der alte Backwoodsman, ‚den Grund 


670° 


habe ih Euch ſchon genannt, und es tft nicht nöthig, dieſen 
zu wiederholen — fo viel ſage ich Euch aber jet, wenn wir - 
morgen bier herüber kommen und finden noch einen einzigen 
Mann mit der Art im Walde, fo habt Ihr Euch die Folgen 
jelber zuzuschreiben!‘ Damit drehte er fein Thier langjam 
herum und ritt, begleitet von einer Anzahl hinter ihm herge- 
Ichrieener Flühe und DVerhöhnungen, langſam in den Wald 
zurüd, 

Die übrigen Jäger famen gegen Abend ebenfalls auf den 
Lagerplatz und erfuhren faum, welchen Beſuch fie heute gehabt 
und daß der Alte gedroht habe, fie von bier fort zu treiben, 
als ſie auch mit gottesläfterlihen Schwüren verfiherten, Jedem 
„das Tageslicht durch den Schädel fcheinen zu laſſen“, der 
hier wage, fie in ihrem Beſitz zu ftören. Eine entfchlofjenere, 
zügellojere Bande gab es auch vielleicht nicht im ganzen 
Staate. Der alte Badwoodsman, der hier nur das Recht 
der Bürger gewahrt hatte, wußte das ebenfall3 und nahm 
feine Maßregeln danadı. 

An diefem Abend, wo die Jäger mit reicher Beute heim: 
gekehrt waren und wohl für eine Woche Mundvorrath mit- 
gebracht Hatten, wurde allerdings tüchtig drin gejchwelgt, 
denn draußen im Walde lebt man gut in den Zeiten des 
Ueberflufjes, darbt aber dann auch eben fo gern wieder eine 
Weile, wenn die Borräthe anfangen dünn zu werden, oder 
ganz ausgehen. in ihren beiden Canoes, in denen die Holz- 
fäller oder Flößer von Napoleon an der Mündung herauf: 
gefommen waren, hatten fie aber außerdem ein tüchtiges Faß 
Whisky mitgeführt, den fie bei der jchweren Arbeit und im 
Lager nicht entbehren mochten, und bis jpät in die Nacht fchall- 
ten ihre lauten Lieder in den Wald hinein, daß fi die Wölfe 
fcheu davor zurüdzogen und ruhigere Stellen aufjuchten. Wo 
fie heulten, wollten fie nicht gern gejtört werden. 

Nachts Loderten die Flammen der LTagerfeuer hoch empor, 
denn mit Holz brauchten die Jäger wahrlich nicht zu ſparen. 
Mit früher Morgendämmerung waren die Leute aber jchon 
wieder munter und auf, und während Einer von ihnen das 
Frühftüc bereitete, nahmen die Anderen ihre Arbeit wieder vor. 

Nun hatten fih Alle geftern ganz entihieden dahin aus— 


671 


gefprochen, daß fie der Drohung des Alten troßen und ihren 

Urbeitöplaß, wenn es fein mußte, ſelbſt mit ihren Waffen 
vertheidigen würden; aber fie mußten auch eben fo gut, daß 
fih mit den diefe Wälder bewohnenden Farmern und Jägern, 
wenn fie zufammenhielten, nicht ſpaßen ließ, und der Vorſchlag 
des Einen, die beiden fertigen Stämme zuerft in den Fluß zu 
Ihaffen und mit dem Floß zu vereinen, fand deshalb von 
feiner Seite Widerfprud. Es äußerte fih natürlih Niemand 
darüber, unter welcher Ablicht das geihah, aber es geſchah 
eben, und mit allen Hülfsmitteln dabei vertraut, mit Walzen, 
Rollern und einem ftarfen Zlafchenzug, den fie bei fich führten, 
wurden fie noch vor dem Frühftüd damit fertig. 

Das Frühftüd wurde eingenommen, aber jo laut die 
Burſchen gejtern Abend geweſen waren und fo übermäßig 
Yuftig, jo ſtill verhielten fie fich heute Morgen. Es gefchieht 
das ja häufig nad einer halbdurchſchwärmten Nacht, und mit 
dem Fühlen Morgen fieht fih auch Manches anders an, als 
Abends, wo das Blut mehr aufgeregt ift. 

Es wurde übrigens von dem alten Manne gar nicht mehr 
geſprochen. Nah dem Frühftüd griffen fie ruhig ihre Aexte 
wieder auf und gingen wie alle Tage an die Arbeit, um ver: 
Ichiedene Bäume in Angriff zu nehmen — nur der Siebente 
blieb noch eine Zeit lang am Lagerfeuer zurüd, um das Ge— 
ſchirr aufzuwaſchen, Waller zu holen und friſches Holz auf 
die Kohlen zu werfen, um nachher für dad Mittagefjen 
weniger Zeit zu gebrauden. Dann ſchloß er fich den 
Kameraden an, und Iultig halten die ſcharfen Artfchläge durch 
den ſonſt fo ftillen Wald. 

So mochte es elf Uhr geworden fein, und der Kentudier 
hatte Schon ein paar Mal nad der Sonne hinaufgejehen, 
denn er fing wieder an hungrig zu werden, als einer der bei 
ihnen lagernden Rüden den Kopf hob, eine kurze Weile nad 
Norden hinaufwindete, von wo auch gerade der Luftzug her— 
unterfam, und dann ärgerlich zu Enurren begann. 

„Na, Alter?’ fagte fein Herr und fah ihn von der Seite 
an, indem die übrigen Arbeiter eben mit Schlagen aufhörten. 
Kaum eine Minute verging, fo hörten fie es in den fernen 
Büſchen praffeln und brechen, näher und näher fam ed, und 





672 
jet fchlugen die Rüden mit wilden Geheul an und fprangen 
nad, vorn, denn eine ganze Meute von Hunden, wohl zwanzig 
an der Zahl, brach aus den Büfchen heraus, die Kleine Zahl 
der den Holzichlägern gehörigen raſch unter den Schuß ihrer 
Herren zurüdtreibend. 

Und mehr und mehr krachte e8 in dem Unterholz. Pferde 
ftampften und wieherten, und wie die Holzſchläger jebt empor: 
Iprangen und ihre Büchſen ergriffen, die fie ſtets mit zum 
Arbeitsplab nahmen, bogen fih die Zweige zurück und ein 
ganzer Schwarm von Menfchen, Reiter an Reiter, ſprengten 
zu. Tage, umritten die niedergeworfenen Wipfel und hielten 
wenige Minuten ſpäter — jeder feine lange Büchfe vor fi 
auf dem Sattelfnopfe — vor den Flößern. Dann fprangen 
fie ohne Weiteres aus den Sätteln und banden ihre Thiere 
an einzelne Büfche oder Zweige. 

Der alte Mann von gejtern war wieder an der Spike, 
Noch hatte aber Keiner von Allen ein Wort geſprochen, die 
Flößer nit, noch die Badwoodsmen, und die erjteren mochten 


= natürlich eine Anrede erwarten. Eben nicht angenehm über: 


raſcht waren fie indeß über die Mafje ihrer Gegner, die fie 
hier wahrfcheinfich gar nicht fo ftarf im wilden Walde ver- 
muthet. Sie wußten nit, daß fih, in Hoffnung eines 
baldigen regeren Verkehrs, etwa zehn engliihe Meilen den 
Fluß hinauf ſchon eine Fleine Stadt gebildet, und dadurch 
veranlaßt auch mande Farmer fih in deren Nahbarfchaft 
gezogen hatten. 

Der alte Backwoodsman, der indeß einige Zeit gebrauchte, 
um die noch immer halb wüthende Meute zu beruhigen, trat 
jeist, feine lange Büchfe leicht im linken Arm haltend, auf den 
Kentudier zu und fagte mit feiner ruhigen erniten Stimme: 

„Erinnert Ihr Euch noch, was ih Euch geftern gejagt 
habe?“ 

„Und was habt Ihr uns überhaupt zu ſagen!“ erwiderte 
der Kentuckier trotzig. „Steht uns nicht das Recht zu, 
irgendwo auf Congreßland Bäume zu fällen und uns an— 
zuſiedeln?“ 

„Das Floß da unten ſieht genau wie eine Anſiedelung 
aus,“ lachte der alte Mann verächtlich; „aber dies hier iſt 


673 


außerdem, wie Ihr wißt, die Schul-©ection, die alfo ſchon 
ihren rechtmäßigen Eigenthümer hat und von feinem ah 
berührt werden darf. hr habt meine Warnung gejtern nicht 
geachtet, und wir Fönnten Euch jebt züchtigen.‘‘ 

„Wagt's, an Einen von ung Hand anzulegen! fuhr der 
Kentuckier wild Para indem er die Büchſe raſch in Die 
Höhe rip. 

Der Alte beachtete ihn aber gar nicht. 

„IH jage, wir Fönnten!” fuhr er ruhig fort, „aber 
wir find friedlihe Bürger. Doch wie wir feinen Andern 
ſchädigen mögen, wahren wir auch unfer eigenes Recht, das 
Ihr mit freder Hand angetajtet. Hort mit Euh! Wenn Ihr 
nit in einer DViertelftunde diefen Plab verlaflen und Euer 
Floß beitiegen habt, dann fchlagen es unfere jungen Leute 
auseinander und laflen es ſtromab treiben, und daß wir Euch 
jelber dann in Eure Canoes paden und nachſenden, darauf 
dürft Ihr Euch verlafjen !’ 

„Wagt es!“ knirſchte der Kentucier, indem er faft krampf— 
haft bie Büchſe hob, „aber Gott verdamm' mich, wenn ich 
nidt.. 

ich mit Eurer Büchſe!“ donnerte ihn der Alte an, 
„nieder, ſag' ih — 

Noch während der Ulte ſprach, legte der Kentudier feine 
lange Waffe an die Bade — aber ein Bliß, ein Knall, und 
dur den Kopf getroffen ſchlug er fchwerfällig auf den Boden 
nieder, während der Alte feine Büchſe ruhig auf den Boden 
jtieß und wieder zu laden anfing. 

„Teufel! ſchrieen ein paar der Holzfäller und Hoben ihre 
Waffen ebenfalls, ließen fie aber rajch wieder finfen, denn 
die dreißig und mehr Mann, die ihnen gegenüberftanden, 
lagen in demfelben Moment auf fie im Anſchlag, und fie 
wußten, daß es nur einer Bewegung von ihrer Seite bedurfte, 
um die dreißig Rohre ausbliten zu lafjen — und verfehlen 
würden fie ihr Ziel nicht. 

„Zwei von Euch gehen hinunter und baden das Floß aus: 
einander,‘ rief der Alte jet feinen eigenen Leuten zu; „dort 
liegt eine Urt, und nun fort mit Euch, Ihr Burſchen, in 
Euer Canoe, denn nicht ein Stüd Holz follt Ihr jebt von 


Fr. Serftäder, Erzählungen ꝛc. 43 





674 


unferem Boden mitnehmen! Fort, fag’ ich — nehmt den Leich- 
nam und Euer Kochgeſchirr. Was nicht in einer Viertelftunde 
in den Canoes ijt, bleibt an Land und darf nicht mitgenommen 
werden!‘ 

„So laßt un auf unfer Floß gehen,‘ fagte der eine 
junge Burſche troßig, „und wir wollen den Platz verlafjen. 
Ihr habt jebt die Uebermadt. Das Weitere findet fich ſpäter.“ 

„Ihr nahmt meinen friedlichen Vorſchlag nicht an,“ jagte 
der alte Backwoodsman ruhig, indem er die frijchgeladene Büchfe 
wieder fehußfertig in der Hand hielt. „Was Ihr von uns 
erwarten dürft, habt Ihr eben gejehen, aber wahrlich Feine 
Schonung für eine folde Bande. Fort mit Euch, es bleiben 
Euch nur noch fünfzehn Minuten, und wenn Ihr zum lekten 
Mal guten Rath annehmen wollt, jo macht raſch!“ 

Die Leute blieben noch einige Secunden in halbem Trotz 
in ihrer Stellung, und Einzelne flüfterten leiſe mit einander, 
aber daß hier Ernft gemacht wurde, ließ ſich nicht verfennen. 
Zwei der Yarmer waren, während die anderen noch voll im 
Anſchlag blieben, ſchon nah dem Floß hinabgeiprungen und 
hieben mit rajchen, gewandten Schlägen Stamm nad Stamm 
108. — Den Rafterd war allerding3 wenig Zeit mehr gelaffen, 
um ihr doch jo werthvolles Material zu bergen, aber fie fahen, 
daß fie mußten, und wenn auch zähnefnirfchend, fügten fie 
fih endlich, 

Der Flaſchenzug, die Verte und Büchſen wurden in die 
Canoes gelegt, das Kochgeſchirr folgte nad, die Hunde wurden 
ebenfalls an Bord genommen, und das Wild, welches fie 
gejtern erlegt, ſammt den geräucherten Hirfchfeulen. Die Leiche 
des Erſchoſſenen trugen die Badwoodsmen felber hinunter 
und legten fie vorn in das eine Canoe. 

„Wir haben feinen Spaten mit, um ihn zu begraben,‘ 
fnurrte einer der Flößer. 

„An der Mündung findet Ihr welche,” ermwiderte ruhig 
der Alte, „denn an dem Fluß felber dürft Ihr doch nicht 
bleiben. Wir folgen Euch morgen mit unferen Canoes. — 
ort, die Zeit iſt um! 

Bor Wuth faft Shäumend ftanden die Burfchen in ihren 
Canoes; wenn fie aber auch noch) den Wunſch gefühlt, wenigſtens 


679 


auf der Flucht Rache für die erlittene Schmach und den Todten 
zu nehmen, fo fahen fie doch bald die Unmöglichkeit eines 
ſolchen wahnfinnigen Trobes ein. Eritlih machte der Heine 
Strom fo viele und bedeutende Bogen, - daß ihnen die Weiter 
auf ihren Pferden raſch wieder hätten vorausfommen und fie 
an Ufer empfangen können, und dann traten die alten, an 
die Kämpfe mit den Indianern nur zu gut gewöhnten Bad 
woodsmen, jowie die Canoed nur abftießen, auch hinter Die 
Uferbäume, wo fie vollfommen gededt gegen einen hinterliftigen 
Schuß ftanden, dafür aber mit ihren Büchſen den offenen 
Fluß beftreihen Fonnten. Die beiden jungen Leute auf dem 
Floß ließen fi indefjen gar nicht in ihrer Arbeit ftören. Sie 
wußten, daß fie von ihren Kameraden gededt wurden und 
jeßten ihr Werk der Zerftörung ruhig fort, bis auch die letzten 
Stämme getrennt und die beiden Canoes lange Hinter der 
nächſten Biegung des Stromes verſchwunden waren. 

Die Flößer Hatten allerdings gedroht, daß fie wieder 
fommen und Rache nehmen wollten — aber fie famen nicht. 
Der Beſuch in Arkanſas war ihnen doc verleidet worden, 
denn die Strafe folgte der That zu raſch auf dem Fuße, und 
als fie fpäter in Louifiana und am Ned River ein neue Floß 
bauten, ſahen fie fi vorher genau um, ob fie nicht wieder 
auf bie „Schul-Section“ gerathen waren. 


43* 


EP 1 


Die Bewohner der weitlichen PBrairien. 


Sm Weiten der DVereinigten Staaten von Nordamerika 
it eine neue Welt — wenn auch nicht gerade jeßt entdedt — 
doch jedenfalls in Angriff genommen worden, und ed ver- 
Yohnt fih wahrlich der Mühe, einen Blick darauf zu werfen, 
da gerade diefer Landſtrich in fürzefter Zeit eine ‚bedeutende 
Rolle in der Union ſpielen wird. 

Bon jeher waren die Grenzen der Cinilifation mein 
liebjte8 Studium. Das Alterthum, das QTaufende begeijtert, 
vermochte nie einen befondern Reiz auf mich auszuüben. Cs 
war das Neue, Fremde, das mich anlodte und durch weite, 
unmwirthliche Länder jagte, und fo zog es mich denn auch jebt 
auf jene Bahnen Hin, welche amerifanifcher Unternehmung3- 
geift Fe hinaus in die wilde Steppe job, um die beiden 
Hauptoceane der Welt — den Mtlantifhen und Stillen — 
auch im hohen Norden und unter zahllojen Schwierigkeiten 
mit einander zu verbinden. 

Bor dem Jahre 1848, das nicht allein in Europa, jondern 
auh in Amerifa — wenn auch im verjchiedener Weile — 
eine Revolution in's Leben rief, betrat nur der kühne Trapper 
und Jäger die bahnlofen Prairien des Weſtens, um entweder 
den Büffel zu jagen oder dem jchlauen Biber in jeinen Berg- 
wallern Fallen zu ftellen. Man fannte allerdings fchon 

Dregon und Californien, und vereinzelte Anftedler hatten ſich 


677 


fogar Hinübergezogen, aber höchft felten nur wand ſich eine 
einfame Caravane dur diefe Wildniß und über die hoben 
felfigen Gebirge dem „fernften Weiten‘ zu, und alle Berichte 
derjelben gaben die fabelhafteite Kunde über den Wildreihthum 
der Steppe, auf welcher fi) damals völlig unabſehbare Büffel- 
heerden bewegen follten. 

Das Jahr 1848 brachte darin einen nicht allein plöb- 
lichen, jondern auch gewaltigen Umfchwung hervor, denn Gold 
wurde in Californien entdeckt — Schätze, wie fie Pizarro und 
Cortez geträumt, — und nit allein zu Schiff, über die 
Landenge von Panama und um Cap Horn herum, brachen 
. die geldgierigen Miner auf, nein, in hellen Schwärmen zogen 
fie jeßt auch über die öden, baumlofen Prairien, und damals 
ſoll — bejonders im Jahre 1849 — fait ein einziger end— 
Iofer Zug von Ochſenwagen beftanden haben, der feine müh— 
jelige Bahn Monden lang, aber hartnädig verfolgte. 

Die Indianer fträubten fi dagegen. Sie wollten den 
Wanderern die Bahn dur ihre Territorien verbieten und 
vermehren — doch umfonft. Sie überfielen einzelne Trupps 
und tödteten Weiße, aber es half ihnen nichts. Wie bei 
einem Ameiſenſchwarm erjebten fi) augenblidlih die Heraus. 
genommenen wieder, und als fie größere Angriffe verfuchten, 
rotteten fih auch die Weißen zu fejten Golonnen zufammen 
und boten ihnen Trob. 

Sie erzwangen fih auch dadurd eine Pafjage, die ihnen 
aber bald nicht mehr genügte. Dehfenfarren fuhren zu lang: 
fam und genügten wohl für Fracht, aber nicht für einzelne 
PBaflagiere, die rafcher von der Stelle rüden wollten. Eine 
Pony: PBoft wurde deshalb in's Leben gerufen, die mit Tag 
und Nacht gehenden Wagen die ungeheure Strede in ver: 
hältnigmäßig ſehr kurzer Zeit zurüdlegte, Aber noch ließ 
fih die Reiſe trotdem fchneller auf dem bedeutenden Um: 
weg via Panama machen, und der großartigite Plan diefes 
Sahrhunderts wurde in's Leben gerufen, die Union-Bacific- 
Eifenbahn — ein Schienenweg zwifchen dem Atlantifchen und 
Stillen Ocean, der eine Strede von 3300 Meilen — alſo etwas 
mehr als die Entfernung zwifhen Southampton und New: 
York beträgt — durchlaufen ſollte. 


678 


Allerdings gerieth man dabei auf ein Territorium, das 
die Union früher, mit Feiner Ahnung ſeines Werthes, den 
Sndianern überlaflen und deſſen Beſitz fie ihnen auch in ein— 
‚zelnen Fällen zugefichert hatte; aber das Fonnte natürlich das 
große Werk nicht aufhalten, fobald fih nur zeigte, daß ges 
nügende Mittel vorhanden feien, um es fonft durchzuführen. 

Noch weideten die Büffel — von den Indianern allerdings 
gejagt, aber doch auch in mancher Hinficht geſchont, um fie 
nicht auszurotten, auf ihren natürlichen Wiefen — noch Tebten 
die Indianer glüflih in dem Beſitz ihrer Jagdgründe und 
ſchüttelten wohl manchmal ftaunend den Kopf, wenn fie das 
raſtloſe Volk der Weißen betrachteten, dad immer nur von 
einem Plab zum andern drängte. Da wurde ihnen der Plan 
der Bleichgefichter vorgelegt, und einzelne Häuptlinge ftimmten 
ihm zu — mas mußten fie von einer Eiſenbahn und den 
Folgen, die eine folche auf ihre Jagdgründe ausüben mußte! 
Wahrſcheinlich hatte noch Feiner von ihnen eine ſolche Bahn 
auch nur gefehen, und ein „eiſerner Weg‘ konnte fie wohl 
neugierig, aber wahrlich nicht bejorgt machen. Außerdem er— 
hielten fie von den ‚weißen Männern‘! Gefchente: mollene 
Deden, Pulver, Blei, ja ſelbſt Schießwaffen, und trieben dabei 
einträglihen Tauſch mit ihren Händlern. 

Set wurde der „eiferne Weg’ in Angriff genommen, und 
es dauerte denn auch gar nicht jo lange, daß die Indianer 
ausfanden, es könne daraus eine Ruthe für fie felber werden. 
Die Locomotive jtöhnte und braufte heran, und ihr greller 
Pfiff Iheuchte das Wild auf Meilen weit aus ihrer Nähe. 
Dämme wurden dabei auf und Gräben ausgeworfen, Brüden 
geihlagen und alles nur erreichbare Holz gefällt. Die Weißen 
jelber jtreiften dabei vecht3 und links vom Wege ab, um Wild 
zu erlegen, und jest traten auf einmal die früher nicht mit 
zur DBerathung gezogenen Häuptlinge auf und erflärten, daf 
der ohne fie abgeſchloſſene Vertrag null und nichtig‘ ſei; — lieber 
Gott, fie hätten eben fo gut erflären fünnen, daß von jebt 
an der Mond die ganze Naht am Himmel ftehen ſolle. Die 
Weißen hatten die Hand auf das Land gelegt und hielten «3. 

Nun begannen ihre Kämpfe. Kinzelne Weiße erhofften 
noch befondere Bortheile für fi felber, wenn fie das Land 


tue 


679 


in einen indianiſchen Krieg verwideln fonnten, und bald loderten 
friedliche Hütten der Grenzbewohner empor, oder wurden die’ 
Wigwams der Indianer von Militär überfallen und Frauen 
und Kinder darin abgejchladhtet. 

Die Bereinigten Staaten nahmen aber anfangs diefen 
Krieg zu leicht. Sie wollten auch in der That feinen rechten 
Ernſt mahen und glaubten, die etwa Hervorgerufenen Miß— 
verftändniffe, auf denen wahrſcheinlich das Ganze beruhte, 
leicht wieder zu heben. Sie hatten fih darin geirrt. 

Die Indianer, in ihren eriten Angriffen erfolgreich, wurden 
Feder und zuverfihtliher und machten Beuteftüde, die ihnen 
eine Fortſetzung des Kampfes ſehr erleichterten. Den er: 
Ichlagenen Soldaten nahmen fie Büchfen und Revolver mie 
ihre Munition ab, überfielen dabei ganze Transporte und 
lernten von Tag zu Tag mehr und gefhicter die neuen Waffen 
gebrauchen. Jetzt hat endlich die Regierung eingefehen, daß 
fie diefem Ouerilfafrieg entweder auf gütlihem oder gemalt- 
jamem Wege ein Ende machen muß, und deshald wurden die 
verfhiedenen Concils mit al’ den feindlihen Stämmen angefekt. 

Mit denen haben wir es aber jeßt hier nicht zu thun, 
fondern nur mit dem gegenwärtigen Zuftande der Prairien 
und ihren alten wie neuen Bewohnern, wo wir denn finden, 
daß die Bevölkerung gegenmärtig in der That eine etwas ge= 
miſchte genannt werden kann. 

Früher war hier der Indianer Herr und Gebiete, Auf 
feinem wadern Thier, dad er im Krieg oder auf der Jagd 
nur mit dem Schenfeldrudf regierte, um beide Arme für feine 
Waffen frei zu behalten, durdjtreifte er die weiten Flächen, 
und traf er mit Büffeln zufammen, fo holte er fie mit feinem 
flüchtigen Noß ein und jagte ihnen Pfeil um Pfeil in den 
Leib, bis fie erſchöpft vom Blutverluft zufammenbracen. 

Jetzt Hat fih daS geändert, denn beſonders jeit den Yebten 
Kämpfen mit den Weißen, in denen die Indianer gar nicht 
etwa fo felten Sieger blieben, oder doch in geſchickter und nie 
raftender Weife ganze Transporte abjchnitten, find fie in den 
BDefib einer großen Menge von Schießwaffen gelangt, und 
man fieht jetzt kaum mehr einen Indianer, ficherlich aber feinen 
Häuptling, der nicht feinen Revolver umhängen hätte und aud) 


< 


N 


680 


außerdem vielleicht noch eine Büchfe führt. Ja, außreitende 
Heine Militärtrupps haben fogar einzelne Indianer auf Höheren 
Punften ruhig halten und mit einem Dpernguder die ans 
rüdenden Feinde beobachten jehen. Man Tann daraus erfennen, 
daß fie fih wenigſtens in einer Hinfiht vor der Civiliſation 
nicht fürchten — bei ſolchen Dingen nämlich, die in ihr eigenes 
Leben eingreifen und ihnen Bortheile auf der Jagd oder bei 
ihren Kriegen bieten. 

Auch die Damen fangen an fich zu civilifiren. Sie tragen 
nicht mehr die kurzen Heidfamen Röcke aus fein gegerbten 
Hirsch: oder Antilopenfellen, fondern lange jchmierige Kattun— 
lappen, die fie hinter fich her durch allen Schmuß der Prairie 
ſchleifen. Sogar Krinolinen habe ich in dem einen Sioux— 
lager gejehen, die fie aber nur anzulegen fcheinen, wenn te 
unter fih und allein find — ih konnte wenigſtens Feine von 
ihnen bewegen, eine folche anzuprobiren. 

Es ſoll einige hübſche junge Indianerinnen geben; ich muß 
aber leider geftehen, daß mir feine davon zu Gefiht gefommen. 
Die Jahreszeit war auch nicht günftig, denn es wurde in der 
Steppe ſchon Falt, und dann wäſcht fih Fein Indianer mehr, 
jo daß man oft fehauerlihen Gremplaren begegnet. 

Veberhaupt hat die Indianerin keineswegs den rein weib- 
lihen Charakter, der ihr jo gern in Gedichten beigelegt wird. 
Die alten Damen befonder3 fpielen bei allen folchen Gelegen— 
heiten, wo ein gefangener Feind zu Tode gemartert werden 
joll, eine fehr hervorragende und völlig active Rolle, denn 
fie gerade find es, welche die meiften Qualen erfinnen und 
mit Falter Graufamfeit ausführen. Ebenſo ſcheint es, was 
mir von den verjchiedenften Seiten beftätigt wurde — auch 
gar nicht fo felten Amazonen unter ihnen zu geben, die an 
der Seite ihrer Männer tapfer kämpfen. Mit Bogen und 
Pfeil hat man fie allerdings noch nicht gefehen, denn dieſe 
gelten vorzugsmeife als die Waffe der Männer, aber mit 
Revolvern findet man fie häufig bewaffnet, und Fed reiten fie 
mit diefen mitten in's Gefecht. Dann aber fiten fie auch 
wieder in ihren aus weißgebleichten, gegerbten Büffelhäuten 
verfertigten Zelten oder Wigwams, haben ein allerliebjt ein— 
gelegtes Nähfäftchen neben fih und ftiden Moccafins, Tabaks— 


68 


- beutel oder Büchfenfutterale für ihre Herren und Gatten oder 
für fonft eine ftille Neigung, wie wir dies ja auch nicht — 
bei vollkommen civiliſirten Nationen finden. 


Wird dann das Lager plötzlich aufgebrochen, ſo ſchnüren 
ſie raſch ihre Arbeit zuſammen, legen ſie in einen zierlichen 
Lederkoffer, von denen ich faſt in jedem Wigwam zwei oder 
drei bemerkte, packen ihre übrigen Sachen, inel. Krinolinen, auf 
einen breiten, mit Rindshaut überſpannten Reif, der auf zwei 
Se gelegt und von den einzelnen Pferden Hinten nach— 
geichleift wird, und find, mit ihren Kindern auf dem Rüden, 
zu jeder Heimathsveränderung bereit. 


Und neben diefen wohnen jebt die Weißen. 


Das fee amerikanische Volk hat feinen Schtenenweg weit 
hinaus in die Prairie gefhoben — mehr und mehr dem 
Stillen Meer entgegen. Schon reicht der eiferne Strang von 
Chicago aus taufend Meilen gegen die Tellengebirge zu, 
deren Ausläufer, die Blue Hills, er in wenigen Wochen er— 
reihen wird, und neben dem Wigwam des Wilden fteht das 
Bretterhaus des fpeculirenden Yankee, in welchem er alle 
Genüſſe der Prairien — ſchlechten Whisfy und Tabak feil 
hält. Sa, Billard wird ſchon und faum hundert Schritt von 
der nämlichen Stelle gejpielt, wo indianiihe Jungen kleine 
Wurfſpeere durh einen bingerollten Reif werfen, und der 
iriſche Eifenbahnarbeiter bläft feinen jtinfenden Tabaksqualm 
in die Wolfen des indianijchen Kinnikinif. 


Und was für ein weißes Gefindel Hat fich dort eben 
niedergelafien, bei dem man falt erröthen muß, wenn man 
es mit den noch fo fchmierigen Indianern vergleiht. Alle 
Die, denen der Boden in den DVereinigten Staaten zu heiß 
geworden, Mörder und Diebe, verlebte Dirnen, falſche Spieler, 
das Alles ftrömte nad Meften aus, um den Wilden den 
Segen der Civilifation zu dringen und an Geld auf eine 
oder die andere Weife — mie blieb fich gleich — zufammen 
zu jchlagen, was nur irgend möglich if. Mord, Raub und 
alle anderen Berbrechen gehören dabei zu den Alltäglichkeiten, 
und in Sulesburg z. B. verübte ein frecher Burfche, der eine 
Taverne unter dem Namen the Kink of the Wills führte, 





682 


ſolche Scheuglichfeiten, daß er endlich, der allgemeinen Sicher: 
heit wegen, todtgejchoffen werden mußte. 

Uber diefe Steppenftädte ftehen nicht etwa feſt, fondern 
fie rollen im wahren Sinne des Wort? von einer Gtelle 
zur andern — nur immer nah Weiten zu, bis fie dort ihr 
Ziel erreihen. So hatten fi), als die obere Union: Pacific 
Dahn gebaut wurde, verjchiedene Fleine Städte am Ende des 
Schienenſtranges gebildet, die aber nur fo lange beitanden, 
bis fich die Bahn weiter in das Land hinein zog — dann 
folgten fie dem Telegraphendraht. So mar Julesburg eine 
Stadt von vielen taufend Einwohnern geworden, und ein 
Leben herrichte Dort und wildes Treiben, wie man Wehnliches 
wohl nur im Jahre 1849 in Californien geſehen. Jetzt hat 
die Bahn die um etwa 140 Meilen weiter gelegene, oder 
damals vielmehr erit beabfichtigte Shyennes city kaum erft 
auf ungefähr 40 Meilen erreicht, und ſchon giebt die Hälfte 
der Bewohner Julesburg wieder auf, padt Häufer und Zelte 
auf Ochfenwagen und bricht im folder Maſſe nach) jenem er: 
warteten Eldorado auf, daß dort Schon Baupläße in der 
Nähe der Eifenbahn zu Über zweitaufend Dollars verkauft 
werden. 

Sulesburg aber gerade giebt dem Leſer vielleiht einen 
Begriff von derartigen Städten, und ich will verfuchen, ihm 
mit furzen Worten ein Bild davon zu entwerfen. 

Es mag jest vielleiht noch eine Stadt von etwa zwei— 
taufend Einwohnern fein, und die Architektur läßt nichts zu 
wünſchen übrig. Kleine Breiterbuden, die Wind und Regen 
frei Hindurdlafjen, Zelte, Schuppen, Ställe, Furz jede Form 
einer möglichen Behauſung fieht man bier — nur fein wohn 
liches Gebäude, und die ſehr wenigen anftändigen Familien, 
die fih dort aufhalten, mögen nichts thun, um ihre Häufer 
mit etwas mehr Comfort einzurichten, weil fie ebenfalls nicht 
willen, ob fie an Ort und Stelle aushalten, oder der Aus— 
wanderung nah dem Welten und gegen die Gebirge zu folgen 
werden. Spielhäufer giebt e8 dabei genug, in jeder Art, und 
jedes natürlih mit dem entjprehenden Whiskyſ Sant ver- 
sehen — öffentliche Dirnen, Tanzbuden — auch ein Theatre 
of Varieties, in welchem aber auch einzig und allein objcöne 


683 


Bilder gezeigt werden, während ein Junge am Eingange eben: 
ſolche Bücher ausbietet und fie zugleih als Entree in die 
Austellung offerirt, | 

Auch ein Photograph Hatte Dort natürlich ſchon feine 
Wirthſchaft aufgefchlagen, und zwar in einem Zelte, da3 er 
jehr ſinnreich mit einem eingenähten Fenfter und gläferner 
Seitenwand verjehen. 

Auch ein deutſcher Doctor hatte, zwiſchen zwei Buden ein- 
geflemmt, einen Keinen, etwa zwei Schritt breiten „shop“ 
errichtet, wo er mit einem Amerikaner zufammen Medieinen 
und ärztliden Rath verkaufte, und hier und da ftanden Ver— 
füufer vor dem einzelnen Thüren und ſuchten Borübergehende 
in ihr Local hinein zu locken. 

Ueberhaupt machte das Ganze unwillkürlich den Eindruck 
einer deutſchen Meſſe auf mich, wo an einem beſondern Platz 
den Buden und Zelten ein gewiſſer und beſtimmter Raum 
angewieſen wird, und ganze Reihen von Trinkbuden und un— 
angenehm fettduftenden Speiſen den Fremden verführen ſollen, 
ſich dort eine Erquickung zu holen. Um ſolche Meßpplätze liegt 
dann aber gewöhnlich die große Stadt mit ihrem Comfort 
und Glanz, während hier nichts — nichts als die weite öde 
Steppe den entſetzlichen Platz umgab und ein daran hin— 
laufender Schienenſtrang hinaus in's Leere führte. 

Und wie wird der unglückliche Wanderer an derlei Orten 
geprellt! Eine Mahlzeit, aus etwas hartem Rindfleiſch, Brod, 
Kartoffeln und einem Stück erbärmlichen Kuchen, ſowie einer 
Taſſe Kaffe beſtehend, koſtet 1!/, Dollar, ein Schluck Whisky 
der nichtswürdigſten Art 25 Cents, eine ſchlechte Cigarre 
eben fo viel (71), Gr.). Schlafplätze find dabei faſt gar nicht 
zu befommen, oder man muß fi mitten zwifchen dag Ge— 
findel hineinlegen und dann abwarten, was Einem bis zum 
nächſten Morgen geftohlen ift. 

Der Lefer fol um Gottes willen nicht glauben, daß ich 
bier zu ſchwarz ſchildere. Mur ein Blick auf dieſe Baſſer— 
mann'ſchen Geftalten, die, mit Nevolver und Mefjer im 
Gürtel, duch die Straßen taumeln oder an den Schenktiichen 
lehnen und die widerlichiten, gemeinften Flüche ausftoßen, und 
er würde mir Necht geben, wenn ich ihn fage, daß ich wenigſtens 








684 


eben fo gern unter den ſchmutzigen Indianern der Steppe, 
als zwiſchen diefer Bande lagern möchte, 

Und trotzdem giebt e8 wirklich anjtändige Familien an 
diefen Drten, wenn fie auch freilich zu zählen find — aber 
das Geld! — der Mann will rafch verdienen und die Frau 
fügt fih eine Zeit lang dieſer fchauerlichen Eriftenz, in der 
Hoffnung, dann bald reih und angefehen „in die Ans 
fiedelungen”, d. h. unter gefittete Menfchen zurüdzufehren. 

Die Amerikaner lieben e8, die Indianer milde, ungefittete 
Barbaren zu nennen, die von der Erde wegzufegen Pflicht 
der Givilifation ſei; aber wenn die die Werkzeuge find, die 
man dazu benußt, jo kommt es mir wenigitens faft fo vor, 
als ob da der Beſen fchlimmer fei, als der Schmuß. 

Aber die Eivilifation dringt troßdem langſam vorwärts. 
Nicht dieſe Menſchen freilich find es, Die fie bringen, fondern 
hinter ihnen rüdt langſam, aber ficher der Aderbauer vor. 
Sie dienen nur dazu, den Grund und Boden für ihn zu 
ſäubern, und weichen dem friedlichen Leben dann aus, ſowie 
ed ihnen näher rüdt. 





In den Backwoods. 


Als ich mich vor langen, langen Jahren — ich war 
ſelber damals noch ein junger Mann — von meinen bis— 
herigen Jagdgründen am Fourche la Fave in Arkanſas den 
im Nordweſten des Staates liegenden Ozark-Gebirgen zuge— 
wandt, machte ich das Haus eines alten Anſiedlers Konwell 
zu meinem Hauptquartier — d. h. zu einem Platz, wohin 
ich, wenn ich drei oder vier Nächte draußen gelegen, mein 
erlegtes Wild ſchaffen und wo ich wieder einmal auf kurze Zeit 
ausruhen konnte. 

Es war das eine Backwoods-Familie, wie ſie mir von da 
ab für alle übrigen als Ideal gegolten hat, und zwar im 
beſten und edelſten Sinne des Wortes. Sie beſtand aus 
dem alten Konwell — ein alter prächtiger Geſelle, deſſen 
zweiundſechzigſten Geburtstag ich wenige Tage ſpäter mit 
ihm allein bei einem guten Zagerfeuer in den Bergen feierte — 
feiner Frau, einer prädtigen Matrone, feiner Tochter, einem 
jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, und drei Söhnen: 
einem jungen Burſchen von noch nicht einundzwanzig und 
zwei Knaben von etwa zehn und dreizehn Jahren. 

Die einfache Blodhütte, in der die ganze Yamilie und 
auch ih als Gaſt fchlief, war fo fauber gehalten, wie die 
einfache Stleidung der Bewohner, denn das muß man dan 
Amerikanern lafjen, daß fie im Durchſchnitt äußerst reinlich 





686 


find. Unter diefen Leuten herrſchte auch ein fo herzlicher 
Ton, wie ich es nicht häufig in den Familien gefunden habe, 
Ich will nicht etwa behaupten, daß die Familien diefer Bad- 
mwoodleute einander nicht eben jo lieb haben wie wir, aber fie 
zeigen es felten oder nie; daß fih Geſchwiſter oder Eltern 
und Kinder füflen, fommt nicht vor, ich wenigitens habe es 
bet Jahre langem Aufenthalt zwifchen ihnen nie gefehen, und 
hat der Bater auch, wie es oft bei Konmell der Fall war, 
fünf bis ſechs Tage hintereinander draußen im Walde ge- 
legen und kehrt in feine Hütte zurüd, fo wird kaum eine 
flüchtige Begrüßung mit ihm gewechſelt. 

Die Anfiedelung an den Quellen des White River, der 
weiter unten und bis zu feinen beiden Mündungen, die eine 
in den Arkanſas, die andere in den Miffiffippi, mit Dampfern 
befahren wird, hatte damals, erſt begonnen, und die einzelnen 
Hütten lagen weit zerftreut. Konwell felber, ala alter Jäger, 
der nicht gern Nachbarn hatte, ſchien fich Ddie- entferntefte und 
am weiteften vorgefchobene ausgefuht zu Haben, und die 
nächſten Häufer, wo fi auch die Schule befand, Tagen etwa 
eine engliſche Meile davon entfernt; dann fam wieder Wild- 
niß und nachher wieder einzelne, bald an diefem, bald an 
jenem Ufer zerjtreute Blodhütten, eben da angelegt, wo die 
Diegung des Eleinen Stromes, der hier eigentlih noch ein Bad 
genannt werden fonnte, irgend einen nußbaren Raum für 
etwas Aderbau geitattete. 

Etwa drei Meilen von dort lebte eine Familie Wilkens, 
die zwei bildhübſche Töchter Hatte und mit Konwell's Haufe 
fehr befreundet war. Nicht allein befuchten fih die Töchter 
häufig, nein, auch Konwell's ältefter Sohn Bill ſprach dort 
öfter vor, als es dem Fleinen Maisfeld nüblih war, und der 
Vater Halte ſchon oft Einfprud dagegen gethan. Wie ich 
aber von Bill wußte, der mich in's Vertrauen gezogen, beab- 
fihtigte diefer in Fürzgefter Zeit um Ellen's Hand, wie die 
junge Schöne hieß, fürmlich anzuhalten und fih dann, deren 
Zuſicherung erſt einmal gewiß, in der Nachbarſchaft, und zwar 
an den Waflern de8 Mulberry, anzufiedeln. 

Glückliches Land, wo es Feiner langwierigen Vorbereitungen 
bedarf, um für ein junges Paar eine eigene Heimath zu 





637 


gründen, in der es fich glüdlich fühlen kann! Hat ein junger 
Mann die Zuftimmung der Geliebten in diefen Wäldern er: 
halten, dann ſteckt er feine Art in den Gürtel, nimmt feine 
lange Büchſe auf die Schulter und zieht an die Stelle im 
Walde, die er fih zu feinem fünftigen Wohnſitz auserfehen. 
Dort Fällt er Bäume, errichtet eine kleine Blodhütte mit tüch— 
tigem Kamin, zimmert fih aus hohlen Baumftämmen ein 
paar Stühle zufammen, indem er, wie bei einer Trommel, 
elle darüber fpannt, Haut fih aus einem foliden Baum: 
ſtamm eine Planke zu einem Tiſch zurecht, ftellt dann noch 
ein DBettgeftell und eine Thüre her, macht ein paar Ader 
Land „klar“ und ift wenige Tage fpäter bereit, feine junge 
Frau in ihre neue Heimath zu führen. 

Daß das junge Baar die erjte Zeit auf Laub fehlafen und- 
ſich nur mit dem allerunentbehrlidften Kochgefhirr begnügen 
muß — was thut das! Don Jahr zu Sahr, ja von Monat 
zu Monat verbefjert fih die häusliche Einrihtung, ein 
freundlicher häuslicher Herd wählt fo gemiffermaßen aus dem 
Wald Heraus und jchiet jeinen blauen Fräufelnden Rauch in 
die mächtigen Wipfel der ihn umraufchenden Bäume hinein. 

Dil ging mit einer ganz ähnlichen Abfiht um, und das 
Einzige, was ihn noch ftörte, war, daß er nicht genau wußte, 
ob ihm Ellen wirklich gut fei. Sa, er hatte fogar eine Art 
von eiferfüchtigem Verdacht auf den etwa vier Jahre älteren 
und erjt feit Furzer Zeit hierher gezogenen Schullehrer gefaßt, 
da diejfer das Wilkens'ſche Haus ebenfalls dann und wann 
bejuchte und feinen andern erdenklichen Grund dafür haben 
fonnte, als daß er fih um die Gunft einer der Töchter ber 
werben wollte — und die Hübſcheſte mar jedenfall Ellen, 
ihre Schweiter Betſy außerdem zum Heirathen noch zu jung. 


Nun hatte feine Schweiter Sophie ihm mit ausdauerndem 
Fleiß Ihon den ganzen Winter hindurch an ihrem Kleinen 
Webftuhl Zeug zu einem neuen Anzuge gewebt, der gerade 
jetzt fertig geworden und dann auch noch von den darin fehr 
geſchickten Händen der Frauen zugeſchnitten und genäht wurde. 
Es war der von allen Badwoods-Männern und «Frauen ſtets 
getragene und nicht jchlecht außfehende Baummwollenftoff, Jeanes 








688 





— 
genannt, dem die enge Hand der Mutter auch noch 
außerd⸗ em eine hübſche bräunliche Farbe gegeben. 

Als Bill das Wilkens'ſche Haus zum letzten Mal beſucht, 
per Anzug noch nit fertig geweſen, und er hatte fi) 
beſonders darüber geärgert, daß er dort zufällig mit Dem 
Schulmeiſter zufammentraf, der viel beſſere Kleider trug. 
Deshalb beichloß er auch, Ellen nicht eher wieder aufzufuchen, 


bis fein neuer Anzug fertig fei, und wollte dann auch feine 


Zeit mehr verfäumen und morgen jedenfall die Familie 


ee Wilkens mit feinem Staat verblüffen. 


Es war ein Wochentag, und ich hatte mit meinem Hunde 
draußen im Walde Jagd auf wilde Truthühner gemacht, Die 
e3 dort herum und in dem Thalboden des White River in 
ziemlicher Anzahl gab. Ich Hatte auch bis etwa elf Uhr 
Morgens zwei mädhtig ftarfe und feiſte Burfchen geſchoſſen 
und fehrte, mit diefen beladen, nah Konwell's Hütte zurüd. 
Bielleicht noch zehn Minuten Weges von diefer entfernt, traf 
ih BN im Walde, der gerade beſchäftigt war, große Schin— 
deln, fogenannte clapboards, zu jpalten. Ich blieb einen 
Augenblif bei ihm jtehen und verfolgte dann meinen Weg, 
erreichte aber kaum das Haus, als ich vorn zwei angebundene 
Damenpferde bemerkte (junge Damen in Amerifa geben nie 
Ruhe, bevor fte nicht ihre eigenen Sättel haben) und nun auch) 
gleich wußte, daß Beſuch angefommen fei. Die Pferde waren 
mir jedenfall fremd. 

Richtig — wie ih nur das Haus betrat, fand ich die 
beiden jungen Damen Wilfens, Ellen und Betſy, ſchon mit 
der Familie plaudernd, und blieb unentfhloffen in der Thür 
ftehen, denn Bill fonnte feine Ahnung haben, daß die „Ges 
liebte‘ hier fo ganz in der Nähe fei. Wie fich bald heraus— 
ftellte, hatte er da8 auch in der That nicht, denn die Mutter 
frug gutmüthig ihre Tochter Sophie, nah welcher Richtung 
zu Bill gegangen fei, und dieſe ermiderte achjelzudend — 
während Ellen gar nit fo that, als ob fie die Sache in- 
tereſſire — Bill wäre audgegangen, um clapboards für die 
neue „corncrib“ zu Spalten, nach welcher Richtung er fi) aber 
zu dem Zweck gewandt, fönne fie nicht jagen, da fie, als er 
fortging, nicht darauf geachtet hatte. 





689 


Der arme Burfhe that mir leid. Da draußen arb 
er im Schweiße feines Angeſichts, und hier ſaß fein Schk 
nad) dem er fich die lange Zeit gejehnt, in feinem Haufe u 
ſchien felber unzufrieden, daß fie ihn nicht vorfand. Sch 6 
Ihloß aljo, ohne Weiteres zurüd zu gehen und ihm einen Win 
zu geben. Bill warf auh im Nu die Art fort, z0g feine N 
Jacke an und ließ fih das Gras nicht unter den Füßen 
wachen. Erſt als wir zufammen eine Strede mehr gelaufen 
al3 gegangen waren, hemmte er plößlich feinen Schritt und 
jagte, als ob ihm fchnell ein peinlicher Gedanke durch den 
Sinn gefahren wäre: 

„Halo, Frederik,’ — ich wurde dort allgemein fo genannt, 
weil die Leute meinen eigentlihen Namen nie ausfprecdhen 
konnten — „fißen fie denn im Haufe?‘ 

„Wer? frug ich ganz erftaunt, denn ich verftand nicht 
gleich, was er meinte. | 

‚Jun, die women folks”) von Wilkens!“ 

„Ja gewiß,‘ erwiderte ich, „wo denn ſonſt?“ 

„Hell!“ fagte Bill Halb vor fih Hin und fchlenferte dazu 
mit den Fingern der rechten Hand, gab aber feine weitere 
Erklärung und verdoppelte nur feine Eile, an Ort und Stelle 
zu fommen. In der unmittelbaren Nähe des Haufes ange: 
langt, gab er mir aber einen Wink, einen Augenblid hier 
auf ihn zu warten, glitt dann durch die bis faſt dicht an das 
Haus reihenden Büſche, nach der Seite zu, auf der ſich im 
Innern der Kamin befand — vermweilte dort, nachdem er ji 
höchſt vorfihtig genähert oder vielmehr angebürjcht hatte, ein 
paag Minuten und fehrte dann zu mir zurüd. Er jah aber 
feinesweg3 fo vergnügt aus, als ich erwartet hatte, und jagte 
auch, als er wieder herankam, mit halb unterdrüdter Stimme 
und einem fehr niedergejchlagenen Ausdrud in den Zügen: 

„Alle Wetter, Frederik — in den Arbeitslumpen, die ich | 
heute angezogen habe, denn den Morgen regnete e8, kann ih / | 

doch wahrhaftig nicht Hineingehen, und jebt find fie Alle im / | 


*) women folks, ein eigenthümlicher Ausdrud der Badıwoods für 
Frauen. 


Fr. Gerjtäder, Erzählungen ıc. 44 







690 


Menn wir fie nur für einen Moment in's Feld 

gen Könnten!’ 

„Na,“ meinte ich gutmüthig, „das läßt fi) ja vielleicht 
noch fo einrichten. Wo Hängen denn Eure Saden, Bill? 

Ich hole fie und bringe fte hierher, und dann macht Ihr gleich 

"an Ort und Stelle Toilette.’ 

„Ja, das ift ja gerade der Teufel!“ rief Bill mit einem 
ganz verzweifelten Ausdrud in den Zügen — „meine neuen 
Sachen liegen alle in der ſchmalen langen Kifte — und auf 
der fißt Ellen.” 

Ich mußte gerade hinauslachen, denn die dee war wirt: 
ih zu komiſch. Aber die Sache verhielt ſich in der That fo, 
und ich erbot mich jett, voraus zu gehen und zu vecognosciren, 
ob ich nicht durch Liſt vielleicht die fo nothmwendig gebrauchten 
Kleidungsftücde unbemerkt aus dem Haufe herausfchaffen könne. 
Ein ſchwierig Stück Arbeit, wenn man bedenkt, daß das ganze 
Heine Gebäude voller Menjchen ſtak. 

BIN war damit vollfommen einverftanden und rief mir 
nur noch nach, als ich mich umdrehte: „Aber, Frederik, vergeht 
um Gottes willen nicht mein reine® Hemd — es liegt links 
vorn in der Edel" 

Bei Konwells drin faß Ellen wahrhaftig mitten auf der 
Ihmalen Kite und ſchien fih jo wohl zu befinden, wie ein 
Vogel im Hanffamen. Sie plauderte und lachte mit den 
Uebrigen und fah mich nur, als ich in’ Zimmer trat, einen 
Moment forfhend an, als ob fie eine Ahnung gehabt hätte, 
daß ich ausgeweſen wäre, um Bill zu fuchen — aber fie frug 
nicht nad ihm — Gott bewahre! 

Allerdings machte ich jebt einige Verfuche, die Familie 
für einen Moment aus dem Haufe zu bringen, und erzählte 
eine Gefchichte von einem merfwürdig großen Vogel, den ich 
draußen am Garten gefehen und den ich gar nicht kenne. Die 
beiden Jungen Tiefen augenblidlich hinaus, aber die Damen 
blieben fiten, und nah noch ein paar anderen mißglüdten 

Verfuchen mußte ich denn der Sache direct zu Leibe gehen. 
Südlicher Weife lag dicht neben der Kifte meine zufammen- 

gerollte und mit Hickorybaſt umfchnürte wollene Dede. Diefe 

Inüpfte ich, daneben niederfnieend, auf und bat dann ohne 


—— 








A 


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Friedrich Gerſtäcker. 


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Zwanzigſter Band. 


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Kleine Erzählungen und nachgelaflene Schriften. 1. 








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Hermann Coſtenoble. 
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Friedrich Gerſtäcker. 


Erſter Band. 


BEr 








Jena, 
Hermann Coftenoble, 
Verlagsbuchhandlung. 





691 






Meiteres Miß Ellen, mich einen Nugenblid an die Ki 
lafjen, da ich etwas herausnehmen müffe. 

Bill's Mutter und Schweiter mochten im Augenbli 
rathen haben, um was es fich handle, denn Beide befam 
einen dickrothen Kopf, Ellen aber erhob ſich freundlih, d 
Sefälligfeit felber, und im nächſten Moment fehon Hatte ic) 
Bill's neuen Anzug in einem Griff, nahm die Gelegenheit 
wahr und ſchob ihn, ala Ellen gerade einmal den Kopf wandte, 
in meine jet aufgefchlagene Dede, die ihn eben fo rafch ver: 
barg. — Jetzt noch dad Hemd — Hatte aber Ellen felber 
etwas gemerkt, oder war fie nur neugierig geworden, wie 
wir das ja in einzelnen Fällen bei jungen Damen finden — 
jie drehte fih rvafch und unerwartet wieder um und mußte 
etwas gefehen haben, ehe es zu dem Uebrigen in die Dede 
verfhwand. Sie fagte allerdings Fein Wort, aber um die 
Heinen zarten Tippen zudte es, und ein bischen roth war 
fie ebenfall8 geworden. 

Jetzt Fonnte e8 aber nichts mehr Helfen — ich griff meine 
Dede mit deren Inhalt auf und eilte hinaus, wo mi Bill 
ſchon fehnfüchtig erwartete. 

‚mob! Ihr das Hemd, Frederik?‘ 

„Alles.“ 

„Ellen hat doch nichts gemerkt?“ 

„Nicht die Spur — ſie hat keine Ahnung.“ 

Bill war ſelig, und kaum zehn Minuten ſpäter ſtolzirte 
er in ſeinem neuen Anzuge in das Haus hinein. 

Ob er nun dadurch einen ſolchen Eindruck auf Ellen ge— 
macht, oder ob ſie ihm ſchon früher gut geweſen, weiß ich 
nicht — aber ſchon vier Monate ſpäter gab der Friedens— 
richter das allerdings noch ſehr junge Paar zuſammen, und 
drüben am Mulberry, in einem reizenden kleinen Thale, be— 
gannen zwei glückliche Menſchen ein neues Leben. 

Der geneigte Leſer aber wird aus dieſer anſpruchsloſen 
Skizze die Lehre ziehen, daß nicht allein in den europäiſchen 
Städten, ſondern auch ſogar in den Backwoods die jungen 
Leute ſehr peinlich mit ihrer Toilette ſind, wenn ſie auf Freiers— 
füßen wandeln. 








Inhaltsverzeichniß. 





Meine Selbitbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube 
Der Herr von der Holle . 

Die Blatternimpfung . 

Die Schweitern . 

Der Bierzehnte Ak 

Die Uebergabe von ——— 

Im Grabe 

Das Hospital von — 
Ein neuer Weg, alte Schulden Fahren j 
Eine Hochzeitsreife . 

(BIER IE N RE a A N A LE, 
Die Javaneſin 

Sm Petroleum 

Sn der Brairie . 

In den Ned Niver- Sünipfen 

Ein Kunſtſtück 

EI BEIHO A 

Der MacafjarHengit . 

Eine Stunde in einem Lager der Siour 
Unberufene Gäjte e 

Die Bewohner der weitlichen TEEN 

In den Backwoods. 





G. Pätz'ſche Buchdruckerei (Otto Hauthal) in Naumburg a/S, 





Von 





Friedrich Gerſtäcker. 


Erſter Band. 


Dritter Theil. 





rer Ten 


| 

\ Jena, 
% Hermann Goftenoble. 
{ Verlagsbuchhandlung. 









Kleine Erzählungen \ 


und 


Nacbgelaffene Schriften 


Von 


Friedrich Gerflüker. 


Erſter Band, 


3weifer Theil. 


A 
— ——— ——— 
Jena, 


Hermann Coſtenoble. 
| Verlagsbuchhandlung.